Freitag, 14. April 2017

Hilf dir selbst!

Predigt am Karfreitag, 14. April 2017, über Lukas 23,33-49

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn ein Mensch stirbt,
verstummt nicht nur der Sterbende.
Auch man selbst wird sprachlos.
Was soll man auch sagen?
Der Tod bemächtigt sich dieses Menschen.
Man kann nichts dagegen tun,
muss tatenlos zusehen, wie es geschieht.
Proteste nützen nichts gegen den Tod.
Und Mut machen kann man auch nicht mehr,
wo man selbst alle Hoffnung verloren hat.

Dabei wäre noch so viel zu sagen,
auch, wenn der Sterbende es vielleicht nicht mehr hört.
Wie lieb man ihn hat, z.B.
Das man nicht weiß, wie es ohne ihn weitergeht.
An welche schönen Momente mit ihm man sich erinnert.

Aber in der Zeit des Abschiednehmens fällt einem das meist nicht ein; man verstummt.
Es fällt einem auch deshalb nicht ein,
weil das Abschiednehmen ambivalent ist,
zu deutsch: mehrdeutig.
Da sind Gefühle der Trauer, der Verzweiflung, der Ohnmacht;
liebevolle Gefühle und Dankbarkeit dem Sterbenden gegenüber.

Aber dazwischen mischen sich auch -
und das mag man sich gar nicht eingestehen -
Gefühle der Erleichterung, auch Zorn und Wut.
Erleichterung stellt sich besonders nach einer langen und belastenden Phase der Krankheit ein,
wenn man selbst immer wieder an seine Grenzen kam,
todmüde ist und einfach froh,
dass diese Belastung jetzt vorbei ist.
Erleichterung stellt sich auch ein,
wenn das Verhältnis zum Sterbenden ambivalent war,
wenn man auch viel von ihm erleiden und erdulden musste.
Wut und Zorn empfindet man,
weil man zurückbleibt und sich alleingelassen fühlt.
Dafür kann der Sterbende nichts,
aber trotzdem ist es so.
Man bleibt zurück mit seinem Schmerz.
Mit all den Sorgen und Problemen,
die dieser Tod hinterlässt.
Auch mit den Alltagspflichten, dem Papierkram,
die bisher der Sterbende übernommen hatte,
und ist damit überfordert.

Auch das Sterben Jesu hat diese Ambivalenz,
diese Mehrdeutigkeit.
Bei seinem Sterben am Kreuz
sind die ambivalenten Gefühle auf verschiedene Personen verteilt.
Wir erleben sie mit, weil sein Sterben öffentlich ist.
Es findet nicht in der Intimität und Abgeschiedenheit eines Zimmers statt,
das Neugierige und Schadenfrohe ausschließt,
sondern unter freiem Himmel.
Jesus ist am Kreuz preisgegeben und zur Schau gestellt,
und sein Sterben ist es auch.
Alle Verzweiflung und Angst,
jede Attacke des Schmerzes, jede Qual
ist gnadenlos an seinem Gesicht ablesbar.

Auch beim Sterben Jesu verstummen alle,
die ihm in Liebe oder Freundschaft verbunden sind.
Sie sind da, nehmen von fern Anteil an seinem Leid,
aber sie finden keine Worte.
Anders seine Gegner.
Sie haben viel zu sagen.
Jeder verpasst ihm sozusagen noch einen Tritt
durch eine Kränkung, eine Beleidigung,
die er ihm hinterherruft.
Bemerkenswert ist, dass es dreimal der selbe Satz ist.
Obere, Soldaten und auch einer der mit ihm gekreuzigten Verbrecher provozieren Jesus auf dieselbe Weise.
Sie rufen: „Hilf dir selbst!“

Ein geschmackloser Scherz gegenüber einem,
der an Händen und Füßen festgenagelt ist
und sich nicht einmal jucken kann.
Als würde man einem Blinden sagen:
„Pass doch auf, wo du hintrittst!“
Kann sein, dass jemand meinte,
dass ein so geschmackloser Scherz gut zur Situation der Kreuzigung passt.
Der Satz war schon beim ersten Mal nicht komisch;
ihn dreimal hören zu müssen, geht wirklich zu weit.
Es sei denn, es hätte eine besondere Bewandtnis mit diesem Satz.

„Hilf dir selbst!“ - für die, die wissen, wer Jesus wirklich ist,
steht außer Frage, dass er es könnte.
So sagt Jesus selbst im Johannesevangelium:
„Mein Reich ist nicht von dieser Welt.
Wäre mein Reich von dieser Welt,
meine Diener würden darum kämpfen,
dass ich den Juden nicht überantwortet würde“
(Johannes 18,36).

