Samstag, 19. November 2016

Diese Worte sind eingetreten

Predigt am Ewigkeitssonntag, 20. November 2016, über Offenbarung 21,1-7:

Und ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde. Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen, und das Meer ist nicht mehr.
Und die heilige Stadt Jerusalem sah ich als neue herabsteigen aus dem Himmel, von Gott bereitet, wie eine Braut geschmückt wird für ihren Mann.
Und ich hörte eine gewaltige Stimme vom Thron, die sprach:
„Sieh her! Gottes Zelt [geht] mit den Menschen,
und er wird mit ihnen wohnen,
und sie werden sein Volk sein,
und Gott selbst mit ihnen wird ihr Gott sein.
Und er wird abwischen jede Träne aus ihren Augen,
und der Tod wird nicht mehr sein,
weder Trauer noch Klagegeschrei noch Schmerz wird noch sein,
weil das Erste vergangen ist.“
Und der auf dem Thron sitzt, sprach:
„Sieh her, alles mache ich neu!“
Und er spricht:
„Schreibe, dass diese Worte glaubwürdig und wahr sind“.
Und er sprach zu mir:
„Sie sind eingetreten.
Ich bin der erste und der letzte Buchstabe,
der Anfang und das Ende.
Ich werde dem Durstigen [zu trinken] geben aus der Quelle des Wassers des Lebens umsonst.
Wer durchhält, wird das [alles] bekommen,
und ich werde ihm Gott sein, und er wird mir Sohn sein.
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

es ist nur noch gut einen Monat hin,
dann werden wir sie wieder hören,
die alten, geheimnisvollen Worte:
„Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“ (Johannes 1,14).
Von Jesus ist die Rede,
der in einem Stall in Bethlehem geboren wird
und in einer Futterkrippe liegt.
Jesus, das Wort.
Jesus, das eine Wort Gottes (Barmen I).
Wie kann es sein, dass ein Mensch ein Wort ist?

I
Viele von uns haben im zurückliegenden Kirchenjahr einen Menschen verloren,
der für sie der Liebste war, oder die Liebste,
Mutter oder Vater,
Bruder oder Schwester,
Oma oder Opa,
Freundin, Nachbarin, Kollegin.
Heute sind wir hier, um uns an sie zu erinnern
und um ihre Namen zu verlesen.

Diese Menschen, deren Namen wir heute nennen,
waren für die, die sie verloren, mehr als ein Name.
Für sie waren sie die Liebste oder der Liebste,
waren sie Vater oder Mutter,
Schwester oder Bruder,
Freund oder Freundin.
Wenn sie „Vater“ oder „Mutter“ dachten,
sahen sie diesen einen, besonderen Menschen vor sich,
der jetzt nicht mehr da ist.

So geht es uns allen.
„Mutter“ oder „Vater“, „Schwester“ oder „Bruder“, „Freund“ oder „Freundin“ sind keine abstrakten Begriffe für uns.
Wir sehen ein Gesicht vor uns, wenn wir diese Worte hören.
Das Gesicht unserer Mutter, unseres Vaters.
Das Wort „Vater“, das Wort „Mutter“ wurde Fleisch.
Es nahm Gestalt an in einem ganz bestimmten Menschen - unseren Eltern, eben.

Es wurde Fleisch - im Guten wie im Bösen.
Wie eine Mutter, wie ein Vater ist:
Das ist für uns verbunden mit den Erfahrungen, die wir mit unseren Eltern gemacht haben.
Es ist für uns damit verbunden, wie unser Vater, unsere Mutter für uns war.
Wir haben andere Mütter und Väter kennen gelernt.
Manchmal haben wir vielleicht davon geträumt, wie es schön es gewesen wäre,
wenn die unsere Mutter, der unser Vater hätte sein können.
Und manchmal waren wir froh, dass wir nicht solche Eltern hatten wie die,
dass unsere Eltern anders waren.

