Freitag, 25. November 2016

Über Heimat

Predigt am 1. Advent, 27.11.2016, über Jeremia 23,5-8:

Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.
Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen. Und dies wird sein Name sein, mit dem man ihn nennen wird: „Der Herr unsere Gerechtigkeit“.
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Ländern, wohin ich sie verstoßen hatte.“ Und sie sollen in ihrem Lande wohnen.

Liebe Gemeinde,

„I'll be home for Christmas …“
So dudelt es wieder aus allen Lautsprechern.
So klingt es auch zuhause, wenn beim Backen,
beim Basteln oder sonstigen Weihnachtsvorbereitungen die CD mit der Weihnachtsmusik läuft:

„I'll be home for Christmas …“
„Weihnachten werde ich zuhause sein …“
Davon sang Bing Crosby 1943 und sprach damit vielen GIs, die fern der Heimat kämpften, aus dem Herzen:
„Weihnachten werde ich zuhause sein …“
1965 wünschte sich die Besatzung von Gemini 7 nach dem bis dahin längsten Aufenthalt von Menschen im All dieses Lied beim Rückflug zur Erde.

„I'll be home for Christmas …“
Diese Zeilen sprechen auch vielen Eltern aus den Herzen, die sich zu Weihnachten auf den Besuch ihrer Kinder freuen. Kinder, die von zuhause ausgezogen sind, die in einer anderen Stadt leben, studieren, arbeiten und nur selten einmal zuhause vorbei schauen.
Schon jetzt beginnt die Vorfreude darauf, dass an Weihnachten die Familie wieder zusammen ist wie früher, vielleicht sogar besser als früher: bereichert um Schwieger- und Enkelkinder.

Und auch die inzwischen erwachsenen Kinder freuen sich auf den Weihnachtsbesuch im Elternhaus.
Auf die von Kindheit an gepflegten Bräuche und Rituale, auf Mutters leckeres Essen, aufs Erzählen und Spielen. Empfinden Wehmut, wenn sie ihr altes Kinderzimmer wieder betreten.

Vielleicht haben sie auch ein bisschen Sorge vor dem, was seit Kindertagen ebenfalls zu Weihnachten gehört: Meinungsverschiedenheiten und Streit, Klagen über Krankheiten und Einsamkeit.

„I'll be home for Christmas …“
Wer dieses Gefühl kennt oder versteht, der wird auch den heutigen Predigttext des Propheten Jeremia verstehen. Die Hoffnung, die darin zum Ausdruck kommt:
Darum siehe, es wird die Zeit kommen, spricht der Herr, dass man nicht mehr sagen wird: „So wahr der Herr lebt, der die Israeliten aus Ägyptenland geführt hat!“, sondern: „So wahr der Herr lebt, der die Nachkommen des Hauses Israel herausgeführt und hergebracht hat aus dem Lande des Nordens und aus allen Ländern, wohin ich sie verstoßen hatte“.
I
Das erste Weihnachtsfest wurde erst ungefähr 600 Jahre nach den Worten Jeremias gefeiert.
Aber Heimkommen, nach Hause kommen, dieser für uns heute mit dem Weihnachtsfest verbundene Wunsch, beseelte damals, im 6. Jahrhundert vor Christus, auch die aus Israel Vertriebenen.

Heimkommen, nach Hause kommen, dieser Wunsch beseelt Menschen bis heute.
Und das nicht nur an Weihnachten.
Unter uns leben Menschen, die ihre Heimat verloren.
Sie wurden vertrieben, sie sind geflohen. Eine Folge des Krieges vor 70 Jahren.
Und ebenso eine Folge der aktuellen Kriege in Syrien, im Irak, in Afghanistan.
Aus vielerlei Ländern flohen Menschen vor Bürgerkrieg, Verfolgung, Armut oder ungerechter Behandlung zu uns.

Viele von ihnen tragen noch immer am Schmerz der Vertreibung, an der Sehnsucht nach der Heimat, dem Elternhaus, das es vielleicht schon längst nicht mehr gibt.
Obwohl sie hier eine neue Heimat, ein neues Zuhause haben, träumen sie manchmal davon, zurückzukehren.
Sie können es aber nicht, oder wagen es nicht.

