Samstag, 5. Mai 2018

too many secrets?


aus: Sneakers
 Predigt am Sonntag Rogate, 6. Mai 2018, über Kolosser 4,2-6:

Seid beharrlich im Gebet und wacht in ihm mit Danksagung!
Betet zugleich auch für uns, dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue
und wir das Geheimnis Christi sagen können,
um dessentwillen ich auch in Fesseln bin,
damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.
Verhaltet euch weise gegenüber denen, die draußen sind,
und kauft die Zeit aus.
Eure Rede sei allezeit freundlich und mit Salz gewürzt,
dass ihr wisst, wie ihr einem jedem antworten sollt.


Liebe Schwestern und Brüder,

einmal haben wir unseren Klassenlehrer so gelöchert,
dass er fast verzweifelt wäre:
wir wollten unbedingt wissen, wie die Klassenarbeit ausgefallen war.
Er aber wollte die Arbeit erst in der nächsten Woche zurückgeben
und vorher nichts über die Noten verraten.
Wir nervten ihn immer weiter, baten, fragten, bettelten,
bis er uns schließlich mit verschwörerischer Miene fragte:
„Könnt ihr ein Geheimnis für euch behalten?“
Wir nickten. Natürlich konnten wir das.
Da antwortete unser Lehrer:
„Ich auch!“


I. Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?
Was für eine Frage! Klar können Sie!
Davon lebt das Vertrauen,
das die Grundlage jeder Freundschaft und jeder Beziehung ist:
Andere können sich darauf verlassen,
dass ich ihr Geheimnis für mich behalte
und es nicht weitererzähle.

Doch wenn Geheimnisse verraten werden,
wird Vertrauen zerstört und Misstrauen gesät.
Die Stasi versuchte mit allen Mitteln,
an die Geheimnisse der Bürgerinnen und Bürger zu kommen.
Sie öffnete private Briefe, belauschte Telefonate, verwanzte Wohnungen.
Das Perfideste aber war, dass sie Freunde, Nachbarn, Kollegen dazu überredete
oder dazu zwang, Geheimnisse zu verraten, die ihnen anvertraut worden waren,
oder sich einzuschleichen, um an diese Geheimnisse zu kommen.

Wenn es keine Geheimnisse mehr gibt,
wenn man keinem Menschen mehr trauen kann,
wird man krank.
Viele Machthaber träumen davon,
völlige Kontrolle über ihre Untertanen zu besitzen,
indem sie alles über sie in Erfahrung bringen,
jedes noch so kleine Geheimnis lüften -
„big Brother is watching you“.
Leider träumen auch manche Eltern davon,
manche Partnerinnen oder Partner.

Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse,
und ich behaupte, sie machen das Leben erst lebenswert:
die Wahl zu haben, ob und wem man etwas von sich anvertraut - und wem nicht.

Ein Geheimnis zu besitzen, von dem andere nichts wissen,
vielleicht nicht einmal die, die einem am nächsten stehen:
das schenkt einem Freiheit.

Es macht einen Menschen überhaupt erst interessant,
dass man nicht alles von ihr oder ihm weiß,
dass es bei ihr oder ihm noch vieles zu entdecken gibt
und manches, das man niemals erfahren wird
- oder vielleicht doch, in einem ganz besonderen Moment,
über den aber niemand anderes entscheidet als dieser Mensch allein.


II. Jeder Mensch hat ein Recht auf Geheimnisse.
Auch in der Bibel wimmelt es davon.
Geheimnisse stehen an ihrem Anfang -
Adam und Eva essen heimlich vom Baum der Erkenntnis
und versuchen, diese Tatsache vor Gott zu verbergen.
Kain versucht, den Mord an seinem Bruder zu vertuschen.
Simson verrät nicht, was die Quelle seiner ungeheuren Kraft ist.

Auch Jesus hat Geheimnisse:
Dass er der Messias, der Christus, ist,
dürfen seine Jünger niemandem verraten.
Seine Gleichnisse sind Geschichten,
die nur die Eingeweihten verstehen.
Und bei vielen Heilungen verlangt er von den Geheilten,
dass sie niemandem sagen, wer sie gesund gemacht hat
(sie tun es natürlich trotzdem).

Am interessantesten ist in dieser Hinsicht aber die Auferstehung:
Die Frauen, die das offene Grab finden
und den Engel darin treffen, der ihnen die Osterbotschaft bringt,
sind so erschrocken, dass sie niemandem etwas sagen,
wie es im Evangelium heißt.
Trotzdem macht die Nachricht schnell die Runde -
wenn das nicht so gewesen wäre, wären wir jetzt nicht hier.

Es gibt viele Stellen in den Evangelien
wie die Heilungsgeschichten oder die Auferstehungsberichte,
in denen etwas, das geheim bleiben soll,
erst recht ausgeplaudert und verbreitet wird.

Aber im Gegensatz zu jemandem,
der eines unserer Geheimnisse verraten würde,
ist auf die Verräter in den Evangelien niemand böse - im Gegenteil:
Es scheint, als sollte das Geheimnis verraten werden;
als wäre es nur deshalb mit dem Siegel der Verschwiegenheit versehen worden,
um so erst recht ausgeplaudert zu werden.


