Mittwoch, 6. Juni 2018

The Artist is present

Predigt am 2. Sonntag nach Trinitatis, 10. Juni 2018, über 1.Korinther 14,1-3.20-25:
Strebt nach der Liebe!
Bemüht euch um die Gaben des Geistes,
am meisten aber um die Gabe der prophetischen Rede!
Denn wer in Zungen redet,
der redet nicht für Menschen, sondern für Gott;
denn niemand versteht ihn,
vielmehr redet er im Geist von Geheimnissen.
Wer aber prophetisch redet,
der redet den Menschen zur Erbauung und zur Ermahnung und zur Tröstung.
Liebe Geschwister, seid nicht Kinder, wenn es ums Verstehen geht,
sondern seid Kinder, wenn es um Böses geht;
im Verstehen aber seid vollkommen.
Im Gesetz steht geschrieben:
„Ich will in anderen Zungen
und mit anderen Lippen reden zu diesem Volk,
und sie werden mich auch so nicht hören,
spricht der Herr“ (Jesaja 28,11f).
Darum ist die Zungenrede ein Zeichen
nicht für die Gläubigen, sondern für die Ungläubigen;
die prophetische Rede aber ein Zeichen
nicht für die Ungläubigen, sondern für die Gläubigen.
Wenn nun die ganze Gemeinde an einem Ort zusammenkäme
und alle redeten in Zungen,
es kämen aber Unkundige oder Ungläubige herein,
würden sie nicht sagen, ihr seid von Sinnen?
Wenn sie aber alle prophetisch redeten
und es käme ein Ungläubiger oder Unkundiger herein,
der würde von allen geprüft
und von allen überführt;
was in seinem Herzen verborgen ist, würde offenbar,
und so würde er niederfallen auf sein Angesicht, Gott anbeten
und bekennen: Gott ist wahrhaftig unter euch.


Liebe Schwestern und Brüder,

die Zungenrede, die Paulus hier so kritisch behandelt,
hat sich nicht durchgesetzt - ob diese Worte des Paulus daran schuld waren?
Ich habe jedenfalls noch nie jemanden „in Zungen“ reden hören,
weder im Gottesdienst noch außerhalb.
Auch mich selbst hat es nie überkommen, „in Zungen“ zu reden.

Trotzdem möchte ich behaupten,
dass es so etwas wie das Reden „in Zungen“ bis heute gibt.
Und ich möchte mit Ihnen überlegen,
warum die Zungenrede ein Zeichen für die Ungläubigen ist.


I. Zunächst einmal: Was ist das überhaupt, die „Zungenrede“?
Offenbar gab es in den ersten christlichen Gemeinden Menschen,
die während des Gottesdienstes laut vor sich hin sprachen,
vielleicht sogar riefen oder schrien.
Nur, was sie da sprachen, riefen oder schrien, konnte niemand verstehen.
Es war eine Art Sprache, aber auch wieder nicht.
Vielleicht hat es geklungen wie Kurt Schwitters’ „Ursonate“:
Fümms bö wö tää zää Uu,
                                         pögiff,
                                                     kwii Ee.
Oooooooooooooooooooooooo,
dll rrrrr beeeee bö
dll rrrrr beeeee bö fümms bö,
     rrrrr beeeee bö fümms bö wö,
              beeeee bö fümms bö wö tää,
                          bö fümms bö wö tää zää,
                               fümms bö wö tää zää Uu:
Diejenigen, die in den ersten christlichen Gemeinden so redeten,
machten das nicht aus Spaß,
um die Mitchristen zu ärgern oder den Gottesdienst zu stören.
Sie fühlten sich erfüllt vom Heiligen Geist,
er drängte aus ihnen heraus,
sie wollten, sie mussten es sagen -
aber was man hörte, waren nur unartikulierte Laute,
die niemand verstand - vielleicht nicht einmal sie selbst.

Bevor wir darüber den Kopf schütteln,
erinnern wir uns an Situationen,
wo es einem im Wortsinne die Sprache verschlägt.
Wo man auch nur einen unverständlichen Laut hervorbringt,
weil einem die Worte fehlen -
vom Schmerzensschrei „Aua!“ über das „Huch!“, wenn man überrascht ist,
bis hin zum lustvollen Stöhnen.

