Predigt am 1.Sonntag nach Trinitatis, 2.6.2018, über Jeremia 23,16-29:
So spricht der Herr Zebaoth:
Hört nicht auf die Worte der Propheten, die euch weissagen!
Sie betrügen euch, sie verkünden euch Gesichte aus ihrem Herzen
und nicht aus dem Mund des Herrn.
Sie sagen denen, die des Herrn Wort verachten:
Es wird euch wohlgehen –,
und allen, die im Starrsinn ihres Herzens wandeln, sagen sie:
Es wird kein Unheil über euch kommen.
Aber wer hat im Rat des Herrn gestanden,
dass er sein Wort gesehen und gehört hätte?
Wer hat sein Wort vernommen und gehört?
Siehe, es wird ein Wetter des Herrn kommen voll Grimm
und ein schreckliches Ungewitter auf den Kopf der Gottlosen niedergehen.
Und des Herrn Zorn wird nicht ablassen,
bis er tue und ausrichte, was er im Sinn hat;
zur letzten Zeit werdet ihr es klar erkennen.
Ich sandte die Propheten nicht, und doch laufen sie;
ich redete nicht zu ihnen, und doch weissagen sie.
Denn wenn sie in meinem Rat gestanden hätten,
so hätten sie meine Worte meinem Volk gepredigt,
um es von seinem bösen Wandel und von seinem bösen Tun zu bekehren.
Bin ich nur ein Gott, der nahe ist, spricht der Herr,
und nicht auch ein Gott, der ferne ist?
Meinst du, dass sich jemand so heimlich verbergen könne,
dass ich ihn nicht sehe?, spricht der Herr.
Bin ich es nicht, der Himmel und Erde erfüllt?, spricht der Herr.
Ich höre es wohl, was die Propheten reden,
die Lüge weissagen in meinem Namen und sprechen:
Mir hat geträumt, mir hat geträumt.
Wann wollen doch die Propheten aufhören,
die Lüge weissagen und ihres Herzens Trug weissagen
und wollen, dass mein Volk meinen Namen vergesse über ihren Träumen,
die einer dem andern erzählt,
so wie ihre Väter meinen Namen vergaßen über dem Baal?
Ein Prophet, der Träume hat, der erzähle Träume;
wer aber mein Wort hat, der predige mein Wort recht.
Wie reimen sich Stroh und Weizen zusammen?, spricht der Herr.
Ist mein Wort nicht wie ein Feuer, spricht der Herr,
und wie ein Hammer, der Felsen zerschmeißt?
Liebe Schwestern und Brüder,
heute muss ich mal über mich sprechen.
Nicht von mir persönlich - ich werde Ihnen keine Schwänke aus meinem Leben erzählen.
Heute muss ich über mich als Prediger sprechen - bzw. über das, was ich tue.
Denn die Worte, die wir eben hörten, die gelten den Predigenden:
allen denen, die es wagen, von Gott und im Namen Gottes zu sprechen.
Und damit gelten Sie auch Ihnen:
Denen, die diese Worte hören und beurteilen müssen.
Es ist ja nicht damit getan, dass Sie der Predigt zuhören,
dass Sie für sich etwas „mitnehmen“
oder Ihre Gedanken während der Predigt auf eine Reise schicken -
es kann Sie ja niemand zwingen, zuzuhören.
Aber wenn wir ernst nehmen, was wir hier gemeinsam tun, wenn wir Gottesdienst feiern,
dann müssen wir an einem Strang ziehen, wenn sich Gottes Wort unter uns ereignen soll:
Ich, indem ich versuche und wage, es zu sagen;
Sie, indem Sie meine Worte an den Worten der Bibel messen und überprüfen.
I. Warum muss das so kompliziert sein?
Sie unterstellen mir ja nicht, dass ich Ihnen einen Bären aufbinde,
dass ich Ihnen etwas Falsches über Gott erzähle, nicht die Wahrheit sage.
Sondern Sie unterstellen mir wahrscheinlich die besten Absichten.
Dann könnte man es doch dabei bewenden lassen, dass ich rede
und Sie mir glauben, was ich Ihnen sage;
das wäre für alle das Bequemste und Einfachste.
Sie lehnen sich quasi zurück
und picken sich die Rosinen aus dem Kuchen, den ich Ihnen serviere,
Sie nehmen sich ein Stück Teig, ein Stück von der Glasur
oder die Kirsche, die oben auf der Glasur sitzt.
Aber ich bin kein Zuckerbäcker, und dies ist keine Konditorei.
Wir sind vielmehr versammelt in der Gegenwart Gottes,
und unser Sprechen, unser Singen vollzieht sich in seiner Gegenwart.
Gott hört mit.
