Donnerstag, 5. Juli 2018

Taufe: die Froschperspektive einnehmen.

Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 8. Juli 2018, über Apostelgeschichte 8,26-39:

Ein Engel des Herrn sprach zu Philippus:
Steh auf, geh nach Süden auf der Straße, die von Jerusalem nach Gaza hinabführt; sie ist menschenleer.
Er stand auf und ging los. Da begegnete er einem Mann aus Äthiopien, ein Eunuch, Finanzminister der Kandake, der Königin Äthiopiens. Er war nach Jerusalem gekommen, um Gott anzubeten. Der war auf der Heimreise, saß auf seinem Wagen und las den Propheten Jesaja.
Der Geist sprach zu Philippus: Geh, folge dem Wagen!
Als Philippus nähergekommen war, hörte er ihn den Propheten Jesaja lesen und fragte: Du verstehst, was du da liest?
Er aber antwortete: Wie sollte ich, wenn mich niemand anleitet? Und er bat Philippus, aufzusteigen und sich zu ihm zu setzen. Der Abschnitt der Schrift, den er las, was folgender:
„Wie ein Schaf, das man zur Schlachtung bringt
und wie ein Lamm, das vor seinem Scherer verstummt,
so tat er seinen Mund nicht auf.
Durch seine Erniedrigung wurde sein Urteil aufgehoben.
Wer wird seine Nachkommenschaft zählen?
Denn sein Leben wurde von der Erde weggenommen.“
Der Eunuch sprach zu Philippus: Ich bitte dich, von wem spricht dieser Prophet? Von sich oder von einem anderen?
Da öffnete Philippus seinen Mund und begann, ihm, von dieser Schriftstelle ausgehend, Jesus zu verkündigen.
Während sie auf der Straße reisten, kamen sie an ein Wasser, und der Eunuch sprach: Da ist Wasser. Was hindert dich, mich zu taufen? Und er befahl, den Wagen anzuhalten. Beide, Philippus und der Eunuch, stiegen zum Wasser hinab, und Philippus taufte ihn. Als er aber aus dem Wasser stieg, entrückte der Geist des Herrn den Philippus, und der Eunuch sah ihn nicht mehr. Er reiste aber seine Straße fröhlich.


Liebe Schwestern und Brüder,

wie weit war Ihr Weg zur Kirche?
Bestimmt nicht so weit, wie der äthiopische Finanzminister gereist ist, um den jerusalemer Tempel zu besuchen: 3.896 Kilometer! Das ist jedenfalls die Strecke, die Google für die Straße zwischen der äthiopischen Hauptstadt Addis Abbeba und Jerusalem angibt. Google berechnet für den Fußweg sportliche 33 Tage - bei knapp 120 Kilometern am Tag, wenn man ohne Pause durchmarschiert. Deshalb nimmt man wohl realistischerweise die dreifache Zeit an: 100 Tage, ein Vierteljahr, wenn nichts dazwischen kommt. Und das ist nur die eine Strecke! Der äthiopische Finanzminister war insgesamt ein halbes Jahr unterwegs, nur um einmal im jerusalemer Tempel Gottesdienst zu feiern! Ein halbes Jahr lang musste die Kandake, die äthiopische Königin, auf ihren wichtigsten Minister verzichten!


I. Sieht man von der Frage ab, ob sich die Geschichte tatsächlich so zugetragen hat - immerhin ist es schwer vorstellbar, dass der wichtigste Minister eines Staates ein halbes Jahr Urlaub für eine Pilgerreise nehmen darf, nach dem Motto „Ich bin dann mal weg …“ - gegen die Pilgerreise dieses Finanzministers muss sich jede andere Pilgerfahrt klein und unscheinbar ausnehmen.
Und scheint es auch ziemlich unglaublich, dass jemand eine so lange Reise mit all ihren Strapazen und Gefahren auf sich nimmt, nur um einmal im jerusalemer Tempel Gottesdienst zu feiern, so nimmt doch auch heute mancher ziemliche Strapazen auf sich, um z.B. einen Berg zu besteigen, einmal New York und die Niagarafälle zu sehen oder einmal auf dem Eiffelturm zu stehen.

Was ist es, was Sie unbedingt sehen und erleben wollen?
Von welchem Ziel, welchem Gipfel träumen Sie?

Merkwürdig genug, dass für den äthiopischen Minister eine Begegnung mit Gott an erster Stelle steht, während wir von fremden Ländern oder großartigen Erlebnissen träumen.
Und dann auch wieder nicht so merkwürdig. Wer in den höchsten Kreisen verkehrt und im Geld schwimmt, hat wahrscheinlich schon alles gesehen; so jemanden locken die herkömmlichen Abenteuer und Sehenswürdigkeiten nicht mehr.