II
Viele von uns haben im zurückliegenden Kirchenjahr ihren Liebsten, ihre Liebste verloren,
einen Elternteil,
ein Geschwister,
einen Freund oder eine Freundin.
Der Mensch, der für uns die Mutter, den Vater verkörperte, in dem der Liebste, die Liebste Gestalt gewann, ist nicht mehr da.
Hat dadurch das Wort „Vater“ oder „Mutter“ sein Fleisch,
seine ganz konkrete Gestalt in Gesicht und Wesen eines Menschen verloren?

Nein.
Wenn Sie „Vater“ oder „Mutter“ hören,
wenn Sie an Ihre Liebste, Ihren Liebsten denken,
dann sehen Sie immer diesen einen Menschen vor sich,
der das für Sie war.
Das einmal Fleisch gewordene Wort verliert seine Gestalt nicht.
Selbst, wenn man andere Freunde hat, wenn man neue Freunde findet;
selbst, wenn man eine neue Liebe findet:
die eine, der eine bleibt, was er oder sie für Sie war.

„Das Wort wurde Fleisch und wohnte unter uns“.
Wer einen Menschen liebt oder geliebt hat, weiß, was damit gemeint ist.
Was für andere nur ein Wort ist,
bekommt für die, die liebt, ein Gesicht.
Bekommt Hände und Füße,
ein Wesen und eine Stimme.

So war und so ist es auch mit Jesus.
Für den, der glaubt, ist „Jesus“ nicht nur ein Name,
der irgendetwas bezeichnet.
Für die, die glaubt, hat Jesus ein Gesicht,
Hände und Füße,
ein Wesen und eine Stimme.

Wie aber kann das sein,
wo wir doch Jesus nie gesehen haben?

Wir haben ihn kennen gelernt
in den Geschichten, die in der Bibel von ihm erzählt werden.
Wir haben seine Stimme gehört in den Worten,
die von ihm berichtet werden.
Wir haben sein Wesen erkannt in den Verheißungen der Bibel, die von ihm sprechen.
Und wir haben sein Gesicht gespiegelt gesehen in den Gesichtern der Menschen, denen er sich zugewandt hat.
In all dem ist Jesus uns begegnet als der, der uns über alles liebt.
Er begegnet uns als Bruder und als Freund.
So, wie Gott uns als Vater und als Mutter begegnet.
Für die, die an Gott glauben, gibt es noch einen zweiten Vater; sie denken beim Wort „Vater“ nicht nur an ihren leiblichen Vater, sondern auch an den, den wir als „Vater unser im Himmel“ anreden.
Wer an Jesus glaubt, denkt beim „Bruder“ und beim „Freund“ nicht nur an den leiblichen Bruder, die beste Freundin oder den besten Freund, sondern auch an Jesus.

III
Jesus ist das eine Wort Gottes,
mit dem alles gesagt ist, was zu sagen ist.
Weil dieses eine Wort „Liebe“ lautet.
Jesus ist die Mensch gewordene Liebe Gottes.
Mehr braucht es nicht zum Leben.
Mehr muss nicht gesagt werden.

Diese Liebe Gottes zu uns spricht auch aus den Worten von einem neuen Himmel und einer neuen Erde, die wir so oft bei Trauerfeiern vorlesen.
Diese Worte sagen:
Da kommt noch etwas.
Der Tod ist nicht das Ende.
Trauer und Leid werden nicht über uns bestimmen.
Das der geliebte Mensch gestorben ist,
ist nicht das letzte Wort über diesen Menschen.

Was da kommt, wird anders sein als das, was wir kennen.
Ein neuer Himmel, eine neue Erde werden das, was wir von Himmel und Erde zu wissen meinen, in neuer Gestalt verkörpern.
Auch Gott wird anders da sein als bisher.
Wie zu den Zeiten, als er mit Israel durch die Wüste wanderte, wird er mit uns sein, mitten unter uns.
Gott wird sein Zelt aufschlagen mitten zwischen unseren Zelten.
Gott wird uns nahe sein - so nahe, wie er es früher nur Mose war, mit dem er von Angesicht zu Angesicht redete wie mit einem Freund.
So nahe, dass er uns die Träne aus dem Auge wischen kann, wie das eine Mutter für ihr Kind tut.

