Samstag, 14. April 2018

All animals are equal …


Predigt am Sonntag Miserikordias Domini, 15. April 2018, über 1.Petrus 5,1-4:

Die Ältesten unter euch ermahne ich,
der Mitälteste und Zeuge der Leiden Christi,
der ich auch teilhabe an der Herrlichkeit, die offenbart werden soll:
Weidet die Herde Gottes, die euch anbefohlen ist;
achtet auf sie, nicht gezwungen, sondern freiwillig, wie es Gott gefällt;
nicht um schändlichen Gewinns willen, sondern von Herzensgrund;
nicht als Herren über die Gemeinde, sondern als Vorbilder der Herde.
So werdet ihr, wenn erscheinen wird der Erzhirte,
die unvergängliche Krone der Herrlichkeit empfangen.


Liebe Schwestern und Brüder,
oder sollte ich sagen:
meine lieben Schäflein?

schön, wenn man mal nicht gemeint ist!
Wie oft wird man in Predigttexten erwähnt und aufgefordert,
etwas zu tun oder zu lassen.
Als Christ*in wird man in einer Predigt ständig angesprochen und herausgefordert.
Da macht auch der heutige Predigttext keine Ausnahme.
Aber er richtet sich ausdrücklich nicht an die ganze Gemeinde,
sondern nur an die "Ältesten", die Presbyter.
Damit sind nicht, wie man jetzt denken würde, die Kirchenältesten gemeint.
Die "Presbyter" wurden im Laufe der Kirchengeschichte zu den "Priestern".
Angesprochen sind die Pfarrerinnen und Pfarrer,
die Hirtinnen und Hirten der Gemeinde -
in diesem Falle also: ich.
Sie könnten sich theoretisch entspannt zurücklehnen,
während ich mir die Worte des Predigttextes sagen lassen
und sie vor allem beherzigen muss.


I. Bei genauerem Hinsehen - d.h., wenn man sich das griechische Original anschaut -
entdeckt man nicht nur die Priester in diesem kurzen Text.
Auch andere kirchliche Ämter finden sich da erwähnt.
Dort, wo es im Deutschen heißt: "Achtet auf die Herde Gottes,
die euch anbefohlen ist", steht im Griechischen 'episkopeo',
und in diesem Wort steckt der Episkopus, der Bischof.
Dann ist da noch die Rede vom Erz- oder Oberhirten -
da ist es nur noch ein kleiner Schritt zum Erzbischof.

Die Kirche hat eine ganze Reihe von Ämtern hervorgebracht
und eine Hierarchie von Hirten.
Auch die Bischöfe sind ja Hirten:
der Bischofsstab ist dem Hirtenstab abgeschaut.
Jede Gemeinde hat - zumindest theoretisch - ihre Pfarrer*in, ihre Hirt*in,
und die hat eine Oberhirt*in, die Superintendent*in,
und die wiederum eine Ober-oberhirt*in über sich, die Bischöf*in.
In der katholischen Kirche gibt es dann noch die Kardinäle und den Papst,
die Ober-ober-oberhirten,
die man nicht mit dem Erzhirten des Predigttextes verwechseln darf,
denn das ist ja Jesus.

Braucht es so viele Hirt*innen, um eine Gemeinde zu leiten?
Braucht eine Gemeinde überhaupt eine Hirt*in?

Eine Schafherde kann offenbar nicht ohne Hirt*in sein.
Auch Jesus erzählt in seinen Gleichnissen vom Guten Hirten,
der 99 Schafe zurücklässt, um das verlorene Schaf zu suchen.
Schafe können sich verlaufen.
Sie müssen auf die Weide geführt und vor Räubern beschützt werden.


II. Als Schaf hat man es gut.
Ein Hirte sorgt dafür, dass man zu fressen hat.
Er kümmert sich, wenn ein Schaf krank wird und hält die Herde zusammen.
Er schlichtet, wenn es unter den Schafen Streit gibt
und sorgt dafür, dass jedes hat, was es zum Leben braucht.