Dass wir, wenn überhaupt, nur selten solche Laute machen,
liegt daran, dass es verpönt ist,
unverständlich vor sich hin zu brabbeln
oder in der Öffentlichkeit unanständige Geräusche von sich zu geben.
Wenn man es doch tut, erntet man Kopfschütteln,
bekommt einen Vogel gezeigt oder wird sogar für verrückt erklärt.
Worte, Handlungen, die man nicht versteht, die nicht „normal“ sind,
hält man normalerweise für verrückt.

Wer in den ersten christlichen Gemeinden „in Zungen“ redete,
wurde nicht für verrückt gehalten - im Gegenteil:
die oder der wurde bewundert und vielleicht sogar beneidet,
weil die Zungenrede ein Zeichen für den Heiligen Geist war,
den diese Menschen in einem ganz besonderen Maß besitzen musste,
wenn er so aus ihnen herausdrängte.

Wenn man das Phänomen der Zungenrede ernst nehmen
und nicht als Verrücktheit abtun will,
dann hilft zum Verständnis vielleicht der Begriff der „Performance“.
Eine „Performance“ ist eine Kunstaktion:
Eine Künstlerin arbeitet dabei mit dem eignen Körper,
bezieht die Dinge oder Menschen im Raum mit ein.
Bei einer Performance kommt es nicht auf das Ergebnis an,
sondern auf den Vorgang selbst.
Man kann nichts davon „mitnehmen“, es gibt nichts, was bleibt -
außer den Eindrücken und den Erfahrungen, die man hatte.
Die Performance ist eine Kunstform.

Aber das ist doch keine Kunst!, sagen manche.
Wenn sich z.B. jemand in einem Museum an einen Tisch setzt,
mit einem freien Stuhl gegenüber,
auf dem eine Zuschauerin Platz nehmen kann,
und nichts anderes tut, als die Zuschauerin anzusehen,
ohne sich zu bewegen, ohne ein Wort zu sagen,
ohne das Gesicht zu verziehen -
was soll daran Kunst sein?
Trotzdem waren die Teilnehmer an der Performance
The Artist is present“ - „Die Künstlerin ist anwesend“
der Künstlerin Marina Abramovic,
die sie im Museum of Modern Art in New York durchführte,
tief bewegt und überwältigt.
Manche weinten sogar.


II. Das ist doch keine Kunst!
Dieses Urteil hört man oft über abstrakte oder moderne Kunst,
meist gepaart mit der Bemerkung: „Das könnte ich auch, das kann doch jeder!“
Solchem Kunstverständnis liegt die Vorstellung zugrunde,
Kunst sei etwas, was nur sehr wenige Begabte können:
Aus einem Marmorblock eine Figur herausschlagen,
die wie ein echter Mensch wirkt.
Auf eine Leinwand mit Ölfarben eine Schale mit Obst,
eine Blumenvase und ein Glas so genau abmalen,
dass man meint, sie berühren zu können:
Das ist Kunst.

Ähnliche Urteile hört man über die Musik.
Was schön klingt und harmonisch, das ist Musik.
Sobald es fremdartig oder gar befremdlich wird, ist es „Katzenmusik“.
Bei der Musik liegt die Latte inzwischen allerdings höher als bei der Kunst:
Unsere Großeltern haben Jazz und Rock'n Roll noch geschmäht -
das würde heute niemand mehr tun.
Aber manche Musik hat es heute trotzdem noch schwer,
ernst genommen zu werden und Hörerinnen zu finden.

