Predigt am 4. Advent, 18. Dezember 2016, über Lukas 1,26-38
für Prof. Dr. Barbara Hallensleben
Im 6. Monat [von Elisabeths Schwangerschaft] wurde der Engel Gabriel von Gott in die galiläische Stadt Nazaret zu einer jungen Frau geschickt, die mit einem Mann namens Josef aus dem Hause Davids verlobt war. Der Name der jungen Frau war Maria. Als er bei ihr eintrat, sprach er:
Ich grüße dich, Begnadete! Der Herr ist mir dir.
Sie aber war wegen dieses Grußes verwirrt und überlegte, was für eine Begrüßung das wäre. Und der Engel sprach zu ihr:
Hab keine Angst, Maria.
Du hast Gnade bei Gott gefunden.
Sieh, du wirst schwanger werden
und einen Sohn gebären.
Du sollst ihn Jesus nennen.
Der wird groß sein
und Sohn des Höchsten genannt werden.
Der Herr wird ihm den Thron seines Vaters David geben.
Er wird für alle Zeit über das Haus Israel herrschen;
seine Herrschaft wird kein Ende haben.
Maria aber sprach zu dem Engel:
Wie kann das sein?
Ich habe mit keinem Mann geschlafen.
Der Engel antwortete ihr:
Heiliger Geist wird auf dich kommen
und Kraft des Höchsten dich überschatten.
Darum wird auch das Heilige,
wenn es geboren ist,
Sohn Gottes genannt werden.
Uns sieh, Elisabet, deine Tante,
ist trotz ihres Alters schwanger mit einem Sohn.
Sie ist bereits im 6. Monat,
von der es hieß, sie sei unfruchtbar.
Denn für Gott ist nichts unmöglich.
Da sagte Maria:
Ich stelle mich Gott zur Verfügung.
Was du gesagt hast, soll mit mir geschehen.
Und der Engel verließ sie.(Eigene Übersetzung)
Liebe Schwestern und Brüder,
wer hätte gedacht, was ein schlichter Gruß bewirken kann?
Natürlich, wenn ein Engel zu Besuch kommt, mag man wohl erschrecken.
Aber Maria erschrickt nicht.
Als wäre der Umgang mit Engeln für sie etwas Alltägliches.
Oder vielleicht sieht der Engel gar nicht so sehr anders aus als die Männer, denen Maria so begegnet?
Es müssen wohl nicht immer Männer mit Flügeln sein, die Engel.
Maria erschrickt nicht, sie ist verwirrt.
Nicht, weil ein Engel sie besucht.
Das scheint, wie gesagt, nichts Besonderes für sie zu sein.
Sein Gruß irritiert sie.
Wenn etwas so gewöhnliches wie eine Begrüßung Maria verwirren kann,
muss es damit etwas auf sich haben.
Wir sollten uns also diesen „englischen Gruß“ einmal genauer ansehen.
I
„Ich grüße dich, Begnadete! Der Herr ist mir dir.“
Auf den ersten Blick hat der Gruß des Engels nichts Auffälliges.
„Grüß‘ dich!“, „Hallo!“, „Moin, moin“ oder „Guten Tag!“ sagt man, wenn man sich trifft.
So ist es üblich. So erwartet man es voneinander.
Wenn jemand nicht grüßte, das würde einen stutzig machen:
Hat der etwas gegen mich?
Habe ich ihm etwas getan?
Nach kurzer Überprüfung, ob der andere zurecht nicht grüßt,
würde die Verwirrung in Enttäuschung und Ärger umschlagen.
Wer den Gruß verweigert, tut so, als ob er einen nicht sieht.
Behandelt einen wie Luft.
Darum singt Maria in ihrem Lied, dem Magnificat:
„Er hat die Niedrigkeit seiner Magd angesehen“.
Damit sagt sie:
Gott hat mich angesehen,
obwohl ich aufgrund meiner gesellschaftlichen Stellung keinen Respekt genieße und oft übersehen werde.
Wir kennen das.
Leute am unteren Ende der sozialen Leiter übersieht man:
Das Küchenpersonal. Die Kellnerin. Die Putzfrau.
Müllmänner, Fensterputzer, Zusteller, Straßenkehrer.
Alle, die dafür sorgen, dass unser Alltag funktioniert, werden selten gesehen.
Erst, wenn der Kellner nicht kommt,
das Paket nicht abgeliefert,
der Schnee nicht geräumt wird,
fällt einem auf, dass etwas fehlt.
Die Reaktion darauf ist die selbe wie beim verweigerten Gruß:
Enttäuschung und Ärger.
Man nimmt es persönlich,
fühlt sich zurückgestellt, nicht respektiert.
Es gibt wenig, das einen mehr kränkt als verweigerter Respekt.
