Samstag, 3. Dezember 2016

Das Ende ist nah!

Predigt am 2. Advent, 4. Dezember 2016, über Matthäus 24,1-14:

Jesus kam aus dem Tempel heraus und zog weiter. Und seine Jünger kamen zu ihm, um ihm die Gebäude des Tempels zu zeigen. Er aber entgegnete ihnen: Seht ihr das alles nicht? Wirklich, ich sage euch: Es wird hier kein Stein auf dem anderen bleiben; alles wird zerstört werden.
Als er sich aber auf dem Ölberg niedergesetzt hatte, gingen allein die Jünger zu ihm und baten: „Sag uns, wann wird das geschehen, und was wird das Zeichen deiner Wiederkunft und des Weltendes sein?“
Jesus antwortete ihnen: „Passt auf, dass sich keiner von euch täuschen lässt! Denn es werden viele unter meinem Namen kommen und sagen: ‘Ich bin der Christus!’ und viele täuschen. Ihr werdet von Kriegen hören, und Kriegsgerüchte. Seht euch vor, dass ihr euch nicht in Schrecken versetzen lasst! Denn das muss geschehen, ist aber noch nicht das Ende. Es wird aber ein Volk gegen das andere aufstehen und ein Königreich gegen das andere; es wird in verschiedenen Gegenden Hungersnöte und Erdbeben geben. Das alles ist der Anfang der Wehen. Dann werden sie euch quälen und töten, und ihr werdet von allen Völkern gehasst werden um meines Namens willen. Dann werden viele abfallen und einander verraten und hassen. Und viele Falschpropheten werden aufstehen und viele verführen. Und weil das Unrecht zunimmt, wird die Liebe der meisten erkalten. Wer aber aushält bis zum Ende, der wird gerettet werden. Und dieses Evangelium des Reiches wird auf der ganzen Welt verkündet werden zum Zeichen für alle Völker, und dann wird das Ende kommen.“
(Eigene Übersetzung)

Liebe Schwestern und Brüder,

was soll bloß aus unserer Erde werden?
Diese Sorge trieb mich schon als Jugendlicher um. Damals, Anfang der 80er Jahre, hatte ich Angst vor einem Atomkrieg, der unsere Zivilisation vernichten würde. Ich hatte Angst, dass wir unsere Lebensgrundlagen zerstören. „Global 2000“, der Bericht von Wissenschaftlern an den Präsidenten der USA, zeichnete ein düsteres Bild. Umweltgruppen im Osten und die Grünen im Westen Deutschlands prangerten die Zerstörung der Natur an durch sauren Regen, vergiftete Flüsse, Smog in der Luft.

Mit dem Fall der Mauer schien die atomare Bedrohung endlich vorbei, die endgültige Abrüstung nur noch ein technisches Problem zu sein: wohin mit all den Atomsprengköpfen. Doch inzwischen haben sich weitere Nationen in den Besitz von Atomwaffen gebracht oder versuchen, welche zu bekommen. Der zukünftige Präsident der USA denkt laut das Undenkbare: Dass man diese Waffen auch einsetzen könnte.

Und auch wenn der saure Regen kein Thema mehr und die Hänge im Harz längst wieder grün sind; wenn man im Wasser unserer Flüsse wieder baden kann und die Städte im Winter nicht mehr unter einer Rauchglocke verschwinden - die Natur wird weiter zerstört. Tier- und Pflanzenarten gehen unwiederbringlich verloren. Die Klimaerwärmung bedroht nicht nur unseren Wintersport, sondern das Leben unzähliger Menschen an den Küsten.

I
Leben wir in der Endzeit?
Wenn man die Beschreibung des Predigttextes zum Maß nimmt, könnte man diese Frage bejahen. Politiker treten als Messias auf und versprechen: „Make America great again!“. Konflikte zwischen Völkern und Nationen gibt es zuhauf, Hungersnöte und Erdbeben ebenso. Sogar der Hass gegen Christen nimmt zu. Aus dem Lager der Rechten, das doch vorgibt, das christliche Abendland verteidigen zu wollen, kommen Hassbotschaften und Morddrohungen gegen Pfarrerinnen; werden Christen, die sich für Ausländer einsetzen, als „Volksverräter“ beschimpft.
Mitmenschlichkeit und Nächstenliebe sind auf dem Rückzug. Neid und Hass - nicht etwa auf die Reichen, sondern auf die Geflüchteten - wird unverhohlen geäußert. Menschen, die in finanziell prekären Verhältnissen leben, ohne Arbeit, ohne Perspektive, suchen sich wieder einen Sündenbock und finden ihn in denen, die noch unter ihnen stehen: die Flüchtlinge und Asylbewerber. „Weil das Unrecht zunimmt, wird die Liebe der meisten erkalten“ - dieser fast 2.000 Jahre alte Satz liest sich wie eine Beschreibung unserer Gegenwart.