Wer von uns hat es nicht gern, versorgt zu werden?
Morgens einen Kaffee ans Bett zu bekommen,
die Wäsche gewaschen und gebügelt bereitgelegt zu finden,
während das Frühstück schon auf einen wartet?
So lässt es sich leben.

Über die Jahrhunderte waren Frauen als Hausfrauen
die guten Hirtinnen ihrer Familien,
die in dieser Weise für ihren Ehemann und ihre Kinder sorgten.
Die Ehefrauen waren die Hirtinnen ihrer Familie,
aber der Mann war der Oberhirte.
Er war nicht so sehr Versorger, wie die Frau,
sondern ein Bestimmer, der sagte, wo's langgeht.
Erst Mitte des letzten Jahrhunderts begann sich dieses Rollenverteilung grundsätzlich zu ändern,
aber verschwunden ist sie längst noch nicht.
In Gegenteil: Immer wieder gibt es vor allem Männer,
die behaupten, diese Aufteilung sei gottgewollt
und so müsse es eben sein und überall wieder werden.

Es gibt also zwei Arten von Hirten,
oder zwei unterschiedliche Weisen, Hirte zu sein:
Die eine ist das tätige Kümmern um die Bedürfnisse der Herde,
das stets in Arbeit ausartet:
Schafe müssen im Auge behalten, zur Weide geführt, gesucht, gefunden,
aus Dornen befreit, geschoren, geimpft und behandelt werden, wenn sie krank sind.

Die andere Weise, Hirte zu sein, hat etwas vom Befehlshaber.
Der Befehlshaber bestimmt, wo es langgeht, was zu tun ist.
Da braucht es Ausführende wie z.B. die Hütehunde,
um die Befehle des Hirten umzusetzen.
Der Befehlshaber fasst meist nicht mit an.
Er gibt ja die Befehle und hat damit mehr als genug zu tun.


III. Das Bild vom Hirten, der die Herde behütet, ist ein schönes Bild.
In vielen Kirchen findet man Christus als guten Hirten dargestellt,
der das verlorene Schaf auf den Schultern trägt.
Die ersten Christ*innen, die sich in den Katakomben trafen,
stellten Jesus nicht als Gekreuzigten dar,
sondern als jungen Mann mit einem Schaf auf den Schultern:
als guten Hirten.
Frühchristliche Darstellung des Guten Hirten aus der Katakombe von Domitilla/Domatilla
(Krypta von Lucina, 200-300 n. Chr.)
Quelle: https://de.wikipedia.org/wiki/Verlorenes_Schaf#/media/File:Good_Shepherd_04.jpg
Das Bild vom Hirten bekommt einen ersten Kratzer,
wenn man sich die beiden Weisen, Hirte zu sein, vergegenwärtigt.
Ein Hirte, der sich kümmert,
der tatkräftig die Bedürfnisse der Herde stillt, ist uns recht.
Einen Hirten, der nur Befehle gibt, kann man nicht brauchen,
weil man sich letztlich doch wieder selbst um alles kümmern muss.
Es muss schon ein "guter" Hirte sein,
einer, der sich nicht zu schade ist, mit anzupacken
und notfalls sogar bereit ist, sein Leben zu opfern für die Schafe.

Man darf das schöne Bild vom Hirten nur nicht zu genau ansehen.
Wenn man das nämlich tut, kann einem ganz schön mulmig werden.
Denn ein Hirte hütet die Herde ja nicht zum Vergnügen der Schafe,
aus lauter Spaß an der Freud, aus reiner Tierliebe,
sondern weil er etwas mit den Schafen vorhat.
Und das ist nichts Gutes - für die Schafe jedenfalls nicht.