III. Der Predigttext geht noch einen Schritt weiter.
Hier heißt es:
„Betet zugleich auch für uns,
dass Gott uns eine Tür für das Wort auftue
und wir das Geheimnis Christi sagen können,
damit ich es offenbar mache, wie ich es sagen muss.“

Paulus, von dem hier die Rede ist,
plaudert das Geheimnis Christi aus!
Und nicht nur das: Er bittet die Gemeinde,
für ihn zu beten, damit er es tut!
Er macht die Gemeinde zu Komplizen seines Geheimnisverrates!
Und das ganz offen, ohne jede Geheimniskrämerei.

Was aber ist eigentlich dieses Geheimnis Christi?
Es ist, kurz gesagt, das Wissen darum,
dass Jesus für uns gestorben ist,
mit seinem Tod unsere Schuld auf sich genommen
und uns mit seiner Auferstehung ein neues Leben geschenkt hat.

Aber das ist doch kein Geheimnis!
Das weiß doch jedes Kind,
das in den Kindergottesdienst oder in die Christenlehre geht!
Und das darf, nein, das soll jede und jeder wissen:
„Geht hin und macht zu Jüngern alle Völker“,
sagt Jesus am Ende des Matthäusevangeliums.
Er gibt uns den Auftrag, allen davon zu erzählen,
die diese Botschaft hören wollen.

Aber genau da liegt der Hund begraben:
Es kann zwar jede das Geheimnis Christi erfahren -
es soll sogar jede erfahren -
aber die wenigsten interessieren sich dafür
oder hören überhaupt zu.
Und unter denen, die zuhören,
schütteln viele den Kopf und sagen,
dass das doch alles nicht stimmen könne
und nicht glaubhaft sei.

Das Wort vom Geheimnis Christi findet keine Tür,
findet keinen Einlass und erreicht die Menschen nicht,
für die es bestimmt ist.
Und so geht es uns ja auch oft mit Worten der Bibel:
Man hört sie, aber sie rauschen an einem vorbei.
Die Tür ist nicht offen, die Worte erreichen einen nicht.


IV. Offenbar kann man das nicht machen.
Offenbar hilft eine interessante Predigt,
eine freundliche oder mit Salz gewürzte Rede nicht,
dass dem Wort eine Tür geöffnet wird:
dass es die Zuhörerin erreicht.

Dass eine Botschaft, eine Rede, eine Predigt die Zuhörer erreicht,
kann man nicht „machen“, schon gar nicht erzwingen.
Jede Mutter, jeder Vater kann ein Lied davon singen.
Aber auch jede, die einmal ein wichtiges Anliegen jemandem mitteilen wollte,
der nicht zum Zuhören bereit war.

Damit jemanden eine Botschaft erreicht,
muss er innerlich dazu bereit sein.
Man kann natürlich etwas hundertmal sagen,
hundertmal abschreiben lassen.
Aber dass es ankommt, darüber entscheidet die Hörerin allein.

Deshalb verfällt Paulus auf das Gebet.
Nicht, weil er so verzweifelt ist,
dass er darin die letzte Chance sieht, nach dem Motto:
wenn nichts mehr hilft, hilft vielleicht noch beten.
Sondern weil das Gebet tatsächlich die Art und Weise ist,
wie man die innerliche Bereitschaft zum Zuhören erlangt.

Beten, wie Paulus es meint, bedeutet nicht, viele Worte zu machen.
Es ist vielmehr eine besondere Art der Konzentration:
Man konzentriert sich auf das Wort Gottes
und öffnet ihm so eine Tür,
durch die es einen erreichen und berühren kann.

Wenn in einem Gottesdienst aus der Bibel vorgelesen
oder über einen Text der Bibel gepredigt wird,
dann arbeiten nicht nur die Lektorin, die liest,
oder die Pfarrerin, die predigt.
Die ganze Gemeinde arbeitet,
indem sie darum betet, dass sich dem Wort eine Tür öffnet.

Das Hören der Lesung oder der Predigt ist genauso wichtig
- und auch genauso anstrengend -
wie das Lesen und Predigen selbst.
Und ohne das konzentrierte, betende Zuhören der Gemeinde
können Lesung oder Predigt nichts und niemanden erreichen.
Darum macht Paulus die Gemeinde zu Komplizen seines Geheimnisverrates:
Ohne sie geht es nicht.
Ohne die Gemeinde kann das Geheimnis Christi nicht weitergesagt werden.
Es bleibt im Geheimnis verborgen.


V. Können Sie ein Geheimnis für sich behalten?
Es gibt Geheimnisse, die müssen wir für uns behalten,
auch wenn wir darauf brennen, sie weiterzuerzählen.
Es gibt Geheimnisse, die sind unglaublich wertvoll,
weil sie uns jemand anvertraut hat, der uns vertraut,
oder weil sie uns die Freiheit schenken, die wir zum Leben brauchen.

Und es gibt Geheimnisse, die wollen und müssen verbreitet werden.
Aber nicht, indem man sie auf Facebook veröffentlicht,
in den Schaukasten hängt oder auf sein T-Shirt druckt.
Sondern indem man betet.

Das Geheimnis Christi verbreitet sich nicht durch Reklame,
coole Sprüche oder raffinierte Formulierungen,
sondern durchs Beten.
Das ist nicht nur Sache der offiziellen kirchlichen Mitarbeiterinnen.
Jede und jeder ist daran beteiligt.
Jede und jeder trägt dazu bei,
dem Wort eine Tür aufzutun
durch Schweigen und Hören: durchs Gebet.

Amen.