Samstag, 16. Juni 2018

Was ist Wahrheit?

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 17. Juni 2018, über 1.Johannes 1,5-2,6:

Das ist die Botschaft,
die wir von ihm gehört haben
und euch verkündigen,
dass Gott Licht ist
und es ist überhaupt keine Finsternis in ihm.

Wenn wir behaupten,
wir hätten Gemeinschaft mit ihm.
aber in Finsternis leben,
lügen wir und üben nicht die Wahrheit.
Wenn wir aber im Licht leben,
wie er im Licht ist,
haben wir miteinander Gemeinschaft
und das Blut seines Sohnes Jesus
reinigt uns von allen Sünden.

Wenn wir behaupten,
wir hätten keine Sünde,
betrügen wir uns selbst
und die Wahrheit ist nicht in uns.
Wenn wir unsere Sünden bekennen,
ist er verlässlich und gerecht,
dass er uns die Sünden vergibt
und uns von allem Unrecht reinigt.
Wenn wir behaupten,
wir hätten nicht gesündigt,
machen wir ihn zum Lügner,
und sein Wort ist nicht in uns.

Meine Kindlein,
das schreibe ich euch,
damit ihr nicht sündigt.
Aber wenn einer sündigt,
dann haben wir einen Fürsprecher beim Vater,
Jesus Christus, den Gerechten.
Und er ist die Sühnung für unsere Sünden;
nicht allein für unsere,
sondern auch für die ganze Welt.

Und daran erkennen wir,
dass wir ihn kennen,
indem wir seine Gebote halten.
Wer sagt: ‚Ich kenne ihn‘,
aber seine Gebote nicht beachtet,
ist ein Lügner
und in ihm ist die Wahrheit nicht.

Wer aber sein Wort beachtet,
in dem vollendet sich wirklich Gottes Liebe.
Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.
Wer behauptet, in ihm zu sein,
muss so leben, wie er gelebt hat.


Liebe Schwestern und Brüder,

die ersten christlichen Gemeinden hatten ein Problem,
das auch ein Problem unserer Zeit ist.
Man könnte es zugespitzt so formulieren:
Woran erkennt man „fake news“?
Oder, anders gefragt:
Wenn beide Seiten behaupten, die Wahrheit zu sagen,
woher weiß man dann, wer tatsächlich die Wahrheit sagt?


I. Wenn eine Idee einmal auf der Welt ist,
kann man nicht mehr kontrollieren,
wie sie verwendet wird - und von wem.
Der Glaube an Jesus faszinierte viele Menschen.
Und je mehr Menschen von ihm hörten,
und je weiter die Ereignisse seines Lebens,
seines Todes am Kreuz und seiner Auferstehung zurücklagen,
desto freier wurde man in der Auslegung dessen,
was diese Ereignisse bedeuteten.
Man machte sich seinen eigenen Reim auf die Geschehnisse,
erzählte die Geschichten von Jesus
und die Geschichte seines Kommens immer wieder ein wenig anders.
Bis am Ende unterschiedliche Erzählungen entstanden waren,
die nicht mehr zusammenpassten
- ja, die sich zum Teil widersprachen.
Wer hatte nun recht?
Wem sollte man glauben?

Diese Frage hatte die Gemeinde,
an die sich der 1.Johannisbrief wendet,
vor eine Zerreißprobe gestellt.
Jedenfalls stellt der Autor dieses Briefes
- nenne wir ihn Johannes -
es so dar, als ginge es um Leben und Tod
bzw. um Licht und Finsternis.

An eine ähnlich dramatische, zum Zerreißen gespannte Situation
erinnert uns der heutige 17. Juni:
An den Volksaufstand in der DDR vor 65 Jahren.
Auch in diesem Volksaufstand gab es zwei verschiedene „Erzählungen“,
gab es Wahrheiten, die einander widersprachen.

Aus der Sicht des damaligen Westens war der Volksaufstand
der von der Sowjetarmee brutal unterdrückte Versuch,
Freiheit und Demokratie einzufordern.

Aus der Sicht der DDR-Führung hatten revanchistische und imperialistische Kräfte des Westens eine gutwillige und ahnungslose Bevölkerung zum Aufstand angestachelt. Dank der brüderlichen Hilfe durch die sowjetischen Truppen konnte die westliche Aggression im Keim erstickt werden.

Heute wissen wir, dass die Sichtweise des Westens den Tatsachen näher kam als die Darstellung der DDR-Führung - die war schlicht gelogen, „fake news“.
Aber wie hätte man das damals erkennen sollen,
wenn man nicht selbst dabei gewesen war,
sondern nur von den staatlichen Medien oder im Schulunterricht von diesem Ereignissen erfuhr?

Wie kann man heute die dreisten Lügen entlarven,
die Donald Trump verbreitet,
oder die „alternativen Fakten“ der AfD?
Kann man denn überhaupt die Wahrheit erkennen,
wenn man nicht alle Seiten gehört hat, alle Fakten kennt?
Das ist das Totschlag-Argument aller Lügenbarone:
Dass man die Wahrheit gar nicht wissen
und daher auch nicht beurteilen könne,
was wahr ist und was nicht.