Maria aber scheint diesen Respekt nicht für sich zu erwarten.
Vielleicht, weil sie bis dahin nie respektvoll behandelt wurde?
Weil sie zu den Menschen gehört, die man einfach übersieht?
II
Was Maria nachdenklich gemacht haben könnte,
war also vielleicht die für sie unerwartete Aufmerksamkeit,
die ihr durch den Gruß des Engels zuteil wurde.
Jemand, den man übersieht,
der nicht viel gilt
oder nicht viel von sich hält,
wird gesehen.
Und auch noch vom Chef persönlich!
Wenn der Chef vorbeischaut, schwant einem nichts Gutes.
Da rechnet man mit dem Schlimmsten.
Warum sollte er wohl ausgerechnet zu mir kommen?
Was ist schief gelaufen?
Habe ich etwas falsch gemacht?
Marias Verwirrung ließe sich mit diesem mulmigen Gefühl erklären,
wenn der Chef vorbeischaut.
Aber Maria ist ja nicht Gottes Angestellte.
Sie hat keinen Auftrag von Gott erhalten,
den sie vermasselt haben könnte.
Noch nicht.
Das ist es also auch nicht.
Die Verwirrung rührt wohl von dem Wort her,
das auf den Gruß folgt: “Begnadete“.
So wird man nicht alle Tage genannt.
So wird man eigentlich nie genannt -
es sei denn, man sei Künstlerin oder Musikerin,
die mit ihrem begnadeten Talent andere in Staunen und Begeisterung versetzt.
Auch begnadete Köche mag es geben,
die für ihre Kreationen sogar einen Stern erhalten.
Aber begnadete Putzfrauen, Kellner, Müllmänner?
Fehlanzeige.
Der sprichwörtliche „kleine Mann“ gilt nicht als begnadet.
Unter anderem deshalb wird er „klein“ genannt.
Maria, die zu diesen „kleinen Leuten“ gehört,
hat auch nichts Besonderes zu bieten.
Erst die Frömmigkeit späterer Generationen hat ihr übermenschliche Fähigkeiten angedichtet;
die Mutter Gottes musste selbst gleichsam eine Göttin werden.
Hier aber ist sie eine normale junge Frau.
Obwohl - oder gerade weil - fromme Künstler sie später nach dem Schönheitsideal ihrer Zeit gezeichnet haben.
Auch darin wird sie nicht anders gewesen sein als ihre Altersgenossinnen.
Warum also nennt der Engel Gabriel sie „begnadet“?
III
„Gnade“ ist ein altertümliches Wort.
Wir verwenden es heute so gut wie nicht mehr.
Es stammt aus einer Zeit,
in der Menschen vom Wohlwollen ihrer Herren abhängig waren.
Dieses Wohlwollen nannte man „Gnade“,
weshalb die Herren mit „Euer Gnaden“ angeredet wurden.
Würde heute ein Chef Gnade für sich in Anspruch nehmen,
hätte er die Gewerkschaft auf dem Hals:
solch ein feudales Gehabe ließe sich kein Arbeitnehmer bieten.
Andererseits ist der Chef nun mal der Chef,
und es schadet sicher nichts,
wenn man ihm mit etwas Unterwürfigkeit begegnet.
Chefs mögen das.
Und außerdem, Gewerkschaft hin oder her,
schließlich ist man seinem Chef ausgeliefert.
Wenn man seinen Job behalten will, tut man besser, was er sagt.
Man ist also doch auf sein Wohlwollen, seine „Gnade“ angewiesen.
Um diese „Gnade“ kann es bei Maria also nicht gehen.
Sie ist nicht Chefin,
sondern Dienerin, wie sie selbst sagt.
Auf welche Weise ist Maria „begnadet“?
Noch weiß sie nicht, wozu der Engel zu ihr kam.
Ist es „Gnade“, dass ein Engel sie besucht?
Schließlich kommen die nicht zu jedem.
Ist es „Gnade“, dass Maria auserwählt wurde,
Gottes Sohn zur Welt zu bringen?
Ist diese Erwählung „Gnade“?
Aber ist es nicht ein bloßer Zufall, dass es Maria traf?
Wenn wir uns an das halten, was Lukas berichtet,
und die späteren Ausschmückungen und Legenden beiseite lassen,
war sie eine Frau wie jede andere.
Es hätte auch eine andere treffen können.
Wenn man ihre Erwählung „Gnade“ nennen will,
wäre es in etwa so wahrscheinlich und gerecht wie ein Lottogewinn.
Näher noch kommt dieser Art von Gnade die Auswahl der Bewerber für die Quiz- und Talentschows im Fernsehen, für „DSDS“, „Germanys next Topmodel“ oder „Wer wird Millionär“.
Ist das Gnade?
Soll man es Gnade nennen,
wenn man das Glück hatte, zu den Auserwählten zu gehören?