Auch für die Israeliten damals, vor zweieinhalbtausend Jahren, war die Rückkehr in ihre Heimat nur ein Traum.
Manche sind später zurückgekehrt.
Der zerstörte Tempel wurde wieder aufgebaut.
Aber als die Römer im Jahr 70 auch den Zweiten Tempel zerstörten, verschwand Israel für fast zweitausend Jahre von der Landkarte.
Israel lebte weiter in den Geschichten der Bibel, in den Herzen der über die ganze Welt verstreuten Menschen jüdischen Glaubens.
Israel lebte weiter, bis zur Gründung des Staates Israel, die den im Exil lebenden Juden die Möglichkeit gab, in die Heimat ihrer Vorväter zurückzukehren.

Seit zwei Jahrtausenden wünscht man sich beim Passahfest: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“,
was bedeuten soll: Nächstes Jahr feiern wir Passah in Jerusalem.
Es war ein frommer Wunsch. Niemand hielt für möglich, dass er sich erfüllen würde.
Die meisten wollten auch gar nicht mehr fort aus dem Exil, das nun ihre Heimat geworden war.
Sie mussten.
Sie wurden vertrieben, verfolgt, gedemütigt, ermordet,
weil sie anders lebten, anders glaubten als die Mehrheit.
Israel, das Land der biblischen Vorväter,
war ihre einzige Rettung.

II
Die Rückkehr in die Heimat ist für viele Menschen eine große Sehnsucht, ein Traum, der meist unerfüllt bleibt.
Was aber ist "Heimat" überhaupt?

Diejenigen, die im Zweiten Weltkrieg flohen oder vertrieben wurden, erkennen ihre Heimat heute nicht mehr wieder. In den 70 Jahre, die seither vergangen sind, hat sich alles verändert. Das Elternhaus steht nicht mehr. Manche Ortschaft gibt es nicht mehr. Vor allem lebt niemand mehr
von den alten Nachbarn, Freunden, Verwandten. Der Krieg, die Zeit haben alles ausgelöscht.
So erging und so ergeht es allen Flüchtlingen und Vertriebenen.

Heimat - das ist deshalb vielleicht gar nicht so sehr der Ort, aus dem man stammt, das Elternhaus, das Grundstück, geliebter Baum und vertrauter Weg, dort die Kirche, da die Schule ...

Heimat, das ist doch vielmehr der Ort, wo man willkommen ist.
Wo man sein darf, wie man ist, wo man wohnen darf und leben gelassen wird,
wo man die Bräuche der Väter pflegen, dem Glauben der Mütter anhängen darf.
Wo die Kinder nicht von anderen Kindern "Spaghettifresser" oder "Kanake" geschimpft werden.
Wo man nicht wegen seiner Hautfarbe, seiner Herkunft, seines Dialekts, seines Glaubens, seiner Lebensgewohnheiten gemieden oder verspottet wird.

Heimat ist der Ort, zu dem man „mein“ sagen kann: „mein Zuhause“, und niemand widerspricht. Und erklärt, man müsse erst hier geboren sein, oder Eltern, Großeltern gar, müssten hier geboren sein, damit man diesen Ort „mein Zuhause“ nennen darf.

III
Es geht um mehr als Häuser und Grundstücke, es geht um mehr als einen konkreten Ort in der Welt. Es geht um Recht und Gerechtigkeit. Um Hilfe, und um ein Leben ohne Angst:
„Siehe, es kommt die Zeit, spricht der Herr, dass ich dem David einen gerechten Spross erwecken will. Der soll ein König sein, der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird. Zu seiner Zeit soll Juda geholfen werden und Israel sicher wohnen.“
Damals, vor zweieinhalbtausend Jahren, ging es nur darum, dass Juda geholfen wird und Israel sicher wohnen kann. Auch heute noch geht es um nichts anderes als darum, dass allen Menschen geholfen wird, weil alle die gleichen Rechte besitzen. Dass keine Unterschiede gemacht werden aufgrund der Hautfarbe, der Herkunft, der Religion.
Auch heute noch geht es um nichts anderes als darum, dass im Umgang miteinander Gerechtigkeit herrscht und keiner sich durch Beziehungen Vorteile verschafft, weil er jemanden kennt, der jemanden kennt ...
Auch heute noch sollte es selbstverständlich sein, dass Menschen, die Hilfe brauchen, Hilfe bekommen.
Auch heute wollen wir keine Angst um unsere Kinder haben müssen.