Hirten und Schafe sind auch nicht gleich,
sondern sitzen sozusagen an verschiedenen Seiten des Tisches.
Die Hirten sitzen vor den Tellern, und die Schafe liegen drauf.
Schafe werden geschoren und --- geschlachtet.
Unter diesen Umständen möchte man lieber nicht auf Seiten der Schafe sein!


IV. Wo zwei oder drei zusammenkommen, entsteht eine Herde.
Eine solche Herde sucht sich bald einen Hirten.
Wer gestern noch ein ganz normales Schäfchen war,
wird auf einmal zum Oberschaf,
das plötzlich auf zwei Beinen geht,
mit einem Schäferhund an der Leine.

Am Anfang sind noch alle gleich.
Mit einem Mal sind einige gleicher als die anderen,
bestimmen, wo es langgeht und wer was zu tun hat.
Und manchmal, da geht es einer aus der Herde an die Wolle,
manchmal landet einer im Topf - im wörtlichen oder übertragenen Sinne.

Aber wenn es sich so verhält -
wenn immer wieder einige Schafe,
sobald sie zu Oberschafen geworden sind,
den Wolf in sich entdecken -
warum suchen wir uns dann immer wieder Hirten?

Ich fürchte, unsere Bequemlichkeit ist schuld.
Es ist so viel einfacher, sich bedienen zu lassen,
als selbst zu dienen.
Es ist so viel leichter, einem Führer zu folgen,
als selbst über den richtigen Weg nachzudenken.

Schafe, die bereit wären, zu dienen und zu denken,
bräuchten keinen Hirten.
Den Schafen wurde eingeredet, dass sie nicht ohne Hirten sein können,
weil man ihnen an die Wolle wollte.
Aber Schafe, wenn sie zusammenhalten,
können ganz gut für sich selbst sorgen
und es notfalls sogar mit einem Wolf aufnehmen.


V. Die ersten Christinnen und Christen kannten keine Hierarchien.
Jesus sagte:
Wer der Erste unter euch sein will,
soll euer aller Diener sein.
Diesen Satz haben die Mächtigen später persifliert.
Friedrich der Große, der "alte Fritz",
nannte sich den "ersten Diener seines Staates".
Die Wölfe lernten, Kreide zu fressen
und sich die Pfoten weiß anzumalen.

Was der Predigttext über den Hirtendienst sagt
- dass er freiwillig geschehen soll,
unentgeltlich und durch vorbildliches Verhalten
statt durch Befehl und Gehorsam -,
das gilt nicht nur für die, die Hirten sind.
Wenn alle Schäflein das beherzigen würden,
bräuchte es keine Hirten mehr.
Besser gesagt: Alle Schafe wären zugleich auch Hirten.
Die Schafe würden sich gegenseitig hüten.
So nennt sich der Verfasser des 1.Petrusbriefes "Mitältester"
und ausdrücklich nicht "Oberältester".
Da bekommt man den Verdacht,
es könnten vielleicht doch nicht nur die Presbyter, die Priester, angeredet sein,
sondern alle in der Gemeinde,
die alt genug sind, Verantwortung zu übernehmen und zu tragen.

Eigentlich braucht es keinen Hirten.
Denn wir haben ja einen Hirten.
Einen guten Hirten, der sein Leben für uns gab,
Den einzigen Hirten, der sein Hirtenamt niemals missbraucht hat.
Mit Jesus als Hirten kommt eine Gemeinde gut zurecht.
Die Schafe müssen nur seinem Vorbild folgen
und für ihre Mitschafe Verantwortung übernehmen.

Kain fragt scheinheilig:
"Soll ich meines Bruders Hüter sein?",
nachdem er seinen Bruder Abel erschlagen hat.
Aber natürlich lautet die Antwort: Ja!
Ja, wir sind Hüter*innen unserer Schwestern und Brüder.
Wir sind alle Hirt*innen.
Und wir sind zugleich die Schäflein des einen guten Hirten Jesus Christus.
Amen.