II. Der äthiopische Finanzminister ist jemand Besonderes. Aber das fällt einem nicht gleich auf. Viele, die aus dem Ausland zu uns kommen, waren in ihrer Heimat etwas Besonderes: Doktoren oder Ingenieure, leitende Angestellte oder Bürgermeister. Sie waren mit in ihrer Heimat berühmten Leuten verwandt oder waren selbst bedeutende Persönlichkeiten, die man kannte. Hier, bei uns, sind sie Niemande. Im besten Falle geduldete Fremde. Im schlimmeren, aber häufigeren Fall werden sie verachtet und geschmäht. Man kann sich kaum vorstellen, was jemand empfinden muss, der in seiner Heimat etwas galt, jemand war, und hier wie ein Mensch zweiter Klasse behandelt wird.

Dem Finanzminister aus Äthiopien geht es ähnlich. Als Afrikaner sticht er mit seiner dunklen Hautfarbe heraus. Und dazu ist er noch ein Eunuch. In der Antike war es in bestimmten Gegenden üblich, dass königliche Beamte kastriert wurden. Mit dieser Operation wurden sie für ein Leben bei Hofe ausgesondert, sie wurden jemand Besonderes. Allerdings wurden sie dadurch auch zu Menschen zweiter Klasse - trotz ihres Ranges und ihrer Macht. Eunuchen waren Menschen, die man verachtete, auf die man herabsah - so, wie heute bei uns auf die Fremden.

Doch die erste Taufe außer der Taufe Jesu, von der im Neuen Testament erzählt wird, ist ausgerechnet die Taufe dieses besonderen Afrikaners - und gerade nicht eines vergleichsweise „normalen“ Menschen wie Sie und ich.
Warum wird die Geschichte der ersten Taufe, die auch unsere Geschichte ist, weil die Taufe uns mit Gott zusammengebracht hat - warum wird diese Geschichte nicht mit einem „normalen“ Hauptdarsteller erzählt, mit dem man sich identifizieren kann? Was hat diese Geschichte vor, dass sie uns einen Ausländer präsentiert, und dann noch so einen!?


III. Der Äthiopier ist auf einer Reise. Das Leben wird als Weg beschrieben - und wenn man sein Leben darstellen soll, schreibt man einen „Lebenslauf“. Das ist eine allgemeine Vorstellung vom Leben, ein Weg mit unterschiedlichen Stationen. Wenn man den Lauf der Zeit darstellen soll, zeichnet man eine Linie, die links mit der Geburt beginnt. Auf dieser Linie werden die Stationen des Lebens markiert: Kindergarten, Schule, Ausbildung oder Studium, Berufstätigkeit, Rente. Zwischen diesen Stationen liegen die besonderen Erlebnisse und Erfahrungen, die unser Leben ausmachen: Reisen, die man unternahm. Menschen, die einen prägten, wie Eltern und Großeltern, Lehrerinnen und Lehrer, Freundinnen und Freunde. Der erste Kuss, die erste große Liebe. Die Hochzeit. Die Geburt des Kindes oder der Kinder, die wieder ihre eigenen Lebenslinien haben, mit ähnlichen Stationen.
Zu den einschneidenden, prägenden Erlebnissen gehören auch die traurigen und schmerzhaften: Unfälle und Krankenhausaufenthalte, Trennungen, Misserfolge, und schließlich der Tod von Menschen, die einem viel bedeuteten und mit denen man eng verbunden war.
Wenn man alle diese Stationen und Erfahrungen auf seiner Lebenslinie eingetragen hat, macht man rechts einen Pfeil an die Linie. Denn den Endpunkt des Lebens kennt man zum Glück nicht.

Mathematisch gesprochen ist unsere Lebenslinie also ein Strahl, der einen Anfangs-, aber keinen Endpunkt hat. Aber natürlich hat unser Leben ein Ende; das wissen wir auch. Unsere Lebenslinie ist in Wahrheit kein Strahl, sondern eine Strecke. Aber so denken wir nicht. In unserer Vorstellung ist unser Leben trotz des Endes, um das wir wissen, unendlich - anders, mit dem Wissen um den Zeitpunkt des Endes, könnte man gar nicht leben.

Wenn das Leben unendlich ist - oder uns zumindest so vorkommt -, hat es kein Ziel. Und tatsächlich lebt man relativ ziellos vor sich hin. Zwar setzt man sich Etappenziele: Den Schulabschluss. Den Abschluss der Ausbildung oder des Studiums. Die Heirat. Die Gründung einer Familie. Den Bau eines Hauses. Den Ruhestand. Man hangelt sich im Leben von einem Ziel zum nächsten. Hat man eines erreicht, nimmt man das nächste ins Visier. Man geht einen Schritt nach dem nächsten. Aber wohin führt das alles? Was steht am Ende? Kommt man irgendwann irgendwo an, oder geht es immer weiter und weiter, bis es eines Tages nicht mehr weiter geht? Manche fürchten den Ruhestand, weil danach kein Ziel mehr kommt - es sei denn, man steckt sich selbst eines.


IV. Der Finanzminister hat sich ein Ziel gesteckt, das in seinem Lebenslauf und seiner Karriere nicht vorgesehen war: Er will Gott begegnen. Darum nimmt er sich Urlaub und reist nach Jerusalem. Er hofft, Gott im Tempel zu begegnen. Dafür tritt er eine Reise an, die man nur einmal im Leben unternimmt.

