Samstag, 21. April 2018

unterscheiden

Predigt am Sonntag Jubilate, 22. April 2018, über 2.Korinther 4,16-18:

Darum werden wir nicht müde, sondern,
wenn auch unser äußerer Mensch zugrunde geht,
wird unser innerer doch täglich erneuert.
Denn die leichte Last unserer gegenwärtigen Probleme
wirkt für uns eine übermäßige Fülle ewiger Herrlichkeit,
die wir nicht achten auf das Sichtbare,
sondern auf das, was man nicht sehen kann.
Denn das Sichtbare ist vergänglich,
was man aber nicht sehen kann, ist ewig.


Liebe Schwestern und Brüder,

glauben heißt: zu unterscheiden
zwischen außen und innen,
Bedrängnis und Weite,
sichtbar und unsichtbar,
vergänglich und ewig.

I. Es sind besondere Unterschiede, um die es hier geht.
Keine, die man messen, wiegen oder zählen kann.

Es sind sogar Unterscheidungen,
die wir eigentlich gar nicht treffen können.
Wie sollte man zwischen äußerem und innerem Menschen unterscheiden,
wir können doch nicht in uns hineinsehen.
Allenfalls kann man in sich hineinhorchen
oder spüren, wie man sich fühlt -
aber beides will gelernt und geübt sein,
und dann ist man sich trotzdem nicht immer sicher über seine Gefühle.

Wie soll man Belastungen unterscheiden?
Ein kleines Kind wird eine Wasserflasche als schwer empfinden,
während seine Mutter einen ganzen Wasserkasten schleppt.
Trotzdem ist die Flasche für das Kind schwer,
und sie wird es wieder für einen alten Menschen sein.
Kopfschmerzen können für die eine unerträglich sein;
eine andere hält sie aus.
Man kann nicht wissen, ob beide die selben Schmerzen haben,
ob die Kopfschmerzen unterschiedlich stark sind,
oder ob beide Schmerzen unterschiedlich empfinden.

Vom Unsichtbaren können wir gar nichts wissen,
denn es entzieht sich unserer Beobachtung,
ebenso wie das Ewige.
Wir sagen zwar, die Berge seien "ewig".
Aber wir wissen, dass auch sie entstehen und vergehen -
nur so langsam, dass sie sich in unserer
vergleichsweise kurzen Lebensspanne
so gut wie gar nicht verändern.

Woher weiß Paulus dann von unserem "inneren Menschen"?
Wie kann Paulus behaupten, dass unsere Probleme leicht sind,
wenn er sie doch gar nicht kennt?
Und wie kann Paulus vom Unsichtbaren sprechen,
wenn man es doch nun einmal nicht sehen kann?


II. Am Anfang ist das Wort.
Damit etwas unterschieden werden kann,
muss es benannt und bewertet werden.

Ein Säugling nimmt bereits Unterschiede wahr:
hell-dunkel, warm-kalt, bei Mama-allein, satt-hungrig,
aber er kann sie nicht benennen.
Aber bewerten kann er sie schon:
durch Lächeln oder durch Tränen zeigt er,
was ihm gefällt und was nicht.
Bevor wir unterscheiden können, können wir bewerten:
wir wissen, was für uns gut ist und was nicht.

Es gibt in uns eine Instanz, das "Ich",
das genau weiß, was es braucht und was es will,
wovor es Angst hat und wovon es träumt.
Das ist der "innere Mensch", von dem Paulus spricht.
Aber sobald wir als Kinder lernen, dazu "Ich" zu sagen,
begegnen wir anderen Ichs, die uns sagen,
was wir brauchen, was wir wollen sollen;
die uns sagen, dass wir keine Angst zu haben brauchen,
obwohl wir spüren, wie die Angst uns lähmt,
und die wissen, was wir wünschen,
bevor wir uns das überhaupt selbst fragen konnten.

Da wird man unsicher und weiß nicht mehr:
bin das ich oder ist es ein*e andere?
Am Ende misstraut man dem eigenen Ich
und hört auf die anderen, die einem sagen,
was man tun und wollen und fühlen soll.


III. Andere befinden auch darüber,
wie schwer unsere Probleme sind:
"Das ist doch ganz leicht!", wird dem Kind gesagt,
das die Aufgabe nicht lösen kann.
Damit wird die Aufgabe nicht lösbarer,
aber das Kind weiß nun,
dass es offenbar dümmer ist als andere.

"Das wird schon wieder", wird der Teenagerin gesagt,
die zum ersten Mal von einem Freund verlassen wurde.
Und natürlich wird es wieder, weiß der Erwachsene,
der schon viele Trennungen hinter sich hat.
Aber woher soll es die Teenagerin wissen,
und warum sollte sie dem Erwachsenen glauben,
wenn der Schmerz doch so groß ist.

"Das ist doch noch gar nichts!
Da sollten Sie mal meine Wunde sehen",
sagte der Patient im Krankenhausbett nebenan,
und man schämt sich fast,
dass man auch Scherzen hat und Angst.

