Samstag, 22. Oktober 2016

Professionalität

Predigt am 22. Sonntag nach Trinitatis, 23. Oktober 2016, über Philipper 1,3-11:

Jedes Mal, wenn ich an euch denke, danke ich Gott bei jedem meiner Gebete für jede und jeden von euch - und ich bete mit Freuden - für eure Gemeinschaft am Evangelium vom ersten Tag bis heute. Ich bin davon überzeugt, dass, der das gute Werk in euch begonnen hat, es auch zu Ende bringen wird bis zum Tag des Christus Jesus.
Da ist es nur gerecht, dass ich so von euch allen denke, weil ich euch im Herzen haben, die ihr sowohl in meiner Gefangenschaft als auch, während ich das Evangelium verteidige und verbürge, meine Gnadensgenossen seid.
Denn Gott ist mein Zeuge, wie ich mich nach euch allen sehne in der Zuneigung des Christus Jesus.
Und darum bete ich, dass eure Liebe noch weiter zunehme an Erkenntnis und jeder Erfahrung, damit ihr prüfen könnt, worauf es ankommt, damit ihr am Tag Christi lauter und tadellos seid, erfüllt vom Ertrag der Gerechtigkeit, die durch Jesus Christus kommt, zu Ehre und Lob Gottes.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

vom Theologen Fulbert Steffensky stammt der Satz:
„Mein allerliebster Pfarrer liest täglich in der Bibel und betet täglich,nicht, weil er von Glauben glüht, sondern weil es sein Beruf ist“
(GPM 87/1998, S. 303).

In diesem Satz scheint manches von dem auf,
was Paulus an die Philipper schreibt:
Paulus ist ja so etwas wie deren Pfarrer,
auch wenn es dieses Amt zu seiner Zeit so noch nicht gab
- das Christentum war ja gerade erst erfunden.
Paulus betet täglich für seine Gemeinde,
die ihm offensichtlich sehr am Herzen liegt.
Er kann und will es nicht verleugnen,
wie gern er die Gemeinde in Philippi hat,
wie viel sie ihm bedeutet.

Zugleich ist er aber auch sehr darum bemüht,
keine Missverständnisse aufkommen zu lassen,
was die Art seiner Zuneigung angeht:
Sie ist strikt professionell, d.h. sie ist seinem Auftrag untergeordnet.
Paulus mag die Philipper nicht, weil alle so nett zu ihm sind,
weil er sich mit ihnen gut versteht und sie ihn mögen.
Sie liegen ihm am Herzen, weil sie mit ihm etwas gemein haben:
Die „Gemeinschaft am Evangelium“.
Mit anderen Worten: Es geht den Philippern um die selbe Sache wie ihm:
um die Sache Jesu.

I
Als Pfarrerin oder Pfarrer hat man eine eigenartige Rolle in der Gemeinde.
Gemeindearbeit ist Beziehungsarbeit
- eine Pfarrerin, ein Pfarrer muss in der Lage sein,
Kontakt zu anderen Menschen zu knüpfen.
Dazu muss man gesprächsbereit und fähig zur Sympathie sein.
Und man muss auch ein wenig sympathisch sein,
man muss gemocht werden - und man möchte auch gemocht werden,
wer möchte das nicht?

Aber ein Pfarrer, eine Pfarrerin kann nicht nur für die da sein, die sie mag.
Sie muss für alle Gemeindeglieder da sein,
unabhängig von Sympathien und Antipathien,
unabhängig auch von politischen Überzeugungen
und anderem, was Menschen so voneinander unterscheidet.

Das ist gar nicht so leicht.
Natürlich geht man lieber zu denen,
die einen willkommen heißen, als zu denen,
die erst einmal abwarten, misstrauisch oder verschlossen sind.
Natürlich findet man leichter einen Draht zu Gleichgesinnten
als zu denen, die in politischen oder anderen Fragen die Gegenposition einnehmen. Das geht jeder und jedem so.
Deshalb bestehen unsere Freundeskreise überwiegend aus Leuten,
die gleiche oder ähnliche Ansichten haben wie wir.
Aber in einer Gemeinde geht es nicht um Freundschaften,
sondern um Beziehungen, und das ist etwas ganz anderes.
Nicht jeder, zu dem ich eine Beziehung aufgebaut habe,
ist meine Freundin oder mein Freund.
Das hängt von der Art der Beziehung ab,
ob sie beruflich ist oder privat.