II
Leben wir also in der Endzeit?
Alles spricht dafür: Das Ende ist nah.
Aber es fühlt sich nicht so an.
Mit Ausnahme der Zeugen Jehovas und zahlreicher Evangelikaler Christen in den USA glaubt niemand so recht, dass wir das Ende der Welt in unserer Zeit erleben werden.
Vielleicht stand die Welt einfach schon zu oft am Abgrund, als dass man sich vorstellen könnte, dass es diesmal tatsächlich mit ihr zuende geht. Tschernobyl und Fukushima haben wir überstanden, Tsunamis und Erdbeben, Weltkriege und Umweltkatastrophen. Jedes Mal ging es wieder weiter. Mensch und Natur, so scheint es, sind nicht kaputtzukriegen.

Tatsächlich darf man wohl davon ausgehen, dass unser Planet auch die menschengemachte Klimaerwärmung überstehen wird. Millionen werden ertrinken, ihre Heimat verlieren; es wird Kriege um Land und Trinkwasser geben, und vielleicht werden wir das als Menschheit nicht überleben. Aber die Pflanzen und Tiere, die Bakterien und Insekten werden sich anpassen, es wird neue Arten geben. Vielleicht wird eine die Erde so beherrschen, wie wir es heute tun. Vielleicht wird die Natur das Experiment einer alles beherrschenden Art aber auch nicht wiederholen. In geologischem Maßstab gibt es uns Menschen erst einen Augenblick lang. Was sind schon die paar hunderttausend Jahre homo sapiens gegen die hunderte von Millionen Jahren, die Dinosaurier die Erde beherrschten? Wenn es uns einmal nicht mehr gibt, wird die Natur wahrscheinlich aufatmen.

III
In geologischem Maßstab ist es fast egal, was wir der Welt antun. Sie wird sich, wenn sie uns endlich los ist, einmal schütteln, und neue Arten werden die neu entstandenen Lebensräume besetzen. Aus Sicht der Erde sind wir Menschen nur ein weiterer Wurf der Evolution. Ein bisher ziemlich erfolgreicher Wurf. Aber der Erfolg stieg uns zu Kopfe, wir vergaßen, dass wir ein Teil der Natur sind, in der alle aufeinander angewiesen sind und alles voneinander abhängt. Das wird sich rächen - es rächt sich bereits jetzt.

Wir halten uns für die Krone der Schöpfung, aber in erdgeschichtlicher Sicht sind wir nur eine Art unter unzähligen anderen. Im Moment setzen wir scheinbar alles daran, unsere Zukunft ebenso zu verbauen wie die ungezählter Arten, die wir schon ausgerottet haben. In ein paar millionen Jahren - für uns ein unvorstellbar langer Zeitraum, für die Erde nur ein Wimpernschlag - wird von den Bauten, mit denen wir heute das Gesicht der Erde verschandeln, keine einzige mehr stehen. Stein und Beton werden zu Sand zerfallen sein, der Stahl weggerostet, die Städte verschwunden und überwuchert.
Es gibt keinen Grund, anzunehmen, dass die Evolution mit uns an ein Ende gekommen wäre. Im Gegenteil: Man darf gespannt sein, welche Art nach uns kommen und nach uns die Erde beherrschen wird - und ob sie es dereinst besser machen wird als wir.

IV
Das Ende der Welt ist der Welt gleichgültig, weil die Welt nicht enden wird - jedenfalls nicht so bald. Unsere Sonne wird noch einige tausend millionen Jahre scheinen - eine Zahl, für uns ebenso unvorstellbar wie die Zahl der Sterne oder die Weite des Alls.
Aber uns kann das Ende unserer Welt nicht gleichgültig sein. 
Unsere Welt - das ist nicht das unendliche All; das ist nicht unser jahrmilliarden alte Planet Erde. 
Unsere Welt ist nicht einmal das, was wir „Umwelt“ nennen und schützen möchten. 
Unsere Welt, das ist die kleine Welt um uns herum. Unser Dorf, die Stadt in der Nähe, Wiesen, Äcker und Wälder dazwischen, und die Urlaubsorte, die wir besuchen: sie machen unsere Welt aus.
Im Fernsehen sehen wir die Welten anderer Menschen; wir sehen Bilder aus der sogenannten „Dritten Welt“. Aber das ist nicht die unsere. Die wenigsten machen sich auf, eine dieser anderen Welten kennen- und verstehen zu lernen.
Nein, die Welt: das ist die kleine, alltägliche Welt um uns herum, der kleine Kreis um unsere Wohnung, unser Haus. Diese kleine, heile Welt ist tatsächlich vom Untergang bedroht, und kein Stein wird auf dem anderen bleiben, wenn es so weit ist.