Das tut er sonst auch.
Er kann ja sogar unsere Gedanken lesen und weiß,
was uns selbst nicht bewusst ist, was wir verdrängen oder verschweigen.
Aber da können wir so tun, als wüssten wir es nicht,
als hätten wir nur mal so vor uns hingedacht,
oder als wäre es nicht so gemeint.
Im Gottesdienst sprechen wir ganz offen und ganz bewusst mit Gott.
Da meinen wir, was wir sagen -
auch wenn manches, wie das Glaubensbekenntnis oder das Vaterunser,
fast schon automatisch über unsere Lippen kommt;
wenn man beim Sprechen der Psalmen, beim Singen der Lieder
so beschäftigt ist mit Sprechen und Singen,
dass man gar nicht auf den Inhalt achtet.
Das Sprechen über Gott ist wie das Sprechen über einen Menschen:
Wenn er oder sie nicht dabei ist, geht es locker von der Zunge.
Da weiß man manches zu erzählen und zu sagen - Tratschen nennt man das.
Aber wenn der oder die, über die man redet, dabei ist und zuhört,
wird man einsilbig und wortkarg.
Gott hört mit.
Und offenbar gefällt ihm nicht alles,
was man so über ihn und in seinem Namen spricht.
Gott ist sogar richtig wütend über seine Propheten,
weil sie Dinge sagen, die sie sich selbst ausgedacht haben;
weil sie Nettigkeiten verkünden
und den Menschen, zu denen sie predigen, die Wahrheit vorenthalten.
II. Aber - um die Propheten zu verteidigen - wer will die Wahrheit denn hören?
Sie ist bitter, die Wahrheit, sie ist nicht nett und nicht angenehm -
jedenfalls nicht immer.
In der Republik Südafrika wurden nach dem Ende der Apartheid
sogenannte „Wahrheitskommissionen“ eingesetzt.
Man hatte beschlossen, nicht pauschal alle Weißen zu verurteilen,
die das System der Apartheid aufgebaut und unterhalten hatten.
Dafür sollten die Opfer Gelegenheit erhalten,
von ihrem Leiden unter der Apartheid zu berichten:
von all den Gemeinheiten, der Deklassierung,
dem Verlust der Würde, der ungleichen Behandlung.
Und die Täter sollten Ihnen zuhören müssen, sich ihrer Schuld bewusst werden;
sollten hören, was sie Menschen antaten, die für sie Menschen zweiter Klasse waren, kurz:
Sie sollten sich der Wahrheit stellen.
Mit den „68ern“, an die zur Zeit erinnert wird
und die manche für alles verantwortlich machen,
was ihnen an der heutigen Gesellschaft nicht gefällt,
begann mehr als 20 Jahre nach dem Ende des NS-Regimes
ein Wahrnehmen all der heute unvorstellbaren Verbrechen.
Und damit auch ein Benennen der Verstrickung jeder und jedes Einzelnen
in ein menschenverachtendes Regime,
in dem Mitmenschen wie Tiere behandelt wurden
und das Beleidigen, Verletzen, Misshandeln
und schließlich sogar Töten ganzer Gruppen der Bevölkerung
zu einer Art „Volkssport“ und „Volksbelustigung“ wurde.
Diese von den 68ern angestoßene Aufarbeitung ist noch lange nicht abgeschlossen.
An uns, den Enkelinnen und Enkeln der Täter wie der Opfer,
bewahrheitet sich ein anderes Wort des Propheten Jeremia:
„Die Väter haben saure Trauben gegessen,
und den Kindern sind die Zähne davon stumpf geworden“ (Jer 31,29f).
Wenn wir uns der Wahrheit unserer Geschichte nicht stellen,
werden unsere Kinder und Enkel noch darunter zu leiden haben.
Vor inzwischen fast 30 Jahren endete die DDR.
Das Unrecht, das dieses Regime verübt hat
und an dem sich wieder Unzählige als freiwillige
oder unfreiwillige Helfer und Mitläufer beteilgten,
wartet noch darauf, angesehen, benannt und als Unrecht bekannt zu werden.
Das sind Wahrheiten, die auch in der Kirche niemand hören möchte.
Man hofft, wenn man sich auf die „richtige“ Seite stellte,
wenn man den Mantel des Vergessens über das alles breitete,
würde sich die Geschichte von selbst erledigen.
Man meint, die peinliche Vergangenheit „aussitzen“ zu können.
Aber auch diese Wahrheit holt uns ein,
und wenn wir uns ihr nicht stellen,
werden es unsere Kinder und Enkel tun müssen.
III. Die Wahrheit, um die es hier geht, ist die von Scham und Schuld.
Scham und Schuld ziehen sich quer durch unsere Gemeinde.
