Sonntag, 25. September 2016

Einander aufbauen

Predigt am 18. Sonntag nach Trinitatis, 25. September 2016, über Römer 14,17-19

Liebe Schwestern und Brüder,

als Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden blicken Sie heute zurück. Sie blicken zurück auf Ihre Konfirmandenzeit vor 25 Jahren, 50 Jahren, 60, 65 oder sogar 70 Jahren. Dabei blicken Sie auch zurück auf Ihr Familien- und Berufsleben; auf das, was Sie in Ihrem Leben erreicht haben:
Sie haben eine Partnerin, einen Partner. Sie haben Kinder, Enkelkinder, vielleicht sogar Urenkel.
Sie haben eine Wohnung, ein Haus. Sie haben sich etwas aufgebaut. Das war zu DDR-Zeiten nicht leicht. Nach der Wende wurde es nicht wesentlich leichter: Es gab jetzt zwar all das, was vorher nicht oder nur mit Beziehungen zu bekommen war, aber man musste es ja auch bezahlen …
Sie haben sich etwas aufgebaut, und Sie haben dafür gearbeitet. Haben mit eigener Kraft und mit der Hilfe von Familie, Freunden, Nachbarn Ihr Heim renoviert oder ein neues gebaut.
Heute blicken Sie zurück auf das Erreichte, dankbar und vielleicht auch ein bisschen stolz. Das können Sie auch sein. Sie dürfen stolz sein auf sich und auf das, was Sie geleistet und erreicht haben.

Wenn man so zurückblickt, denkt man unwillkürlich auch an die, die heute fehlen: 
Die man aus den Augen verlor. 
Die fortgegangen sind, um anderswo ihr Glück zu suchen. 
Die, von denen man sich im Streit trennte. 
Die, von denen man durch den Tod getrennt wurde. 
Die, die es nicht geschafft haben.

So ein Rückblick offenbart die Fehlstellen, auch die im eigenen Leben. Nicht jeder hat seine Träume und Ziele verwirklichen können. Nicht jeder hat es zu etwas gebracht. Nicht jeder Lebenslauf verlief kerzengerade auf das Ziel zu. Nicht jeder kann heute dankbar und zufrieden auf sein Leben zurückschauen.
In diese zwiespältige Situation des Rückblicks hinein spricht der Predigttext aus dem Römerbrief im 14. Kapitel:
17 Denn das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken, sondern Gerechtigkeit, Friede und Freude im Heiligen Geist.
18 Wer damit Christus dient, gefällt Gott und ist bei den Menschen angesehen.
19 Also wollen wir nach dem trachten, was dem Frieden dient und der gegenseitigen Erbauung.
II
„Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken“.
Das Reich Gottes - da war doch was‽
An vielen Stellen des Neuen Testaments ist davon die Rede. Jesus führt es ständig im Mund. Doch an keiner Stelle wird gesagt, was das eigentlich genau ist, das Reich Gottes. So wird es zu einem Sehnsuchtsort. Es gibt unseren Träumen nach einer anderen, neuen, besseren Welt einen Namen. - Träume, die auch im Sozialismus geträumt wurden, zu denen man schon in der Schule immer wieder ermutigt und angehalten wurde: Träume vom Weltfrieden. Von Gerechtigkeit für die Völker, vor allem der sog. „Dritten Welt“, von internationaler Solidarität. Träume von Lebensfreude nicht nur für die Wenigen, die viel besitzen, sondern für alle, weil allen alles gehört.

Aber gerade der real existierende Sozialismus, der diese Träume weckte und schürte, scheiterte kläglich an ihrer Verwirklichung. Scheiterte auch dadurch, dass er die Träume vorschreiben wollte: Materialistisch sollten sie sein, die Träume. Die bessere Welt, sie sollte durch Arbeit und Maschinen kommen. Da war kein Platz für Poesie. Für die kleinen und großen Verrücktheiten des Lebens. Für das aus dem Rahmen Fallen, für die Freiheiten, die man sich nimmt, weil man sie braucht - vor allem die Freiheit, anders zu sein, nicht im Gleichschritt zu marschieren.

