Mittwoch, 16. November 2016

Reue, die niemanden reut

Predigt am Buß- und Bettag, 16. November 2016, über Römer 2,1-11:

Du kannst dich nicht rechtfertigen, Mensch, wenn du urteilst. Worin du nämlich den anderen beurteilst, verurteilst du dich. Du tust ja dasselbe, wenn du urteilst. Wir wissen aber, dass Gottes Urteil über die, die so etwas tun, sachgemäß ist. Meinst du aber, Mensch, der du über die urteilst, die so etwas tun, und dasselbe tust, dem Urteil Gottes zu entgehen? Oder verachtest du die Fülle von Gottes Güte, Nachsicht und Geduld und weißt nicht, dass Gottes Güte dich zur Reue bewegt? Wegen deines harten und zur Reue unfähigen Herzens häufst du dir Zorn an am Tag des Zorns und der Offenbarung des Gerichtes Gottes.
Gott wird jedem nach seinen Taten vergelten. Denen, die durch konsequent gutes Handeln Ruhm, Ehre und Unsterblichkeit suchen, wird er ewiges Leben geben. Die aber, die aus Egoismus der Wahrheit ungehorsam sind, aber dem Unrecht gehorchen, werden Wut und Zorn zu spüren bekommen.
Bedrängnis und Not komme über jeden, der Schlechtes tut, den Gläubigen zuerst und auch den Ungläubigen. Ruhm, Ehre und Frieden aber für jeden, der Gutes tut, den Gläubigen zuerst und auch den Ungläubigen, denn Gott macht keinen Unterschied.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

kennen Sie das: Manchmal braucht man einen Schubs, manchmal braucht es etwas Druck von außen, damit man sich zu einer ungeliebten Arbeit aufrafft. 
Manchmal müssen die Fruchtfliegen erst ihre Kreise ziehen, damit man endlich den Müll rausbringt. 
Manchmal braucht es erst die Mahnung vom Finanzamt, damit man endlich die Steuererklärung macht. 
Manchmal muss die Liebste erst ein paar deutliche Worte sagen, damit man endlich die leeren Flaschen aus dem Keller zum Container bringt …
Zu ungeliebten Arbeiten muss man sich manchmal regelrecht zwingen - oder gezwungen werden -, damit man sie tut. Das weiß auch Paulus, und darum stellt er denen, die Schlechtes tun, Wut und Zorn in Aussicht, damit sie sich zu Reue und Umkehr bequemen.

„Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ - dieses Goethewort kennen alle, und innerlich stimmt man ihm auch zu. Aber leichter ist es doch, gemein zu sein, egoistisch und schlecht.
Man macht das ja nicht mit Absicht. Jedenfalls nicht immer. Es ist uns zur Gewohnheit geworden. Und genau diese Gewohnheit nimmt Paulus aufs Korn, wenn er uns vor der Schlechtigkeit warnt, indem er Gottes Wut und Zorn heraufbeschwört.

I
Das, was Paulus unter schlechtem Handeln versteht, ist das Urteilen. Darauf wären wir wohl nicht gekommen. Wir würden als Beispiele für Schlechtigkeit das Lügen nennen, den Vertrauensbruch, oder den Diebstahl. Aus aktuellem Anlass könnte man auch die Feindseligkeit gegenüber Fremden und Ausländern dazu zählen. Oder die Einschüchterung durch gewalttätiges Auftreten, durch Kleidung und Hassparolen. 
Aber Urteilen? Das machen wir doch ständig, das ist etwas ganz Normales, Alltägliches! Was sollte daran falsch, gar schlecht sein?