Paulus ist da keine Ausnahme,
wenn er von der leichten Last unserer gegenwärtigen Probleme spricht.
Aber er redet auch wie ein Bergführer,
der schon etliche Male auf dem Gipfel war und weiß:
von hier sind es nur noch wenige Meter,
auch wenn der Anstieg mörderisch steil ist.

Es hängt also davon ab,
ob wir Paulus vertrauen;
ob wir glauben, dass er Ahnung hat
und weiß, wovon er spricht.

Aber woher sollte Paulus etwas von "ewiger Herrlichkeit" wissen,
er ist - oder besser gesagt: war - doch ein Mensch wie wir!

Woher weiß Paulus etwas von dem,
wovon man eigentlich nichts wissen kann?
Paulus war ein Pharisäer, heute würde man sagen:
Er war bibelfest.
Paulus hatte es aus der Schrift.
Die Schrift des ersten oder, wie wir sagen, Alten Testaments,
die Bibel des Paulus, die Bibel Jesu und der ersten Christen
erzählt von den Unterschieden zwischen außen und innen,
zwischen Bedrängtsein und Weite,
sichtbar und unsichtbar,
vergänglich und ewig.

Die Schrift ist kein wissenschaftlicher Untersuchungsbericht,
kein Protokoll oder Tatsachenbericht,
denen unser kritischer Geist Vertrauen schenken könnte.
Es sind Geschichten, aus denen die Schrift besteht.
Es sind keine Geschichten wie die, die sich jemand ausdenkt.
Diesen Geschichten haben Menschen sei mehreren tausend Jahren vertraut.
Nicht ihr Alter macht sie vertrauenswürdig,
sondern dass sie sich bewährt haben.

Wir können von Gott nichts wissen.
Das liegt in der Natur der Sache:
Würden wir Gott erkennen,
wäre das, was wir da zu erkennen meinen, nicht Gott.
Wir "haben" Gott nur in Geschichten,
und Geschichten sind Worte.
Worte, die benennen, dass es Gott gibt. Ewigkeit.
Eine unsichtbare Welt,
die wirklicher ist als die Wirklichkeit, die uns umgibt.
Es sind Worte, die den Unterschied machen.


IV. Aber wenn es bloß Worte sind,
wo ist der Beweis, dass sie wahr sind,
dass man ihnen vertrauen kann?

Es wird Sie vielleicht überraschen zu hören,
dass man diesen Worten nicht glauben muss.
Jedenfalls nicht glauben in dem Sinne des für-wahr-Haltens.
Sie brauchen kein einziges Wort der Bibel zu glauben
und können trotzdem ein gläubiger Mensch sein.
Sie glauben ja auch nicht an die Zahlen
und können trotzdem mit ihnen rechnen -
und bekommen sogar ein Ergebnis,
möglicherweise sogar ein richtiges,
wenn Sie richtig gerechnet haben.

Wie an Zahlen und Rechenoperationen
muss man auch an die Worte der Bibel nicht glauben,
wenn man sie anwenden will.
Die Worte der Bibel wendet man an,
wenn man mit ihnen Unterscheidungen trifft.
Unterscheidungen, die uns helfen, etwas zu verstehen,
wodurch unser Leben etwas leichter,
etwas erträglicher werden kann:

Der Beobachtung, dass unser äußerer Mensch verfällt,
dass wir krank werden und alt werden,
setzt Paulus den inneren Menschen entgegen,
auf den es eigentlich ankommt.
Der innere Mensch ist frei,
auch wenn der äußere ans Bett oder den Rollstuhl gefesselt
oder dem Diktat der Mode unterworfen ist.
Der innere Mensch kann jeden Tag neu werden,
jeden Tag anders entscheiden und handeln.

Der Erfahrung, dass wir mit Problemen zu kämpfen haben,
setzt Paulus die Aussicht auf eine Freiheit und Weite entgegen,
sozusagen ein Gipfelerlebnis.
Die gewaltige, wunderbare Aussicht lässt die Probleme schrumpfen,
und auf einmal erscheinen sie als eine Mühe, die sich lohnt,
des Gipfels wegen.

Und der leidvollen Erfahrung,
dass alles um uns vergeht,
dass nichts bleibt, wie es war
und dass wir Menschen gehen lassen müssen, die wir lieben,
setzt Paulus das Unsichtbare entgegen,
das die eigentliche Wirklichkeit ist.
Über unseren inneren Menschen, über unser Ich,
sind wir mit dieser Wirklichkeit verbunden
und haben Anteil daran.


V. Glauben bedeutet, zu unterscheiden,
und Unterscheiden bedeutet,
die Unterscheidungen, die die Bibel vornimmt, anzuwenden.
Man muss nicht daran glauben,
denn Glaube heißt nicht, dass man etwas für wahr halten muss.
Glaube ist eine Methode wie das Multiplizieren.
Dass wir mit dem Glauben "richtig" gerechnet haben,
merken wir daran,
dass wir vertrauen können;
dass wir Hoffnung haben für uns und für die Welt;
dass wir unseren Mitmenschen mit Freundlichkeit und Respekt begegnen können.

Glauben ist ganz leicht.
Man muss es nur üben.
Amen.