Tatsächlich ist unsere kleine, heile Welt schon mehrmals untergegangen. In der Reichspogromnacht zum Beispiel. Als Nachbarn tatenlos - und manchmal sogar schadenfroh - zusahen, wie Synagogen brannten. Wie das Heiligste, die Torarollen, aus dem Toraschrein gezerrt und in den Dreck geworfen wurde; wie Gottes Wort mit Füßen getreten und ins Feuer geworfen wurde.

Unsere kleine, heile Welt ging unter, als Nachbarn tatenlos - und manchmal sogar schadenfroh - zusahen, wie Mitbürger jüdischen Glaubens den Gehsteig schrubben mussten; wie sie bespuckt, beschimpft, geschlagen wurden; wie die Schaufenster ihrer Läden beschmiert oder eingeworfen wurden.

Unsere kleine, heile Welt ging unter, als Nachbarn tatenlos - und manchmal sogar schadenfroh - zusahen, wie ihre jüdischen Nachbarn aus ihren Wohnungen gezerrt, zusammengetrieben und in Viehwaggons zu ihrer Ermordung verschleppt wurden.

Seitdem gibt es unsere kleine, heile Welt nicht mehr. 
Seitdem kann man sich nicht mehr der Illusion hingeben, der Mensch sei unschuldig und gut.
Und seither hat es viele ähnliche Taten gegeben, wenn auch nicht von solcher Grausamkeit und in solchem Ausmaß. 

Die Bespitzelung von Nachbarn durch Nachbarn, die sich als IM der Stasi verpflichtet hatten, gehört zum Beispiel dazu. 
Die Schmähungen und Restriktionen, die Christen ihres Glaubens wegen in der DDR erfuhren.
Die Willkür staatlicher Beamter.
All das hat die kleine, heile Welt der Betroffenen zerstört; sie standen vor den Trümmern ihrer Existenz; viele tragen bis heute an den Verletzungen und können nicht vergessen und nicht vergeben.

V
Die Welt - unser Planet Erde - geht nicht unter, wenn unsere kleine, heile Welt zerbricht. 
Und trotzdem geht eine Welt unter mit jedem Menschenleben, das ausgelöscht wird. Denn jeder Mensch ist eine eigene, kleine Welt. Jeder Mensch ist ein einmaliges, unvergleichliches Ebenbild Gottes. Weil Gott so groß ist, sehen wir ihn nur ganz in der Fülle aller Menschengesichter. Wenn auch nur eines fehlt, muss unser Wissen von Gott Stückwerk bleiben.
Jeder Mensch ist eine Welt. Darum ist jedes Menschenleben so unendlich wertvoll und wichtig.

Wir stehen also tatsächlich vor dem Ende der Welt, wenn es wieder möglich ist, andere Menschen verächtlich zu machen, herabzuwürdigen, mit Füßen zu treten. Wenn Unmenschlichkeit und Hartherzigkeit keine Todsünde mehr sind, sondern bestenfalls ein Kavaliersdelikt. Wenn wieder zur Jagd geblasen wird auf alle, die anders sind.

VI
„Seht euch vor, dass ihr euch nicht in Schrecken versetzen lasst!“. Wenn das Ende der Welt nahe ist, darf man sich nicht irre machen lassen. Man muss am Recht, an der Gerechtigkeit festhalten. 
Die Angst vor Terroristen rechtfertigt nicht das Aushebeln der Grundrechte, nicht die pauschale Verdächtigung einer ganzen Gruppe von Menschen. 
Die Angst vor der Zukunft, vor dem Verlust des Arbeitsplatzes, des Wohlstands und der Privilegien rechtfertigt nicht die Abschottung unseres Landes gegenüber Menschen, die Hilfe suchen.

Mit einer solchen Haltung macht man sich Feinde. 
Es ist nicht unwahrscheinlich, dass man Hass dafür erntet, als „Volksverräter“ beschimpft wird von denen, die behaupten, „das Volk“ zu sein.
Auch das gehört zur Endzeit.

VII
Wir leben in der Endzeit.
Das Ende ist immer dann nahe, wenn Menschenleben auf dem Spiel stehen. Wenn Menschen ihr Menschsein, ihre Würde bestritten oder geraubt wird.
Es ist wieder so weit. Es geschieht bereits.

In der Adventszeit werden wir daran erinnert, dass das Ende nahe ist. Menschenleben sind täglich bedroht. Menschenwürde wird täglich mit Füßen getreten. Jeden Tag werden unersetzliche Welten ausgelöscht, weil Menschen das Leben anderer nicht achten.

Im Advent gehen wir auch auf die Menschwerdung zu.
Gott wird Mensch.
Und auch wir müssen immer wieder erst Menschen werden, indem wir Mitmenschlichkeit zeigen.
Das zarte, zerbrechliche, wehrlose Kind in der Krippe fordert sie heraus.
Werden wir uns anderen gegenüber so verhalten, wie wir mit dem Neugeborenen in der Krippe umgehen würden?