II. Der Briefschreiber, den wir „Johannes“ nennen,
will in dieser Frage Klarheit schaffen,
denn für ihn steht nicht nur eine Wahrheit auf dem Spiel.
Es geht nicht nur um Richtig oder Falsch,
sondern es geht um die Wahrheit des Glaubens.

Die Wahrheit ist nicht etwas,
was man so oder so sehen kann.
Menschen gehen auf die Straße und protestieren,
weil sie davon überzeugt sind,
dass es nur eine Wahrheit gibt.
Sie protestieren, um diese Wahrheit gegen die Lüge,
gegen „fake news“ und „alternative Fakten“ zu verteidigen und durchzusetzen.

Aber Protest allein erweist etwas nicht als wahr
- auch für die Verteidigung einer Lüge gehen Menschen auf die Straße.
Und auch die Masse derer, die eine Behauptung im Munde führen,
bürgt nicht dafür, dass diese Behauptung wahr ist
- im Gegenteil: Je mehr Menschen eine Sache vertreten,
und je lauter und wütender sie das tun,
desto misstrauischer sollte einen das machen.

Auf welche Weise versucht Johannes,
die Wahrheit zu erweisen?
Vielleicht kann uns seine Methode helfen,
im Alltag zwischen Wahrheit und Lüge zu unterscheiden
- gerade, wenn wir nicht alle Facetten der Wahrheit kennen -,
und die Wahrheit gegen die Lüge zu behaupten.

Johannes gibt sich nicht mit einem Wahrheitsbeweis zufrieden.
Er unternimmt ganze vier Anläufe,
um die Wahrheit zu ermitteln.
Zwei, mit denen man als Beobachter von außen erkennen kann,
ob es sich um die Wahrheit handelt,
und zwei, mit denen man sich selbst prüfen kann,
ob man auf der Seite der Wahrheit steht.

(1) Das erste Kriterium,
an dem ein Beobachter die Wahrheit erkennen kann,
ist die Übereinstimmung von Reden und Handeln:
„Wenn wir behaupten,
wir hätten Gemeinschaft mit ihm.
aber in Finsternis leben,
lügen wir und üben nicht die Wahrheit.“
Jemand, der Gewaltlosigkeit und Liebe predigt,
aber sein Kind schlägt, ist nicht glaubwürdig.
Ebensowenig kann man jemandem glauben,
der nach Recht und Ordnung ruft,
aber selbst Strafzettel in Mengen sammelt.
Von solchen Leuten sagt man,
dass sie Wasser predigen und Wein saufen.

Man hört sich ihre Predigten dennoch an,
weil gut und vernünftig klingt, was sie sagen.
Und so lässt man sich von ihnen überzeugen,
weil man meint, Reden und Tun hingen nicht zusammen,
sondern wären zwei verschiedene Paar Schuhe.
Man beschönigt das Auseinanderfallen von Reden und Tun
als „Kavaliersdelikt“, als „Ausrutscher“;
man redet sich ein, das würde sich noch ändern,
die Versprechen würden eines Tages wahr werden.
Weil man die Worte nicht an den Taten misst,
wird man belogen, und belügt sich selbst.


III. (2) Das zweite Merkmal, an dem ein Beobachter die Wahrheit erkennen kann,
ist die Kritikfähigkeit dessen, der sie vertritt:
„Wenn wir behaupten,
wir hätten keine Sünde,
betrügen wir uns selbst
und die Wahrheit ist nicht in uns.“
Allen totalitären Herrschern und Regimen ist gemein,
dass sie Kritik brutal unterdrücken
und Kritiker mundtot oder lächerlich machen -
seien es ein Erdogan, ein Putin oder ein Trump,
seien es Regime wie in China oder in Nordkorea.
Sie können Kritik nicht ertragen
und geben niemals einen Fehler zu.

Der Volksaufstand vom 17. Juni 1953 brach deshalb aus,
weil die DDR-Führung schwerwiegende wirtschaftliche Fehler begangen hatte,
die sie auf keinen Fall zugeben wollte.
Statt dessen wurden andere zu Sündenböcken gemacht,
und um die enormen Ausfälle zu kompensieren,
wurden die Arbeitsnormen erhöht - also letztlich
die Arbeiter für die Fehler ihrer Regierung zur Rechenschaft gezogen.
Kein Wunder, dass die Arbeiter sich das nicht gefallen lassen wollten.

Wer auf Seiten der Wahrheit stehen will,
muss Kritik aushalten können.
Denn die Wahrheit ist nichts, was man besitzen könnte.
Sie muss immer wieder neu gefunden und verteidigt werden.
Eine Wahrheit muss auch immer neu überprüft werden,
ob sie noch gilt, oder ob wir es nicht inzwischen besser wissen.

