Freitag, 27. Juli 2018

Du brauchst keine Angst zu haben

Predigt am 9. Sonntag nach Trinitatis, 29.7.2018, über Jeremia 1,4-10:

Ich hörte Gott zu mir sagen:
Ich kannte dich, bevor ich dich im Mutterleib bildete.
Bevor du geboren wurdest, weihte ich dich.
Ich setzte dich ein zum Propheten für die Völker.
Aber ich sprach:
Ach, Herr Gott, schau, ich kann nicht reden; ich bin zu jung!
Gott sagte zu mir:
Sage nicht: Ich bin zu jung!
Vielmehr sollst du gehen, wohin ich dich schicke,
und sollst reden, was ich dir sage.
Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten. Spruch des Herrn.
Und Gott streckte seine Hand aus und berührte meinen Mund.
Und Gott sprach zu mir:
Hiermit lege ich mein Wort in deinen Mund.
Mit dem heutigen Tag vertraue ich dir Völker und Sippen an,
auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen,
zu bauen und zu pflanzen.


Liebe Schwestern und Brüder,

vielleicht kennen Sie das ja auch:
Dass einem eine Aufgabe zu groß erscheint
und man Angst hat, sie nicht zu schaffen.
Steht man vor dieser Aufgabe, möchte man sie am liebsten loswerden -
so, wie Jeremia.

Eine Aufgabe erscheint einem zu groß,
wenn man etwas zum ersten Mal tut und noch keine Erfahrung hat;
sie erscheint zu groß, wenn man das Gefühl hat,
nicht gut vorbereitet zu sein, nicht genug geübt zu haben;
sie erscheint zu groß, wenn einem viele dabei zusehen.
Am größten wird die Angst vor der Aufgabe, wenn alles zusammenkommt:
Wenn man etwas, das man nicht kann und für das man nicht genug geübt hat,
vor anderen Leuten vorführen muss.
Das Referat vor den Klassenkameraden kommt einem da in den Sinn.
Die Führerscheinprüfung.
Ich denke an meine allererste Predigt.

Wer solche Situationen erlebt und durchlitten hat, kann nachfühlen,
wie es Jeremia geht.
Kann nur zu gut verstehen, dass er Gottes Einladung ablehnt.
So schmeichelhaft es ist, dass Gott ihn zu seinem Propheten machen will:
Jeremia weiß, dass diese Aufgabe für ihn eine Nummer zu groß ist.
Wenn einem eine viel zu große Aufgabe übertragen wird,
sucht man händeringend nach Ausreden.
Jeremia führt seine Unerfahrenheit an;
er ist noch zu jung, um als Redner von Älteren ernst genommen zu werden.
Aber Gott lässt diese Ausrede nicht gelten.
Er wischt sie beiseite mit dem Hinweis,
er habe Jeremia schon vor seiner Geburt ausgewählt.
Das bedeutet: Es kommt nicht auf Jeremias Fähigkeiten an.
Vor der Geburt lässt sich nun wirklich nicht sagen,
was einmal aus diesem Menschlein wird;
welche Gaben es besitzt, welche Fähigkeiten es entwickelt.
Deshalb taufen wir Säuglinge, um deutlich zu machen:
Gottes Kind wird man nicht, weil man besondere Fähigkeiten besitzt;
weil man etwas leistet oder sich eines Tages dazu entschieden hat, es zu werden.
Gottes Kind wird man, weil Gott einen dazu berufen hat.

Die Tatsache, dass Gott ihn berufen hat, ist kein Trost für Jeremia.
Die Vorstellung, vor Leuten reden zu müssen, macht ihm Angst -
das geht wohl jedem von uns so.
Es ist schon schwer, eine Rede zu halten - bei einer Versammlung oder einem Geburtstag z.B. -,
weil man die kritischen Kommentare seiner Zuhörer fürchtet.
Gottes Wort zu sagen ist noch schwerer,
weil man sich dabei um Kopf und Kragen reden kann.
Das gilt nicht nur in Bezug auf Gott.
Wenn man Gottes Wort spricht, sagt man nicht unbedingt das,
was die Leute gerne hören möchten.
Jeremia hat am eigenen Leib erfahren müssen,
wie das ist, Gottes Wort zu verkünden:
Er bekam Ärger.
Es gab eine Verschwörung gegen ihn; man wollte ihn aus dem Weg räumen.
Ein Priester des Jerusalemer Tempels schlug ihn und sperrte ihn in den Block.
Er wurde verhaftet und ins Gefängnis gesteckt.
Seine Gegner warfen ihn in einen leeren Brunnen,
aus dem ihn seine Freunde noch rechtzeitig befreien konnten.
Seine Prophezeiungen, die sein Schüler Baruch aufgeschrieben hatte,
wurden vom König persönlich Seite für Seite verbrannt.
Am Ende musste Jeremia die Einnahme Jerusalems miterleben,
vor der er so lange vergeblich gewarnt hatte.
In den Wirren nach der Einnahme der Stadt wurde er nach Ägypten verschleppt.