Ein schönes, ein tröstliches Bild.
Zu schön, um wahr zu sein.
Was hilt es, wenn jemand die alten Geschichten der Bibel mit neuem Leben füllt? Was hilft es uns?

Wir müssen nicht glauben, dass es so gewesen ist, wie die Bibel erzählt.
Wir müssen nicht glauben, dass es so werden wird, wie der Seher Johannes es beschreibt.
Es sind Bilder.
Bilder, die unserer Sehnsucht, unserer Hoffnung Gestalt geben.
Wir hoffen auf das Ende von Leid und Schmerz.
Wir hoffen auf die Überwindung des Todes.
Wir hoffen, dass der Abschied von Menschen, die wir lieben - und dass eines Tages unser Abschied von dieser lieben Erde, von den Menschen, an denen wir hängen -, dass dieser Abschied nicht das Ende sein wird, mit dem alles aus und vorbei ist, nach dem nichts mehr kommt.
Dieser Hoffnung gibt der Seher Johannes mit seinen Worten eine Gestalt.
Die Hoffnung wird Fleisch, sie wird greifbar, wir können sie zu unserer Hoffnung machen.
Wenn wir versuchen, über den Tod hinaus zu denken,
sehen wir vor uns den neuen Himmel, die neue Erde.
Sehen wir Gott behutsam die Tränen abwischen,
wie das eine Mutter für ihr Kind tut.

IV
Das Bild des Sehers Johannes gibt unserer Hoffnung Gestalt.
Und indem es ihr Gestalt gibt, wird das Wort Fleisch in uns.
Es wird zu einem Bild, das wir in uns tragen.
Das uns tröstet.
Das uns Mut macht.
Das uns antreibt, dem neuen Himmel, der neuen Erde entgegenzugehen,
für das Kommen des Reiches Gottes zu  beten und zu arbeiten.

Wer den Mut hat, zu glauben, für den gibt es eine wichtige Nachricht:
„Diese Worte sind eingetreten“, sagt Jesus.
Das Reich Gottes ist schon angebrochen;
es ist mitten unter uns.
Die Hoffnung auf einen neuen Himmel und eine neue Erde,
auf Gott, der die Tränen abwischen und den Tod vernichten wird,
hat sich bereits erfüllt.
Sie ist Fleisch geworden in dem einen Wort Gottes, Jesus,
das alle Buchstaben des Alphabets umfasst, vom Ersten bis zum Letzten.
Und damit alles, was sagbar ist. Alle Worte.

Jesus verkörpert uns die Hoffnung auf ein Leben nach dem Tod;
die Hoffnung, dass die Liebe Leid und Schmerz und sogar den Tod besiegt.
Jesus verkörpert diese Hoffnung nicht nur,
in ihm ist sie Wirklichkeit geworden.
Jesus ist auferstanden,
er hat den Tod besiegt,
er hat bewiesen, dass die Liebe stärker ist
als alle Macht und Gewalt,
stärker als alle Dunkelheit, alles Leid und aller Schmerz.

V
Die Hoffnung auf ein Ende von Leid und Schmerz,
auf ein Leben nach dem Tod ist Fleisch geworden.
An Weihnachten liegt diese Hoffnung als kleines Kind in einer Futterkrippe.
Als Kind, das unser Herz berührt, unsere Liebe weckt.
In diesem Kind wird die Hoffnung greifbar.
Das zarte, zerbrechliche, neu geborene Leben schenkt uns die Gewissheit,
dass das Leben über den Tod siegt
und die Liebe niemals aufhört.
Amen.