Deshalb ist es manchmal problematisch,
wenn Pfarrerinnen oder Pfarrer Leute in der Gemeinde duzen.
Im Prinzip könnte und müsste ich Sie alle duzen,
denn ich habe Sie eben als „Schwestern und Brüder“ angesprochen
- und Geschwister siezt man für gewöhnlich nicht.
Aber Sie wären wohl zu recht irritiert, wenn ich‘s täte.
Es gehört sich, dass man das Duzen verabredet
und dabei gewisse Formen einhält:
Die Ältere duzt die Jüngere.
Die Vorgesetzte die Untergebene.
Die Ranghöhere die Rangniedrigere.

Wenn nun eine Pfarrerin nicht alle auf einmal duzen kann,
weil sich das nicht gehört,
aber im Laufe der Zeit einige duzt,
weil sich das so ergeben hat,
können Außenstehende den Eindruck gewinnen,
hier würde mit zweierlei Maß gemessen.
Da gibt es die, die mit der Pfarrerin per Du sind.
Und da gibt es die anderen, die offenbar nicht zum „inner circle“ gehören.
Das kann leicht zu Irritationen oder sogar zu Ärger führen.

II
Warum steht die Pfarrerin oder der Pfarrer überhaupt so im Mittelpunkt?
Liegt es daran, dass ich hier vor Ihnen stehe?
Dass mein Talar, der ursprünglich dazu dienen sollte,
die Person in den Hintergrund zu drängen,
mich besonders heraushebt, weil er ein so ungewöhnliches Kleidungsstück ist?
Oder liegt es daran, dass der, der fast als einziger im Gottesdienst redet,
automatisch auch das Sagen hat?

Schon in den Anfängen des Christentums standen einzelne Personen im Mittelpunkt 
- in unserem Fall z.B. Paulus.
Er hat die Gemeinde in Philippi gegründet,
er ist ihr Pfarrer, sozusagen.
Paulus redet darum auch von sich,
er beschreibt, wie das ist, wenn er sein tägliches Gebet verrichtet:
Wie sehr er an seine Gemeinde denkt, wie dankbar er für sie ist,
weil sie von Anfang an dabei waren.
Er schreibt auch, wie sehr ihm die Philipper fehlen.
Aber obwohl wir von Paulus auf diese Weise einiges erfahren
- dass er im Gefängnis war,
dass er Anfeindungen ausgesetzt ist wegen seiner Predigten -
und obwohl Paulus so oft „ich“ sagt
- ich zähle elf Mal in unserem kurzen Abschnitt -
geht es doch nicht um ihn.
Es geht ihm um die Gemeinde in Philippi.

Das ist es, was ich mit Professionalität meine:
Als Leiter der Gemeinde trägt er eine Verantwortung für die Gemeinde.
Und diese Verantwortung veranlasst ihn dazu,
sich selbst zurück zu nehmen.
Es geht nicht ohne ihn, aber es geht nicht um ihn,
sondern nur um seinen Auftrag, den er sich mit der Gemeinde teilt:
um das Evangelium.

III
Wenn man in Beziehungen lebt und arbeitet,
wie es in der Gemeinde gar nicht anders geht,
rückt oft das Miteinander in den Mittelpunkt:
Warum duzt er den und nicht mich?
Warum hat er mich heute nicht gegrüßt?
Warum ist er so kurz angebunden, habe ich ihm was getan?

Wir leben in Beziehungen, diese Fragen gehören zu unserem Alltag.
Wir können nicht anders, als uns immer wieder diese und ähnliche Fragen zu stellen, immer wieder nach Bestätigung zu suchen:
Ja, wir sind noch Freunde.
Ja, wir haben uns noch lieb.
Wir verbringen einen großen Zeit mit dieser Vergewisserung und mit der Beziehungspflege.

Auch Paulus bemüht sich um seine Beziehung zu den Philippern.
Er denkt täglich an sie, er betet für sie, und er bittet für sie.
Seine Bitten drehen sich dabei nicht um sein Verhältnis zu den Philippern.
Sondern darum, dass die Liebe der Philipper zunimmt.
Wiederum: Nicht zu ihm.
Sondern damit sie durch die Liebe erkennen,
worauf es im Leben wirklich ankommt: auf das Evangelium.
Da sind wir wieder beim Steffensky-Zitat vom Pfarrer,
der täglich betet, weil es sein Beruf ist.

IV
Wieso führt die Liebe dazu, dass man erkennt, worauf es im Leben ankommt?
- Muss ich das wirklich erklären?
Gibt es etwas Größeres, Wichtigeres als die Liebe zwischen zwei Menschen,
als die Liebe der Eltern zu ihren Kindern?