Darum verstehen wir sofort, was Paulus meint: Das Reich Gottes ist nicht Essen und Trinken - das Reich Gottes ist nicht materialistisch. Es ist idealistisch. Friede, Gerechtigkeit und Glück kommen nicht durch Arbeit und Maschinen. Sie sind ein Geschenk, das man sich nicht verdienen kann.
Wann haben Sie zuletzt davon geträumt?
Und, wenn Sie davon träumten, war es der Weltfrieden, von dem Sie träumten, oder war es vielmehr Ihr Frieden, Gerechtigkeit für Sie selbst, Ihr kleines, stilles Glück?

III
Die Erfahrung des Lebens im real existierenden Sozialismus konnte einem das Träumen austreiben. Oder man träumte vom Westen und „machte rüber“, wenn man konnte. Aber auch im Westen waren die Träume materialistisch. Dort drehte sich alles ums Kaufen und Konsumieren - ein Traum, den man hier nach der Wende schnell nachholte, wenn man konnte.

Was ist aus den anderen Träumen geworden? Aus der früher so oft beschworenen Solidarität? Dem Weltfrieden? Der Völkerfreundschaft? Sind diese Träume, weil sie mit dem Sozialismus untergingen, falsch gewesen?

Paulus erinnert die Römer daran, dass sie über dem Streit über das Essen und Trinken - was darf man essen und was nicht, dürfen Christen Fleisch essen, wie muss man das Abendmahl feiern? - dass sie über dem Streit über so vergleichsweise äußerliche Dinge das Wesentliche vergessen: Das, was Gemeinschaft schafft. Das, was Gemeinde baut.

Diese Erinnerung des Paulus gilt auch uns. Heute streiten wir uns in der Gemeinde fast gar nicht mehr ums Essen. Wir streiten vielmehr fast gar nicht mehr. Weil wir uns nicht mehr als Gemeinde verstehen. Jede und jeder lebt sein und ihr Christsein für sich allein im stillen Kämmerlein. Essen und Trinken, Haus und Garten, die Familie sind so viel wichtiger als alle Träume von einer besseren Welt, die wir einmal träumten vor langer Zeit.

IV
Viele von Ihnen haben gebaut - das Elternhaus renoviert oder ein neues Haus gebaut. Wir alle haben geschafft und dadurch etwas erreicht für uns und unsere Familien. Darauf können wir stolz sein. Und darauf sollen wir auch stolz sein. 
Nur haben wir bei dem „Schaffe, schaffe, Häusle baue“ eine andere, wichtige Baustelle völlig vergessen. Wir vergaßen, nach der „gegenseitigen Erbauung“ zu trachten, wie Paulus das nennt. Da steht tatsächlich „Erbauung“, auf Griechisch οἰκοδομή, Hausbau. Im Griechischen benutzt man dieses Wort, wenn man ein Haus oder etwas ähnliches erbaut - und wenn man davon spricht, dass einen etwas, oder jemand, aufbaut, genau wie im Deutschen. Paulus meint also, wir sollten uns gegenseitig aufbauen - so, wie wir unser Häusle bauen. Im Hinterkopf hat er dabei ein Bild von der Gemeinde, die er sich wie ein Haus vorstellt. 

Die Gemeinde, ein Haus aus vielen Menschen. 
Jede und jeder von uns ist ein Stein in diesem Haus. Deshalb darf auch niemand fehlen, sonst wackelt der Bau oder stürzt sogar zusammen. Niemand ist wichtiger als die anderen, und niemand ist unwichtig, niemand ist nur Dekoration. Alle zusammen bilden wir das Haus der Gemeinde, aufgebaut auf dem einen Stein, der Fundament und Eckstein des Baus ist: Christus.

Dieses Bild vom Haus der Gemeinde, das Paulus im Hinterkopf hat, ist auch so einer von diesen Träumen, die nicht mehr geträumt werden. Denn wenn uns Paulus heute fragte, wie wir es halten mit der gegenseitigen Erbauung - wir wüssten wohl nichts zu antworten. Statt uns gegenseitig zu ermutigen und aufzubauen, beneiden wir uns um das, was der andere hat. Statt uns mit dem anderen zu freuen, gönnen wir ihm nicht sein bisschen Glück. Statt alte Feinschaften zu beenden, bleiben wir misstrauisch, skeptisch und unversöhnlich.

V
„Wer mit Gerechtigkeit, Friede und Freude Christus dient, gefällt Gott und ist bei den Menschen angesehen“.
Wir wissen es besser als Paulus, der Träumer: Bei den Menschen zählen nicht Gerechtigkeit, Friede und Freude, im Gegenteil: wer davon spricht, wer danach strebt, macht sich eher lächerlich. Was allein zählt, ist Leistung. Sind Ergebnisse - gute, vorzeigbare Ergebnisse. Sind materielle Werte: Haus, Auto, ein gepflegter Garten, ein gepflegtes Äußeres.