Was man nicht auf Anhieb erkennen kann, was man nicht versteht, ist keine Kunst.
Wenn etwas nicht harmonisch klingt,
oder wenn man sich beim Hören anstrengen muss, ist es keine Musik.
So haben sich zu Bachs Zeiten die Arnstädter über Bachs Orgelspiel aufgeregt:
Er spiele viel zu viele überflüssige Noten
und würde der Orgel fremdartige Klänge entlocken.
Im Grunde findet sich diese Einstellung schon bei Paulus’ Kritik der Zungenrede:
Weil man sie nicht versteht, ist sie keine „richtige“ Rede.
Der Maßstab, nach dem etwas als Kunst, als Musik oder als Rede beurteilt wird,
ist das eigene Verständnis:
Wenn ich es nicht verstehe, dann kann es auch nichts sein.


III. Dass man etwas nicht versteht,
muss nicht immer mit der Zungenrede zu tun haben.
Auch Fremdsprachen versteht man nicht,
wenn man sie nicht gelernt hat.
Nicht umsonst spricht man vom „Fachchinesisch“:
Auch die Fachausdrücke eines bestimmten Berufszweiges sind für Laien unverständlich -
man denke etwa nur an die Berichte, die man von der Fachärztin für die Hausärztin mitbekommt.

Auch im Gottesdienst versteht man vieles nicht.
Warum steht hier vorn ein Altar, wenn wir doch keine Opfer mehr darbringen?
Wazu brennen Kerzen auf, warum hängen bunte Tücher vor dem Altar?
Warum haben diese Tücher verschiedene Farben, und was bedeuten die Symbole darauf?
Warum singen wir im Gottesdienst Griechisch: Kyrie, eleison?, usw. usf.

Wenn man erst einmal anfängt, das scheinbar Selbstverständliche zu hinterfragen,
fallen einem immer mehr Dinge ein,
die man am Gottesdienst und am Glauben eigentlich nicht versteht.
Solange man nicht darüber nachdenkt, fällt einem das gar nicht auf.
Es muss schon jemand von außen kommen
und einen durch seine scheinbar dummen Fragen mit der Nase darauf stoßen,
dass man so vieles im Gottesdienst tut, ohne es zu verstehen.

Der Gottesdienst ist also keineswegs, wie Paulus fordert, eine vernünftige Sache.
In ihm geht es auch ums Verstehen - in der Predigt zum Beispiel.
Aber der Gottesdienst selbst ist eher so etwas wie … eine Performance:
Eine Art künstlerische Aktion, in die wir verwickelt werden.

Einmal angenommen, der Gottesdienst wäre eine Performance:
Wer ist dann die Künstlerin? Ich? Oder Sie? Oder wir alle gemeinsam?

Für eine Außenstehende, die zum ersten Mal an einem Gottesdienst teilnimmt,
muss, was wir hier tun, befremdlich wirken:
Wir sitzen still in einer Bank;
ab und zu sprechen oder singen wir gemeinsam etwas;
manchmal stehen wir auf, ohne dass man wüsste,
warum wir einmal sitzen bleiben, ein anderes Mal aufstehen.
Und dann diese vielen Fachwörter:
Kyrie; Psalm; Glaubensbekenntnis; Vaterunser; Abendmahl; Segen …
Für eine Außenstehende muss all das verwirrend sein;
ihr kommen diese Begriffe wie böhmische Dörfer vor,
fast wie Zungenrede.

Darum ist die Zungenrede ein Zeichen für die Ungläubigen:
Ihnen wird dadurch, dass sie nichts verstehen, bewusst,
dass sie nicht dazugehören.
Sie sind noch ausgeschlossen aus einer Gemeinschaft,
die sich auch durch eine gemeinsame Sprache,
durch gemeinsame Zeichen verständigt und abgrenzt.
Das erlebt man als Touristin im Ausland.
Man erlebt es, wenn man als Erwachsene unter Jugendlichen ist,
oder als Jugendliche unter Erwachsenen.
Bürgerinnen der DDR erlebten es bei Reisen in den Westen,
und Westdeutsche bei Besuchen in der DDR;
bis heute hält sich hartnäckig die Unterscheidung
zwischen „Wessis“ und „Ossis“.