Ist es Gnade, dass wir hier geboren wurden und nicht in Syrien?
Ist es Gnade, wenn wir uns keine Sorgen um unsere Gesundheitsversorgung machen müssen?
Wenn wir nicht frieren,
uns nicht fragen müssen, woher wir und unsere Kinder etwas zu Essen bekommen?
Wenn wir nicht frieren,
uns nicht fragen müssen, woher wir und unsere Kinder etwas zu Essen bekommen?
Und was ist mit denen, denen es nicht so gut geht wie uns?
Sind die nicht erwählt?
Hat Gott sie vergessen, übersehen, wie man einen beim Grüßen übersieht?
Und warum ist er ausgerechnet uns gnädig, und ihnen nicht?
Hat er etwas gegen sie?
Haben sie womöglich Gottes Gnade nicht verdient?
Sind sie am Ende selbst schuld an ihrem Elend?
Und woher haben wir diese Gnade verdient?
Wenn man auf diesem Weg weiter denkt,
kommt man in Teufels Küche.
Man hat allen Grund, dankbar zu sein, wenn es einem gut geht.
Es ist richtig, Gott dafür zu danken,
denn es ist keine Selbstverständlichkeit, und es ist nicht unser Verdienst.
denn es ist keine Selbstverständlichkeit, und es ist nicht unser Verdienst.
Aber unser Wohlstand ist kein Zeichen dafür,
dass wir von Gott Begnadete sind,
wie das Leid der anderen kein Zeichen dafür ist,
dass sie bei Gott in Ungnade gefallen wären.
IV
Wir haben bereits so viele Bedeutungen von „Gnade“ kennen gelernt,
aber keine scheint auf Maria zu passen.
Warum ist Maria denn nun „begnadet“?
Den Schlüssel für die Antwort liefert der letzte Teil des Grußes:
„Der Herr ist mir dir“.
Der Grund dafür, warum Maria „begnadet“ ist, liegt darin,
dass Gott „mit ihr“ ist.
„Mit ihr“, das heißt, Gott ist auf ihrer Seite.
Gott steht hinter ihr, stärkt ihr den Rücken und beschützt sie.
„Mit ihr“ bedeutet auch, dass Gott ihr ganz nah ist.
So nah, wie es sonst nur die Liebste oder der Liebste ist.
Die Liebste muss nicht ständig in meiner Nähe sein,
um bei mir zu sein.
Ich trage sie in meinem Herzen.
In dieser Weise ist Gott mit Maria.
Aber wenn das die Art ist,
wie Maria „begnadet“ ist
- dann sind wir ja alle begnadet!
Denn Gott ist ja mit jeder und jedem von uns.
Seit unserer Taufe hat Gott sich so eng mit uns verbunden,
wie sonst nur die Menschen, die wir lieben.
Ja, ich glaube, so ist es:
Wir sind alle Begnadete, wie Maria.
Aber dürfen wir uns derart mit Maria vergleichen?
Schließlich ist sie die „Mutter Gottes“,
brachte sie Gottes Sohn zur Welt.
Maria ist die Mutter Jesu.
Dadurch ist sie für immer einzigartig und besonders.
Aber auch durch uns kommt Christus zur Welt.
Nicht als kleines Kind in einer Krippe wie bei Maria.
Sondern in unseren Worten und Taten.
Wenn wir, von Gottes Geist beseelt, Jesus nachfolgen,
scheint durch unsere Worten und Taten Jesus selbst hindurch.
„So lass mich doch dein Kripplein sein;
komm, komm und lege bei mir ein
dich und all deine Freuden“,
dichtet Paul Gerhardt (EG 37,9).
In uns kommt Christus zur Welt
in dem Sinne, dass durch uns die Welt sehen kann,
wer und wie Jesus ist.
Das ist die Gnade, die auch uns zuteil wurde.
Darum sind auch wir „Begnadete“.
V
Ein Gruß ist der Anfang.
Der Anfang einer Begegnung.
Bei jeder unserer Begegnungen leuchtet etwas von Christus auf.
Durch uns kommt er für andere zur Welt,
und durch andere kommt er für uns zur Welt.
Wir zeigen anderen durch unsere Worte und Taten,
wer und wie Jesus ist.
Und andere zeigen uns, wer und wie Jesus ist.
Darum brauchen wir die Gemeinde.
Sie ist der Leib Christi,
die Art, wie Christus unter uns zur Welt kommt,
jeden Sonntag und jeden Alltag,
bei jeder Begegnung zwischen denen,
die Jesus nachfolgen.
Schon in einem einfachen, alltäglichen Gruß,
einem Blick, einem Lächeln
sagen und zeigen wir einander, wer wir sind:
Begnadete, wie Maria.
Amen.