Wir wuchsen mit Urteilen auf. Zu dem ersten, was wir hörten, gehörte: Das hast du aber fein gemacht!, wenn uns der erste Schritt gelang, wenn wir aufs Töpfchen gingen, später das Radfahren oder das Schwimmen lernten.
In der Schule bekamen wir dann Fleißbienchen, und später Zensuren. Und spätestens dann gab es auch den Tadel, der auch in Zahlen ausgedrückt wurde. Mit einer 4, 5 oder gar 6 ließ man sich besser nicht zuhause blicken …
Wir wuchsen mit Urteilen auf, und seitdem beurteilen wir auch, was wir erleben: Das Wetter ist schön oder schlecht, die Sendung im Fernsehen war interessant oder öde, das Buch spannend oder langweilig. Das Urteilen ist uns in Fleisch und Blut übergegangen. Oft ist der erste Satz, den wir sagen, bereits ein Urteil, als wäre unser Leben eine Talentshow, und wir sitzen in der Jury und bewerten die Leistungen.
Darum sagen wir so selten danke. Danke, dass ihr Kirchenältesten euch um den Erhalt der Kirche kümmert und so viel von eurer Zeit dafür investiert. Statt dessen heißt es: 
Wieso lasst ihr denn die Wand verputzen?! Die sah doch unverputzt viel schöner aus! 
Und warum die Südwand? Die Nordwand hat's doch viel nötiger!
Warum lasst ihr die Kirchentür in einem so scheußlichen Grau streichen!? 
Und hättet ihr bei der Treppe nicht auch gleich das Podest neu machen können, das alte beißt sich doch mit den neuen Stufen!

II
Es ist, als wäre unser Leben eine Talentshow. Oft finden wir uns aber nicht in der Jury wieder, die ihre Noten abgibt, sondern auf der anderen Seite. Wir werden ständig beurteilt. Von der Familie, von den Nachbarn, von den Kollegen, vom Chef. Immer gibt es etwas an uns zu kritisieren, nie ist man einfach nur dankbar und zufrieden. Das gefällt niemandem, und viele leiden unter diesem ständigen Beurteiltwerden.

Aber bevor wir mit dem Finger auf die zeigen, die uns beurteilen, und uns über sie ärgern, weil sie so undankbar und ungerecht sind, fassen wir uns schnell an die eigene Nase. Und erinnern uns daran, dass, wer mit dem Finger auf andere zeigt, mit drei Fingern auf sich selbst zeigt.
Wir sind nicht besser als die anderen. Wenn wir nicht gerade beurteilt werden, sitzen wir selbst in der Jury. Wir urteilen über andere und beurteilen, was sie tun. Auch wir sagen selten „danke“ und häufiger „das gefällt mir nicht“, „so ist das nicht richtig“. Deshalb, sagt Paulus, gibt es für uns keine Rechtfertigung. Wir haben kein größeres Recht, andere zu beurteilen, als sie, uns zu beurteilen.

Warum können wir das Urteilen nicht überhaupt bleiben lassen? Warum fällt es uns offensichtlich so schwer, uns einfach zu freuen, dass jemand etwas getan hat? Warum gelingt es uns so selten, eine Arbeit anzuerkennen, auch, wenn wir sie besser gemacht hätten?

Eigentlich ist diese ganze Bewerterei und Beurteilerei doch völlig überflüssig. Sie hilft niemandem, sie richtet nur Schaden an, bewirkt Verletzungen und Frust. Warum können wir das nicht lassen?

III
Zu den Kriegsspuren, die uns in der diesjährigen Friedensdekade beschäftigten, gehören die Verletzungen. Noch schlimmer als die Einschusslöcher in den Wänden, als die zerstörten Gebäude und Städte sind die Verletzungen an Leib und Seele. Wer einmal so verletzt wurde, wer sein Zuhause, gar jemanden aus seiner Familie durch den Krieg verlor, vergisst es sein Lebtag nicht. Der kann dem nicht vergeben, der ihm das antat, und wird nach einer Möglichkeit suchen, es ihm zu vergelten. Daher kommt die endlose Kette der Gewalt und der Kriege. Jeder Militärschlag zieht einen Gegenschlag nach sich; jeder Schlag bewirkt, dass jemand zurückschlägt.

Das gilt auch vom Urteilen. Auch Urteile können Schläge sein - oft sind sie als Schläge beabsichtigt, sollen verletzen, kränken, demütigen. Noch im Ratschlag, der ja meist gut gemeint ist, steckt der Schlag: Ratschläge sind auch Schläge. Das hat jeder erfahren, der einen ungewollten Ratschlag erhalten hat.