Der eine weiß etwas von früheren Verstrickungen,
was der andere nicht ans Licht kommen lassen möchte;
die eine leidet noch heute unter dem, was die andere ihr damals angetan hat.
Heute lebt man nebeneinander her mit dieser Wahrheit,
trifft sich auf der Straße oder im Laden,
oder sitzt auf der Kirmes oder im Gottesdienst nebeneinander.
Die Wahrheit steht wie eine unsichtbare Wand zwischen Tätern und Opfern.
Sie ist von keinem zu sehen, außer von diesen beiden,
aber für diese beiden ist sie unüberwindbarer als die ehemalige Berliner Mauer.
Wer weiß, wie viele solcher Wände hier heute zwischen uns stehen.
Man kann sie nur einreißen, wenn man sich der Wahrheit stellt,
sich zu seiner Scham, seiner Schuld bekennt.
Aber keine Sorge: Ich werde solche Warheiten nicht von der Kanzel sprechen.
Selbst, wenn ich sie wüsste - und gerade, wenn ich sie weiß -
muss ich sie für mich behalten.
Aussprechen können und dürfen sie nur die, die sie betreffen.
Und doch haben sie etwas mit der Predigt zu tun.
Denn Gottes Wort bewirkt, dass man die Wahrheit erkennt.
Es setzt ja mit den Geboten die Maßstäbe,
an denen sich unser Handeln messen lassen muss.
An den Geboten zeigt sich, ob wir menschlich gehandelt haben,
oder ob unser Tun Menschen verachtet hat.
Es gibt uns auch den Mut und die Kraft,
uns der Wahrheit zu stellen.
Denn wahr ist es ja auch, dass wir Gottes Kinder sind,
von Gott gewollt und ins Leben gerufen,
von Gott so sehr geliebt, dass er alles dafür gab,
damit wir uns der Wahrheit stellen und mit unserer Schuld leben können.
IV. Gottes Wort ist wie Feuer:
Es verbrennt die bunten Kostüme,
mit denen wir verdecken und verbrämen,
was uns belastet und beschämt;
es verbrennt auch den Verband über den Wunden,
die uns geschlagen wurden,
sodass wir sie uns ansehen müssen.
Gottes Wort ist wie ein Hammer,
der die Ausreden und die Lebenslügen zerschlägt,
mit denen man sich sein Leben und seine Taten schön redet,
sodass man am Ende vor einem Scherbenhaufen steht.
Wenn Gottes Wort nur so wäre, wer könnte es aushalten?
Wer kann der Wahrheit ungeschminkt ins Auge sehen?
Deshalb kommt das Wort Gottes in menschlicher Gestalt zu uns:
In meinen Worten, in denen ich es wage und versuche,
von Gott zu sprechen.
Und deshalb kann Gottes Wort sich nicht ohne Ihre Mitarbeit ereignen:
indem Sie in meinen Worten das Wort Gottes suchen und finden.
Weil ich auch nur ein Mensch bin,
weil ich mich irren kann, irren werde und irren muss,
darum müssen Sie kritisch und sorgfältig prüfen, was ich sage,
müssen es vergleichen mit den Worten,
die der Maßstab aller unserer Worte über Gott sind:
Mit den Worten der Bibel.
Gottes Wort kommt in menschlicher Gestalt zu uns.
Bevor ich oder irgendjemand anderes es wagte, von Gott zu sprechen,
war Christus, das eine Wort Gottes, da.
War vor allem Anfang da.
Wurde Mensch und lebte unter uns.
Nahm alle Lügen, alle Feigheit, alle Gemeinheit auf sich
und trug sie ans Kreuz,
damit wir nicht mehr lügen, nicht mehr feige und gemein sein müssen
und damit wir uns und anderen die kleinen und großen Lebenslügen vergeben können.
Jesus Christus hat als Gottes Wort mitten unter uns gelebt.
Dieses Wort brannte wie Feuer in den Jüngern von Emmaus (Lukas 24,32),
brannte als Flamme über den Jüngern zu Pfingsten (Apg 2,3)
und ist doch nichts anderes als ein großes und unbedingtes Ja
zu jeder und jedem Einzelnen von uns.
V. Gemeinsam feiern wir Gottesdienst.
Gemeinsam versuchen wir, dem Wort Gottes unter uns Raum zu geben.
Wir können es nicht „machen“.
Dass und wenn es geschieht, ist immer wieder ein Wunder.
Aber es wird geschehen,
weil wir alle zusammen der Leib Christi sind: die Gemeinde,
in der das Wort, das Mensch wurde, mitten unter uns ist.
Gebe Gott, dass es uns berührt und ergreift!
Amen.