Ob er Gott begegnet ist? Wohl eher nicht; sonst säße er jetzt nicht auf seinem Wagen und läse im Buch des Propheten Jesaja, das er sich als Andenken gekauft hat. Er sucht noch, er hat Gott noch nicht gefunden - bis Philippus kommt, der ihm den Weg zu Gott zeigt. Er deutet ihm, was schon immer im Prophetenbuch stand, was der Eunuch bis jetzt aber nicht verstehen konnte, weil er sozusagen die falsche Brille aufhatte. Er las den Text des Propeten „von oben“, aus der Sicht eines wichtigen Ministers. Philippus zeigt ihm die Sicht „von unten“, aus der Sicht der Menschen, die man normalerweise übersieht oder gar nicht sehen will. In Christus ist Gott ganz unten angekommen, bei den Menschen, die ganz unten sind. Bei Kranken. Bei Menschen mit einer Besonderheit. Bei Ausländern. Bei Menschen, die nach landläufiger Meinung nichts taugen, versagt oder den falschen Weg eingeschlagen haben. Wie Jesus sagte:
„Ich war hungrig, ihr gabt mir zu essen. Ich war durstig, ihr gabt mir zu trinken. Ich war ein Fremder, ihr nahmt mich auf. Ich hatte nichts anzuziehen, ihr gabt mir Kleidung. Ich war krank, ihr habt mich besucht. Ich war im Gefängnis, ihr kamt zu mir“ (Matthäus 25,35+36).

Weil Gott in Christus ganz unten angekommen ist, findet man ihn nicht in den Führungsetagen und Tempeln. Gott begegnet einem in einem anderen Menschen. Ausgerechnet in solchen, mit denen man eine Begegnung möglichst vermeidet, denen man aus dem Weg geht, mit denen man nichts zu tun haben will.

Der äthiopische Finanzminister ist, trotz seines hohen Amtes, ein solcher Mensch, mit dem niemand etwas zu tun haben wollte. Für ihn wird das, was Philippus ihm vom Propheten Jesaja erklärt, zu einer guten Nachricht, zum Evangelium.

Zu seinem Glück fehlt dem Finanzminister nichts mehr. Er weiß jetzt, wie und wo er Gott begegnen kann - und dass er ihm schon oft begegnet ist. Sein einziges und letztes Ziel ist es jetzt noch, wirklich zu Gott zu gehören. Er hat verstanden, dass man dazu keine besondere Abstammung, keine besonderen Leistungen oder Fähigkeiten und auch keine besondere Hautfarbe braucht. Ein Kind Gottes wird man durch die Taufe. Darum lässt er sich von Philippus taufen. Und weil die Taufe alles ist, was ihm noch fehlte, ist er nicht traurig, als Philippus unmittelbar nach der Taufe verschwindet. Er gehört jetzt zu Gott - mehr braucht er nicht.


V. In der Geschichte der ersten Taufe spielt ein äthiopischer Eunuch die Hauptrolle, damit niemand befürchten muss, er oder sie sei zu klein, zu unbedeutend oder zu schlecht, um zu Gott zu gehören.

Diese Geschichte wird erzählt, um uns daran zu erinnern, dass wir Gott nicht bei den Stars finden, die wir anhimmeln und vergöttern, sondern ausgerechnet bei denen, die wir verachten und übersehen.

Und schließlich wird die Geschichte erzählt, damit wir lernen, dass das Ziel des Lebens nicht in Macht und Reichtum besteht, nicht in Errungenschaften und Leistungen, sondern allein darin, ein Kind Gottes zu sein. Wer ein Kind Gottes ist, kann seinen Lebensweg fröhlich gehen. Sie, er hat alles erreicht, was man im Leben erreichen kann. Mehr geht nicht. Darum sind alle Höhepunkte im Leben, alle Titel und Ämter, alle Erfolge und Errungenschaften zwar schön, aber letztlich nichts als schmückendes Beiwerk.

Und darum schließlich taufen wir schon die kleinen Kinder: Damit sie ihren Lebensweg fröhlich gehen können, in der Gewissheit, dass sie zu Gott gehören und sie darum das Ziel ihres Lebens schon an seinem Beginn erreicht haben. Das macht sie frei, ihr Leben so zu leben, wie sie es möchten, ihre Gaben zu entdecken und zu entfalten und das Leben zu genießen. Sie müssen nichts mehr erreichen, um jemand zu sein. Aber sie können alles erreichen, weil sie Gottes geliebte Kinder sind.

Diese Gewissheit, die die Taufe schenkt, dass sie Gottes Kinder sind, hilft ihnen auch, Leid und Kummer zu ertragen, die das Leben unweigerlich mit sich bringt. Leid und Kummer können ihnen nicht nehmen, was sie haben. Nicht einmal der Tod kann sie von Gottes Liebe trennen. In dieser Liebe sind wir alle geborgen und gut aufgehoben - heute, morgen und alle Tage. Amen.