IV. Vieles am Gottesdienst ist für eine Außenstehende unverständlich.
Und, wenn wir ehrlich sind, auch wir selbst verstehen nicht alles,
was wir hier tun, und warum wir es tun.
Wenn der Gottesdienst aber eine Art „Performance“ wäre,
dann ginge es im Gottesdienst gar nicht so sehr ums Verstehen,
sondern um den Gottesdienst an sich: Dass er stattfindet.
Und dass er stattfindet, liegt an uns:
Wenn wir nicht zusammenkommen, gibt es keinen Gottesdienst.

Der Gottesdienst schließt uns alle ein,
er schließt uns alle zusammen zu einer Gemeinde.
Dabei kann jede für sich entscheiden,
wie nah sie dieses Geschehen an sich heranlassen will;
ob sie mitbetet und mitsingt,
oder sich die Sache lieber mit etwas Abstand von der Empore aus ansieht.
Man wird auch nicht vorher gefragt,
woher man kommt, wer man ist - man muss nicht einmal Kirchenmitglied sein,
um am Gottesdienst teilnehmen zu können.

Wenn der Gottesdienst eine Art „Performance“ wäre,
würden wir sie gemeinsam durchführen.
Wir alle wären Künstlerinnen und Künstler.
Damit bewahrheitet sich ein berühmter Satz
des ebenso berühmten wie umstrittenen Künstlers Josef Beuys,
dass jeder Mensch ein Künstler ist.
Dieser Satz von Beuys wiederum geht auf einen Satz zurück,
den Martin Luther viel gebraucht hat,
der aber viel älter ist als Martin Luther - er steht schon in der Bibel (1.Petrus 2,9).
Es ist der Satz vom Priestertum aller Glaubenden.
Er besagt, dass es nicht einige wenige Auserwählte gibt,
die - stellvertretend für alle anderen - mit Gott in Kontakt treten dürfen,
sondern dass jeder Mensch unmittelbar zu Gott ist
und deshalb auch jeder Mensch Gott dienen kann.
Der Gottesdienst ist eine Spezialform dieses Dienstes für Gott,
den wir im Alltag jede auf ihre Weise tun.

Wenn der Gottesdienst eine Art „Performance“ wäre,
wären wir alle Künstlerinnen und Künstler.
Wenn wir den Gottesdienst als eine heilige Handlung verstehen,
sind wir alle Priesterinnen und Priester.
So oder so gestalten wir gemeinsam den Gottesdienst.


V. Im Gottesdienst geht es nicht allein ums Verstehen.
Was gepredigt wird, muss verständlich sein,
wenn es die Hörerinnen erreichen soll.
Aber der Gottesdienst ist nicht nur die Predigt,
und die Predigt ist nicht das Wichtigste am Gottesdienst.
Das Wichtigste ist, dass wir gemeinsam diese heilige Atmospähre schaffen,
in der Gott uns nahe kommen kann und in der wir Gott nahe sein können.

Deshalb ist der Gottesdienst eine Art Performance,
denn nur, wenn wir uns hier versammeln
und all die Dinge tun, die zu einem Gottesdienst gehören
- vom Blumenschmuck auf dem Altar,
dem Anzünden der Kerzen und der richtigen Farbe des Paraments
über die Musik und die Lieder
bis hin zu den Gebeten, die wir gemeinsam sprechen,
dem gemeinsamen Singen und Aufstehen -
nur dann kann diese heilige Atmosphäre entstehen,
in der uns etwas erreicht, etwas bewegt,
etwas uns anrührt - vielleicht sogar zu Tränen rührt.
Das kann man nicht „machen“.
Es passiert - passiert dadurch, dass wir gemeinsam diesen Gottesdienst gestalten
und dabei etwas entstehen lassen, das man mit einem Kunstwerk vergleichen kann:
Es ist schön. Es hat seinen Sinn in sich selbst. Es hat keinen „Zweck“.
Und: Man kann es nicht mit nach Hause nehmen -
so wie man die Bilder im Museum nicht mit nach Hause nehmen kann.
Was man mitnimmt, ist der Eindruck, der hier entstanden ist.
Dazu hat jede von uns beigetragen,
denn jede von uns ist eine Künstlerin, oder -
wenn es um den Gottesdienst geht - eine Priesterin.

Amen.