Wir wurden von klein auf beurteilt. Von klein auf erlebten wir, wie mit Urteilen Gewalt gegen uns angewendet wurde. Keine körperliche Gewalt. Aber wir haben gespürt: Die Beurteilung drängt uns in eine Richtung. Wir sollen etwas nicht so tun, wie wir es wollen und können, sondern so, wie es von uns verlangt wird. Selten hörten wir: „Toll, wie du das hingekriegt hast!“. Viel öfter: „Du machst das ganz falsch! So macht man das!“

Diese Beurteilungen haben uns verletzt - und was uns verletzt, ist eine Form der Gewalt. Ist es da ein Wunder, dass wir zurückschlagen, wenn wir können? Zwar können wir es nicht denen heimzahlen, die uns beurteilten; dafür geben wir die Verletzungen an andere weiter: An Schwächere; an von uns Abhängige; an die, die sich nicht wehren. 
Wie beim Krieg entsteht auch beim Beurteilen eine Kette von Gewalt und Gegengewalt, von der niemand mehr sagen kann, wann sie angefangen hat, und die niemand zerbrechen kann. Für jedes Urteil, das über uns gesprochen wird, rächen wir uns mit einem Urteil über jemand anderen. Und so geht es weiter und weiter, bis in alle Ewigkeit …

IV
Krieg ist eine Kette der Gewalt, und auch das Urteilen ist eine Kette verbaler Gewalt. In diesen Ketten von Gewalt und Gegengewalt liegt die Ausweglosigkeit des Krieges und des Urteilens. Kriege ließen sich nur beenden, wenn es gelänge, die Kette von Gewalt und Gegengewalt zu zerreißen, indem man einmal nicht Gewalt mit Gewalt beantwortet. Ebenso ließen sich die Urteile beenden, wenn man einmal ein verletzendes Urteil nicht mit der Beurteilung eines anderen beantwortet.

Gott beurteilt uns nicht.
Gott wendet uns Güte, Nachsicht und Geduld zu.
Wenn wir einen Fehler gemacht haben, sagt Gott nicht: „Du Idiot, so muss du das machen!“
Gott sagt freundlich: „Komm, probier's doch noch einmal!“
Wenn wir dann den selben Fehler wieder machen, verliert Gott nicht die Geduld mit uns, wie wir es täten, sondern macht uns Mut, es noch einmal zu versuchen.
Und wenn wir siebzig mal sieben Mal den selben Fehler machten - Gott würde uns immer noch liebevoll anstupsen und sagen: „Komm, du schaffst das! Ich glaube an dich!“

Wir sind nicht wie Gott. 
Wir sind nicht so geduldig wie Gott, nicht so gütig und nicht so nachsichtig. Und wir brauchen es zum Glück auch nicht zu sein.
Aber Gottes Güte, Geduld und Nachsicht mit uns sollte uns ab und an dazu bewegen, auch mit unseren Mitmenschen gütig, geduldig und nachsichtig zu sein.

Gütig, indem wir sie mit Humor nehmen, wenn sie einmal schlecht gelaunt sind oder sich schlecht benehmen.
Geduldig, indem wir ihnen eine zweite Chance geben. Oder eine dritte. Oder vielleicht sogar eine weitere …
Nachsichtig, indem wir ihnen gute Absichten unterstellen und nicht gleich die schlechtesten.

Wenn wir das versuchten, könnten wir die Ketten der Gewalt unterbrechen. Davon wird wahrscheinlich nicht gleich viel zu merken sein. Aber je mehr sich unserem guten Beispiel anschließen, desto größere Auswirkungen wird es haben. Wenn wir es schaffen könnten, mehr und mehr auf das Urteilen und Beurteilen zu verzichten, hätten wir alle viel mehr Freude am Leben und an der Arbeit. 

Dann würde es auch viel mehr Spaß machen, Kirchenältester zu sein. 
Dann würden sich vielleicht auch Leute trauen, in der Gemeinde mitzumachen, die es sich bisher nicht zutrauten, oder die sich die ständige Kritik nicht mehr anhören mochten. 
Dann würde von uns, von dieser Gemeinde, von diesem Ort Freude ausgehen.

V
Am Buß- und Bettag betrachten wir kritisch, was wir tun. Wir fragen nach den Gründen und den Folgen unseres Tuns. Wir tun das mit Gottes Güte, Nachsicht und Geduld im Rücken. 
Wir können uns selbst kritisch sehen, weil Gott uns nicht auf unsere Fehler und Schwächen, sondern auf unsere Stärken und Möglichkeiten hin ansieht. So können wir Reue empfinden, die wir nicht bereuen. Reue, die uns bedauern lässt, was falsch lief, und uns Mut macht, unsere Einstellung, unser Verhalten zu ändern. 
Der erste Schritt zu dieser Reue ist, dass wir erkennen und glauben, wie gut Gott es mit uns meint. Gebe Gott, dass wir diesen ersten Schritt gehen können.
Amen.