Samstag, 30. Juni 2018

Dazugehören


Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 1. Juli 2018, über 1. Mose 12,1-4a.

Liebe Schwestern und Brüder,

Dazugehören. Was für ein schönes Wort!
Dazugehören bedeutet, eine Familie zu haben. Freunde. Ein Zuhause. Eine Heimat.
Dazugehören bedeutet: Andere kennen mich, grüßen mich. Andere respektieren mich und meine Meinung. Helfen mir, wenn es sein muss und darauf ankommt. Laden mich zu sich ein, sprechen mit mir, wollen wissen, wie es mir geht und was ich denke.
Dazugehören, das gibt man ohne Not nicht auf. Da müsste es einem schon etwas sehr viel Besseres geboten werden. Aber was könnte besser sein als dazuzugehören?

Im heutigen Predigttext aus dem 1. Buch Mose heißt es im 12. Kapitel:
„Der Herr sprach zu Abram:
Geh aus deinem Vaterland und von deiner Verwandtschaft und aus deines Vaters Hause in ein Land, das ich dir zeigen will. Und ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen, und du sollst ein Segen sein. Ich will segnen, die dich segnen, und verfluchen, die dich verfluchen; und in dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden.
Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte, und Gott zog mit ihm.“

I. Abram gibt seine Zugehörigkeit auf wegen einer Stimme, die er gehört hat. Sie versprach ihm Reichtum und Ruhm, wenn er in die Fremde geht. Er wird ein Star, ein Stern, der über den ganzen Welt aufgeht. Davon lässt Abram sich locken. Diese Aussicht ist so gewaltig, dass er dafür sein Dazugehören, das Vertraute: Familie, Verwandtschaft und Heimat, aufgibt. Die Aussicht ist so verlockend, dass sogar sein Neffe Lot mitkommt - allein aufgrund des Gerüchtes, das Abram gehört hat.

So sind zu allen Zeiten Menschen in gelobte Länder aufgebrochen, weil es Gerüchte gab, dass dort ein besseres Leben zu finden wäre. Sie sind dafür das Risiko des Fremdseins und der Fremde eingegangen: Niemanden zu kennen und nicht gekannt zu werden. Die Sprache nicht zu verstehen. Nicht gegrüßt zu werden und nicht respektiert. Nicht um seine Meinung gefragt zu werden und nicht, wie es einem geht, wie man sich fühlt, was man sich wünscht oder braucht. Kurz: Sie gingen das Risiko ein, nicht dazuzugehören.
Wie schrecklich und wie gefährlich es sein kann, ein Fremder zu sein, nicht dazuzugehören, das kann man die Fremden in unserem Land fragen.

Glücklicherweise gab es, anders als heute, zu Abrams Zeiten das selbstverständliche und heilige Gebot der Gastfreundschaft. Die Gastfreundschaft öffnete Fremden die Türen. Man gehörte dadurch noch nicht dazu. Aber man stand auch nicht allein draußen vor der Tür. Das Gebot der Gastfreundschaft gab einem Fremden die Chance, sich zu zeigen und mit seinem Anliegen Gehör zu finden.

Zu allen Zeiten brachen Menschen auf ein Gerücht hin in fremde Länder auf. Manche, wie der Großvater von Donald Trump, brachten es vom Tellerwäscher zum Millionär. Andere mussten enttäuscht feststellen, dass es nur Gerüchte waren, denen sie vertraut hatten. Sie mussten erleben, dass man sie nicht haben wollte, ihnen das Leben schwer machte oder ihnen sogar nach dem Leben trachtete.


II. Dazugehören ist ein schönes Wort. Aber ist es nicht eigenartig, dass immer andere bestimmen, ob man dazugehört oder nicht? Man kann sich zwar zugehörig fühlen; man kann von sich behaupten, dazuzugehören. Aber ob man tatsächlich dazugehört, entscheiden andere. Und sie entscheiden, dass ein dunkelhäutiger Mensch, der hier geboren und z.B. mit bayerischer Mundart aufgewachsen ist, trotzdem kein Deutscher sein kann, weil man als Deutscher angeblich keine dunkle Haut haben darf. Aber selbst, wenn man alle Kriterien fürs Deutschsein erfüllt, heißt das noch lange nicht, dass man auch dazugehört. Auf dem Dorf wird z.B. ganz genau unterschieden zwischen „Einheimischen“ und „Zugezogenen”. Man mag als Zugezogener dazugehören. Trotzdem bekommt man es immer wieder zu spüren und aufs Brot geschmiert, dass man nur ein Zugezogener ist.

Offenbar lässt sich Gemeinschaft nur dadurch herstellen, dass man sich von anderen abgrenzt und andere ausschließt. „Alle Menschen werden Brüder“ - dieser Wunsch Friedrich Schillers wird wohl immer nur ein Traum bleiben.

Ist es nicht eigenartig, dass etwas so Verbindendes wie Gemeinschaft nur existiert, weil andere ausgegrenzt werden? Und dass Dazugehören nur funktioniert, wenn jemand bestimmt, wer dazugehört, und wer nicht? Wirft das nicht ein schlechtes Licht auf jede Gemeinschaft, jede Zugehörigkeit, wenn sie andere ausschließt?

Solange man selbst fraglos dazugehört, braucht man sich solche Gedanken nicht zu machen, und macht sie sich auch nicht. Wer aber einmal die Zugehörigkeit aufgab oder verlor, hat es erlebt und weiß, wie sich das anfühlt, wenn man draußen steht.