Aber was hat das mit der Gemeinde zu tun?
Mit der Gemeinde, in der Menschen zusammenkommen,
die einander mehr oder weniger fremd sind,
die einander womöglich nicht mögen,
sich nicht einmal kennen - und auch gar nicht kennen lernen wollen?

Zu Beginn der Predigt habe ich Sie als Schwestern und Brüder angeredet.
Das war keine Floskel, die in der Kirche eben üblich ist.
Sie sind meine Schwestern und Brüder.
Denn Gott ist unser aller Vater.
Und Jesus ist unser Bruder.
Ergo sind wir Geschwister,
weil wir alle den selben Vater und alle den selben Bruder haben.
Wir sind Geschwister, und Geschwister haben ein ganz besonderes Verhältnis zueinander.
Wenn Sie Geschwister haben, wissen Sie, was ich meine:
Man ist und bleibt verbunden, trotz räumlicher Trennung,
auch, wenn man sich lange Zeit nicht sieht.
Sogar, wenn man sich zerstritten hat, wenn man einander spinnefeind ist:
Diese Verbindung kann nicht zerbrochen werden.
Sie bringt einen immer wieder zusammen.
Diese Verbindung zwischen Geschwistern ist etwas Einmaliges und Besonderes.
Auch sie nennt man: Liebe.

Wir sind als Geschwister Jesu in der Gemeinde miteinander verbunden.
Diese Verbindung ist stärker, als wir wahrhaben wollen.
Sie zieht uns immer wieder in die Kirche,
so, als ob uns einer gerufen hätte.
Und tatsächlich hat uns einer gerufen.
Und der uns gerufen hat, der beruft uns auch.
Jede und jeden von uns hat Gott berufen,
an ihrem und seinem Ort das Evangelium zu verteidigen und zu verbürgen.
Nicht, wie bei Paulus, mit flammenden Reden.
Sondern durch das, was wir Tag für Tag tun:
durch kleine Gesten. Durch unsere Haltung den Mitmenschen gegenüber.

Indem wir an je unserem Ort unserer Berufung folgen,
wachsen wir an Erkenntnis und Erfahrung,
wächst unsere Liebe - denn um sie geht es ja im Evangelium:
um die Liebe zum Nächsten und zum Fremden,
um die Liebe zu Gott und zu uns selbst.

Am Sonntag kommen wir zusammen,
um unsere Erkenntnisse und Erfahrungen vor Gott zu bringen.
Am Sonntag, dem Tag des Herrn,
der ein kleiner Vorgeschmack ist auf den Tag Christi,
von dem Paulus schreibt,
kommen wir zusammen als Schwestern und Brüder.
Wir bringen unsere Sorgen mit, unseren Kummer,
unsere Trauer, unser Leid.
Wir bringen Fröhlichkeit mit, unser Staunen,
unsere Entdeckungen, unsere Leistungen.
Wir teilen Freude und Leid als Schwestern und Brüder,
die durch die geschwisterliche Liebe verbunden sind;
so dienen wir der Sache Jesu, dem Evangelium.

V
Als Pfarrer bin ich ein Teil dieser Gemeinde.
Ich stehe vor Ihnen, weil das meine Berufung ist
- nicht größer, nicht wichtiger als Ihre Berufung.
Es ist mein Beruf, so, wie Sie Ihre Berufe haben.
Wir alle sind dazu berufen, in je unserem Beruf das Evangelium zu vertreten.
Ich habe es leichter als Sie,
weil ich es im geschützten Raum der Kirche tun kann.

Und so sind meine Herzlichkeit und Fröhlichkeit,
meine Freundlichkeit und Zuneigung zu verstehen:
Das ist mein Beruf.
Das heißt nicht, dass sie nicht von Herzen kommen.
Das heißt nicht, dass ich Sie nicht ins Herz geschlossen habe,
so, wie Paulus die Philipper im Herzen trägt.
Aber wie bei Paulus, ist auch meine Zuneigung nicht Selbstzweck,
sie ist durch Christus vermittelt.
Ich mag Sie, weil wir gemeinsam für die Sache Jesu arbeiten,
ich mag Sie wegen unserer „Gemeinschaft am Evangelium
vom ersten Tag bis heute“.

„Und darum bete ich,
dass eure Liebe noch weiter zunehme an Erkenntnis und jeder Erfahrung, 
damit ihr prüfen könnt, worauf es ankommt,
damit ihr am Tag Christi lauter und tadellos seid,
erfüllt vom Ertrag der Gerechtigkeit,
die durch Jesus Christus kommt,

zu Ehre und Lob Gottes“. Amen.