Auf die Wahrheit des Glaubens bezogen bedeutet das:
Die Tatsache, dass Gott uns vergibt,
bedeutet nicht, dass man nun tun und lassen könnte, was man will.
Die Tatsache, dass wir Gottes Kinder sind,
bedeutet nicht, dass alles, was wir tun,
Gott gefällt und in seinem Sinne ist.
Sie bedeutet auch nicht, dass wir anderen die Gotteskindschaft absprechen,
sie sozusagen aus dem Nest werfen dürften.

Wer meint, er habe in der Schule genug gelernt
und könne sein Leben lang mit diesem Wissen auskommen,
wird bald eines besseren belehrt.
Wer meint, er habe im Leben genug gelernt
und würde jetzt keine Fehler mehr machen,
belügt sich selbst - und andere.


IV. Das Prüfen der Worte an den Taten (1)
und die Fähigkeit, Fehler einzugestehen (2)
sind zwei ziemlich einfache, aber wirkungsvolle Mittel,
um Lügner zu entlarven und die Wahrheit zu erkennen.
Trotzdem führt Johannes noch zwei weitere Kriterien an.
Denn die beiden äußerlichen Merkmale allein könnten dazu führen,
dass man so wird wie die, die man kritisiert:
Man zeigt mit dem Finger auf andere -
und übersieht dabei, dass drei Finger auf einen selbst zurückweisen.
Darum gehört zur Suche nach der Wahrheit die Selbstkritik unbedingt dazu.
Und auch dabei geht Johannes wieder zwei Schritte,
denn bei der Suche nach der Wahrheit
kann man gar nicht sorgfältig und vorsichtig genug sein.

(3) Der erste Schritt ist die Frage,
ob ich die Regeln, die für alle gelten,
auch für mich gelten lasse:
„Wer sagt: ‚Ich kenne ihn‘,
aber seine Gebote nicht beachtet,
ist ein Lügner
und in ihm ist die Wahrheit nicht.“
Wir hatten das vorhin schon,
an dem Beispiel dessen, der Wasser predigt und Wein trinkt.
Jetzt wendet sich die Beobachtung nach innen:
Wie halte ich’s denn mit den Geboten?
Lasse ich die Regeln, die für andere gelten,
auch für mich gelten, oder meine ich, ich hätte eine Extrawurst verdient
und stünde außerhalb dessen, was für alle gilt?
Lege ich den Maßstab, mit dem ich andere beurteile, auch an mich an?
Würde ich, was ich von anderen erwarte und verlange,
auch selbst tun, wenn ich in einer ähnlichen Situation wäre wie sie?

(4) Gerade die letzte Überlegung,
das Einfühlen in die Lage anderer Menschen,
scheint in unserer Gesellschaft nicht verbreitet zu sein.
An dieser Stelle greift das zweite Kriterium,
mit dem man überprüfen kann,
ob man auf der Seite der Wahrheit steht:
„Wer aber sein Wort beachtet,
in dem vollendet sich wirklich Gottes Liebe.
Daran erkennen wir, dass wir in ihm sind.“
Gottes Liebe vollendet sich in der Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen.
Es ist eine Liebe, die nicht fragt,
ob der andere diese Liebe auch verdient.
Es ist eine Liebe, die nicht scheinheilig fragt:
„Wer ist denn mein Nächster?“,
die Menschen anderer Herkunft, anderer Hautfarbe nicht ausschließt.
Es ist vielmehr eine Liebe,
die dem Nächsten die gleichen Rechte, die gleichen Freiheiten
und den gleichen Wohlstand zugesteht, über die man selbst verfügt.
Eine Liebe, die dem Nächsten nichts gönnt und nichts wünscht,
was man nicht selbst zu ertragen bereit wäre.


V. „Was ist Wahrheit?“ (Johannes 18,38)
Es zeigt sich,
dass man unter all den „fake news“ und „alternativen Fakten“
die Wahrheit recht leicht entdecken kann, wenn man nur will.

Dazu darf man sich nicht von hohlen Worten
und leeren Versprechungen einwickeln lassen,
sondern muss unbeirrt darauf achten,
wie der handelt, der so spricht (1).

Dazu darf man nicht glauben,
jemand wäre über alle Zweifel erhaben.
Gerade, wer ein Vorbild für andere sein will,
muss Kritik ertragen und seine Fehler eingestehen können (2).

Um die Wahrheit erkennen zu können,
braucht man einen Maßstab,
an dem man Worte und Taten messen kann - Gottes Gebote -,
den man auch an sich selbst anlegen
und für sich selbst gelten lassen muss (3).

Und schließlich darf man bei der Suche nach der Wahrheit
niemals das größte Gebot vergessen:
„Du sollst Gott lieben von ganzem Herzen,
von ganzer Seele und mit all deiner Kraft,
und deinen Nächsten wie dich selbst“ (Markus 12,29-31) (4).

Mit diesen Kriterien ist man gut gewappnet
gegen alle Versuche, die Wahrheit zu verdrehen.
Damit ist man fähig, die Wahrheit gegen die Lüge zu verteidigen und
- wichtiger noch - die Menschen zu verteidigen,
die durch Lügen ausgegrenzt, verfolgt,
benachteiligt oder behindert werden.

Amen.