Jesus könnte sich retten.
Er könnte sich Leid und Tod ersparen.
Aber er tut es nicht.
Warum?

Eine Antwort könnte lauten:
Weil er es nicht kann.
Dann wäre Jesus ein Aufschneider, ein Hochstapler,
der zwar einen so grausamen Tod nicht verdient hätte,
wohl aber den Spott seiner Gegner.

Aber die andere Antwort ist verstörend:
Weil er es nicht will.
Kann man sich das vorstellen?
Kann man sich vorstellen,
dass jemand freiwillig gräßliche, unerträgliche Schmerzen auf sich nimmt,
das Ausgespanntsein zwischen Himmel und Erde,
preisgegeben der Willkür, den Blicken, dem Spott?
Kein Mensch würde das freiwillig tun!

Kein Mensch nimmt freiwillig Schmerzen auf sich.
Wenn etwas weh tut, geht man zum Arzt
oder nimmt eine Tablette.
Niemand käme auf die Idee, die Schmerzen auszuhalten.
Man würde jedem einen Vogel zeigen,
der das von einem verlangte.

Und ebenso:
Wenn einen jemand schlägt,
schlägt man zurück, wenn man kann.
Wenn einen jemand kränkt oder beleidigt,
zahlt man es ihm beim Gelegenheit heim.
Wenn einen jemand bestiehlt,
zeigt man ihn an.
Man lässt sich nichts gefallen.

Jesus hilft sich nicht selbst,
und er tut es absichtlich.
Er könnte sich helfen, aber er will es nicht.
Denn er weiß:
Er kann den Teufelskreis der Vergeltung,
das „Auge um Auge, Zahn um Zahn“,
nur durchbrechen, indem er auf Gegenwehr verzichtet.
Das war für seine Zeitgenossen unbegreiflich.
Es ist auch für uns noch unbegreiflich,
dass jemand so mit sich umgehen lässt
und sich nicht dagegen wehrt.
Jesus musste bis zum bitteren Ende durchhalten,
sich nicht zu wehren,
damit das schreiende Unrecht deutlich wird,
dass hier ein ganz und gar Unschuldiger,
dass hier die Liebe selbst getötet wird;
bis zur Sprachlosigkeit,
bis zum scheinbaren Sieg des Todes.

Dann, und erst dann, wird die Liebe,
wird Jesus seine tatsächliche Macht erweisen.
Die Liebe wird sich als mächtiger erweisen als der Tod.
Sie wird sich erheben über Schmerzen,
Leid, Gemeinheit, Ungerechtigkeit und Bosheit.
Nicht in der Geste des Triumphators,
der seine Feinde zerschmettert,
zerbombt, in den Staub tritt.
Sondern in der liebevollen Geste einer Mutter,
die ihrem Kind vorsichtig Schmutz und Blut
vom aufgeschlagenen Knie wischt.
Es tröstet, obwohl es gerade gemein war,
obwohl es der Mutter böse Worte gesagt
oder etwas sehr Leichtsinniges oder Dummes getan hat.

Jesus, die Liebe, geht den bitteren Weg am Kreuz bis ganz zuende
- und ist am Ende stärker als Kreuz und Leid.
Nun müssen wir angesichts des Todes nicht mehr verstummen.
Nun müssen wir nicht mehr schweigen zu Unrecht und Ungerechtigkeit.
zu Bosheit und Gemeinheit,
zu Lieblosigkeit und Unmenschlichkeit.
Nun wissen wir es besser:
Wir wissen, dass die Liebe das Unrecht nicht duldet.
Die Liebe duldet es nicht,
dass Menschen leiden müssen,
ungerecht oder lieblos behandelt werden.
Dann spannt sie ihre Muskeln,
dann erweist sie ihre ganze Macht und Stärke.

Jesus hält bis zum bitteren Ende durch,
sich nicht selbst zu helfen.
Darum sind wir in Ohnmacht und Hilflosigkeit niemals allein.
Darum können wir sogar aushalten,
das Sterben anderer mit anzusehen,
weil wir wissen, dass der Tod keine Macht mehr hat,
weil unsere Liebe stärker ist.
Darum müssen wir nicht zurückschlagen,
wenn man uns schlägt,
nicht vergelten, wenn man uns beleidigt.

„Hilf dir selbst!“
Jesus hat sich nicht geholfen,
damit er uns helfen und beistehen kann.
Selig ist, wer das versteht.
Amen.