III. Das Gerücht, das Abram dazu verführte, seine Zugehörigkeit aufzugeben und ein Fremder zu werden, verhieß Reichtum und Ruhm:
„Ich will dich zum großen Volk machen und will dich segnen und dir einen großen Namen machen“.
Aber es geht bei dieser Verheißung Gottes an Abram um mehr als Reichtum und Ruhm. Gott begründet mit Abram eine neue Art der Zugehörigkeit, die nichts mehr mit Blut und Boden zu tun hat. Die nicht daran gemessen wird, welche Farbe die Haut oder das Parteibuch hat, seit wie vielen Generationen die Vorfahren im Ort lebten oder ob man Land besitzt. Eine Zugehörigkeit, über die nicht andere bestimmen, sondern allein man selbst:
„In dir sollen gesegnet werden alle Geschlechter auf Erden“.
Auch die neue Zugehörigkeit, die Abram begründet, ist eine Verwandtschaft. Aber es ist keine Bluts-, sondern eine Geistesverwandtschaft. Deshalb erhält Abram später von Gott auch einen neuen Namen: Aus Abram wird Abraham, weil er der Vater aller Gläubigen wird. Dazu ist es nicht mehr nötig, mit Abram leiblich verwandt zu sein. Verwandtschaft zeigt sich im Glauben; sie zeigt sich dadurch, dass man auf Gott hört, wie Abram es tat.

Nun hören wir heute keine Stimmen mehr. Das ist wohl auch besser so: Wer Visionen hat oder Stimmen hört, ist in unserer Gesellschaft ein Fall für den Psychiater. Wir sind solche Phänomene nicht mehr gewohnt und verstehen sie nicht mehr; wir könnten nicht damit umgehen. Aber auch wir hören Gottes Stimme: Jeden Sonntag wird sie uns aus der Bibel vorgelesen. Und wer eine Bibel im Haus hat, kann sogar jederzeit Gott zu sich sprechen lassen.

Aber die Stimme Gottes zu hören genügt nicht. Man muss auch auf sie hören. Und da wird es heikel. Denn auf Gottes Stimme zu hören bedeutet, auf die Stimmen all derer nicht mehr zu hören, die be-stimmen wollen, wo es langgeht, was man zu tun und zu lassen hat und wer dazugehört und wer nicht. Das kann befreiend sein. Das kann aber auch sehr schlimm sein. Denn wer nicht auf die Be-Stimmer hört, gehört nicht mehr dazu.


IV. Gottes Stimme ruft in die Fremde. Nicht nur Abram, auch uns ruft sie, Bindungen an Altvertrautes, Gewohntes zu verlassen: Bindungen an Beziehungen, Besitz, eine Ideologie oder eine Nation. Bindungen an Urteile und Meiningen, die man selbst sich gebildet oder vermittelt bekommen hat. Wer auf Gottes Stimme hört, wird zur Fremden im eigenen Land.

Wer fremd ist, nimmt mit einem Mal die anderen Fremden wahr - so, wie man als Vater oder Mutter, die einen Kinderwagen schiebt, staunt, wie viele Kinderwägen unterwegs sind. Wer selbst fremd ist, übersieht die anderen Fremden nicht mehr, sondern solidarisiert sich mit ihnen. So entsteht eine neue Gemeinschaft. Eine, die sich nicht durch Abgrenzung und Ausgrenzung bestimmt, sondern durch Gastfreundschaft. Gastfreundschaft legt nicht fest, wann einer dazugehört und wann nicht. Sie lässt jede und jeden selbst bestimmen, ob sie dazugehören möchte oder nicht. Wer an die Tür klopft und eintritt, ist willkommen und gehört dazu.

Eine solche Gemeinschaft ist die Gemeinde, die sich sonntags zum Gottesdienst trifft. Hier, in der Kirche, die nicht unser Haus ist, sondern Gottes, in der wir also selbst als Einheimische Fremde und Gäste sind, hier ist jede und jeder willkommen. Hier ist es gleichgültig, wie jemand aussieht, sich kleidet oder spricht. Welche Partei er oder sie gewählt hat, aus welchem Ort oder Land er oder sie stammt. Hier, in der Gemeinde, wird während des Gottesdienstes Schillers Traum von der Geschwisterlichkeit aller Menschen für eine Stunde wahr: Wir alle sind Schwestern und Brüder. deshalb sprechen wir uns so an und werden so angesprochen: Als Schwestern und Brüder.


V. Liebe Schwestern und Brüder,
ich weiß, sogar im Gottesdienst gibt es diese fraglose Zugehörigkeit nicht. Auch hier wird ein Fremder als Fremder angesehen. Auch hier vergessen wir nicht, wer zugezogen und wer einheimisch ist. Dafür vergessen wir zu leicht, dass auch wir Gäste und Fremdlinge sind, die kein größeres Recht haben, in diesem Haus Gottes zusammenzukommen, als andere.

Aber auch, wenn es im Gottesdienst nicht weniger menschelt und fremdelt als draußen in der Welt, so geschieht, was wir hier tun, doch unter einem anderen Vorzeichen: Wir versammeln uns im Namen Gottes. Gott hat uns zu seinen Kindern gemacht. Weil wir Gottes Kinder sind, darum sind wir tatsächlich Schwestern und Brüder - selbst dann, wenn es uns nicht gelingt, uns wie Geschwister zu verhalten. Amen.