Erinnern Sie sich an die Wende?
Wenn „Graf Rotze im Benz“ (Wolf Biermann, Dideldumm!) aus dem Westen herangebraust kam, wurde er bestaunt, ein wenig beneidet auch. Aber er wurde auch durchschaut als der Unsympath, der er war. Dieses ganze Wiedervereinigungsgetue war bloß Fassade. Er war nicht wegen seiner „Brüder“ und „Schwestern“ in den Osten gekommen, die er schon zu Mauerzeiten hätte besuchen können. Er war gekommen, um Schnäppchen zu machen und ein paar doofe Ossis über den Tisch zu ziehen.

Damals, zur Wende, verschaffte man sich dadurch Respekt und Ansehen, dass man nicht mitgelaufen, sondern sich selbst treu geblieben war. Dass man sich für andere eingesetzt und seine Träume und Ideale nicht aufgegeben hatte. Doch als die Stasi verjagt und die Stasiakten gesichert waren, als die D-Mark kam und mit ihr die schöne, bunte Warenwelt, wurden solche Leute nicht mehr gebraucht. Die neue, noch ungewohnte Ordnung beanspruchte nun alle Kräfte. Man konnte und man musste jetzt etwas Neues aufbauen. Da blieb keine Zeit mehr für zwischenmenschliche Wärme, keine Zeit für Träume.

VI
Viel Zeit ist seitdem vergangen.
Sie, die Silbernen Konfirmanden, blicken auf diese Zeit zurück: Es war die Ihre; Sie wurden kurz nach der Wende konfirmiert.
Sie, die Goldenen Konfirmanden, haben beides je zur Hälfte erlebt, die alte DDR und die neue BRD. Sie haben besonders die Mühen des Übergangs tragen und ertragen müssen: Die Abbrüche, Ungewissheiten, Neuanfänge und Enttäuschungen.
Sie, die noch Älteren, haben noch so viel real existierenden Sozialismus in den Knochen, dass es Ihnen für den Rest Ihres Lebens reicht. Sie können aber vielleicht auch besser als wir anderen ermessen, was gewonnen wurde - und was verloren ging.

Paulus erinnert die Gemeinde in Rom daran, dass es nicht auf das Materielle ankommt, sondern auf das, wovon Menschen zu allen Zeiten und immer wieder träumen:
Frieden - nicht nur der private Friede in den eigenen vier Wänden, in der eigenen Familie, sondern Frieden auf der ganzen Welt.
Gerechtigkeit - nicht nur, dass ich bekomme, was mir zusteht, sondern dass allen Menschen Gerechtigkeit zuteil wird; ganz besonders den Schwachen, die sich nicht wehren können, die keine Lobby haben.
Freude im Heiligen Geist. Das ist eine andere Freude als die, die man beim Fernsehen oder Computerspielen erlebt, durch Alkohol oder im Urlaub. Freude im Heiligen Geist erlebt man, wenn man anderen Menschen ohne Angst und schlechtes Gewissen begegnen kann. Wenn man sich willkommen fühlt und willkommen ist. Wenn andere sich über einen und mit einem freuen können. Freude im Heiligen Geist erlebt man, wenn es gut geht, in der Gemeinde.

VII
Sie, liebe Jubelkonfirmandinnen und -konfirmanden, und wir, Sie und wir haben etwas geschafft in Ihrem und unserem Leben, und wir schaffen noch.
Lassen Sie uns bei unserem emsigen Bemühen um unsere Zukunft und die unserer Kinder die andere Baustelle nicht vergessen, auf der wir so dringend gebraucht werden: Die Gemeinde.
Lassen Sie uns nicht vergessen, dass nicht nur unser Haus, sondern auch unser Mitmensch aufgebaut werden muss.
Und lassen Sie uns die Träume nicht vergessen, die wir einmal träumten: Die Träume von Frieden, von Gerechtigkeit, von Freude für alle Menschen. 
Hier, in der Gemeinde, ist der Ort für solche Träume. 
Hier träumen wir sie gemeinsam, und hier erleben wir immer wieder, dass etwas davon Wirklichkeit wird.
Amen.