Damals wie heute wünscht man sich einen gerechten Herrscher, eine gerechte Regierung, die für all das Sorge trägt. Damals wie heute wird man enttäuscht, dass es so etwas wie eine gerechte Regierung nicht gibt. Es bleibt die Sehnsucht nach dem „gerechten Spross aus Davids Stamm“; nach dem Erlöser, der das Krumme gerade macht, und das Hohe niedrig; der die Letzten auch einmal Erste sein lässt, und die, die immer Erste waren, müssen sich einmal ganz hinten anstellen …

IV
Dieser Erlöser ist gekommen. Aber er kam ganz anders, als man dachte. Er ritt auf einem Esel.
Das war im Prinzip in Ordnung; so hatte die Bibel die Ankunft des „gerechten Sprosses aus Davids Stamm“ ausgemalt.
Er kam nach Jerusalem - nächstes Jahr in Jerusalem! Auch das entsprach den Weissagungen der Bibel.
Aber was dann in Jerusalem geschah, was Jesus da erlebte und erlitt, waren nicht Recht und Gerechtigkeit, Hilfe und Sicherheit, sondern das genaue Gegenteil.

Jesus verlor in Jerusalem sein Leben. Er gab es freiwillig her, opferte sich, damit wir niemanden mehr opfern müssen.
Er ließ sich schmähen und verspotten, damit wir nicht mehr übereinander herziehen, nicht mehr hinter dem Rücken des anderen reden und uns mit Schimpfworten betiteln müssen wie „Kanake“ oder „Volksverräter“.
Jesus lebte als Heimatloser und hat, obwohl er manchmal „Nazarener“ genannt wurde, nie irgendeinen Nationalstolz entwickelt. Auch wir können die Finger vom Chauvinismus lassen; können darauf verzichten, irgendeine Herkunft für besser zu halten als eine andere.
Jesus erduldete ungerechte Behandlung, damit wir einander mit Respekt begegnen, fair und freundlich miteinander umgehen können.

V
Jesus zog in Jerusalem ein in Erfüllung der alten Weissagungen, dass eine Zeit kommen wird,
in der man sich nicht mehr das nimmt, von dem man meint, dass es einem zusteht;
in der man anderen nichts mehr wegnimmt, von dem man meint, dass es ihnen nicht zusteht.
Eine Zeit, in der man nach Gerechtigkeit strebt und Gerechtigkeit für alle Menschen sucht.

Die Zeit ist da.

Obwohl Jesus scheinbar scheiterte, wurde er unsere Gerechtigkeit. Er hat uns gerecht gemacht, unseren guten Ruf wiederhergestellt. In ihm sind wir die, die wir immer sein sollten, egal, was andere von uns sagen oder über uns denken.

Er gab uns Heimat. In diesem, seinem Haus sind wir zuhause. Hier sind wir sicher. Hier dürfen wir sein. Hier werden wir nicht nur widerwillig geduldet in der Hoffnung, dass wir bald wieder verschwinden. Hier werden wir willkommen geheißen, hier werden wir sehnsüchtig erwartet und gebeten, zu bleiben.

„I'll be home for Christmas …“
In dieser Kirche kommen an Weihnachten alle wieder zusammen.
Nicht nur an Weihnachten hören wir von der Verheißung eines Königs, „der wohl regieren und Recht und Gerechtigkeit im Lande üben wird.“
Versuchen wir, an diesen außergewöhnlichen König zu glauben und unseren Glauben auch zu leben.

Amen.