Jeremias Ängste waren also mehr als berechtigt.
Er hatte von Anfang an das richtige Gefühl.
Und irgendwie spricht seine Geschichte auch gegen Gott:
Hatte er Jeremia nicht versprochen:
„Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten“?
In all dem, was Jeremia erdulden muss,
ist von Gottes Beistand nichts zu spüren.
Deshalb sagt Jeremia in einem Rückblick auf sein Leben:
„Herr, du hast mich überredet, und ich habe mich überreden lassen.
Du bist mir zu stark gewesen und hast gewonnen“ (Jeremia 20,7).
Jeremia fühlt sich von Gott getäuscht, er fühlt sich über den Tisch gezogen.
Auch das ist ein Gefühl, das oft mit einer zu großen Aufgabe einhergeht:
Da fragt zum Beispiel ein Freund an, ob man bei seinem Umzug mal mit anfassen könnte;
Bett und Schrank könne er nicht allein tragen.
Man sagt zu - und macht auf einmal den ganzen Umzug mit,
weil der liebe Freund noch gar nichts eingepackt hat.

Oder man ist bereit, die kranke Mutter zu betreuen,
weil sie sich allein nicht mehr helfen kann -
und dann wird daraus ein Vollzeit-Job rund um die Uhr,
der einem keine Zeit, keinen Freitraum für einen selbst mehr lässt.

Ähnliche Erfahrungen macht, wer sich in der Gemeinde engagiert.
Da bietet man einmal seine Hilfe an -
schon ist man Mitarbeiterin oder Kirchenälteste,
und man weiß gar nicht, wie das gekommen ist.

Jeremias Erfahrungen sind uns nicht fremd.
Auch wir lassen uns manchmal gutwillig auf etwas ein,
ohne zu ahnen, welche Folgen das haben,
welche Ausmaße unsere Verpflichtung annehmen wird.
Und wie Jeremia haben auch wir manchmal das Gefühl,
dabei über den Tisch gezogen worden zu sein …

Aber wenigstens hat man etwas davon!

Ja - was hat man denn davon, dass man sich für andere einsetzt?
Jeremia bekommt gesagt:
„Mit dem heutigen Tag vertraue ich dir Völker und Sippen an,
auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen,
zu bauen und zu pflanzen.“
Jeremia erhält Macht - große Macht, wie es scheint.
Er erhält die Macht, die Welt wie ein Gärtner gestalten zu können:
Unkraut und welke Pflanzen auszureißen, Beete abzubrechen und anderswo neu anzulegen,
Neues zu pflanzen.
Aber Jeremia ist doch nur ein Mensch!
Wie soll ein einzelner Mensch die Welt verändern!?
Selbst, wenn er Tag und Nacht schuftete:
Ein einzelner Mensch kann einen Garten umgestalten, aber mehr auch nicht.

Die Macht, die Jeremia von Gott bekommt,
ist keine körperliche Macht.
Sie richtet nichts aus gegen die Menschen, die ihn nicht hören wollen;
die ihn bedrohen und zum Schweigen bringen wollen.
Es ist die Macht des Wortes.

Mit dieser Macht rüstet auch Jesus seine Jünger aus,
wenn er sie aussendet, das Reich Gottes zu verkündigen:
„Wenn ihr in ein Haus geht, so grüßt es;
und wenn es das Haus wert ist, kehre euer Friede dort ein.
Ist es aber nicht wert, so wende sich euer Friede wieder zu euch“ (Matthäus 10,13).
Mit ihren Worten können die Jünger einem Haus, einer Familie den Frieden bringen
oder ihnen den Frieden wieder nehmen.

Woher dieses Vertrauen auf die Macht des Wortes?
Lehrt die Erfahrung Jeremia, lehrt sie uns nicht etwas anderes?
Dass nicht der mit den besten Argumenten gewinnt,
sondern der, der am lautesten brüllen kann;
dass nicht Vernunft, sondern Gewalt sich durchsetzt;
dass der Klügere deshalb nachgibt, weil der Dümmere meistens der Stärkere ist?

Die Gewalt scheint sich immer wieder gegen das Wort durchzusetzen.
Aber das scheint nur so.
Tatsächlich ist das Wort viel mächtiger als das Schwert.
Warum sonst geht es den Mächtigen um die Lufthoheit an den Stammtischen?
Warum sonst twittern sie, sind auf Facebook, reden in Talkshows?
Warum sonst wird von denen, die keine Argumente haben,
die freie Presse als „Lügenpresse“ geschmäht?

Worte haben Macht, und das nicht nur in der Politik.
Worte haben Macht auch im privaten Bereich.
Wie sehnsüchtig wartet man auf das Geständnis: „Ich liebe dich“!
Mit diesen drei Worten ändert sich alles für den, dem sie gelten.
Für diesen Menschen ändert sich die Welt.

Oder wie dringend wartet jemand nach einem Streit auf eine Geste der Versöhnung,
auf ein Wort des Bedauerns und der Entschuldigung!
Man kann hungern und dürsten nach dem Wort eines anderen,
kann leiden unter dem Schweigen des anderen.

Und schließlich können Worte einen Menschen auch stark machen oder schwach.
Wer ständig zu hören bekommt: Du kannst das nicht; du bist nicht schön,
der kann sich irgendwann selbst nicht mehr anders sehen;
für den ist jeder Fehler, jeder Misserfolg eine Bestätigung,
dass das Urteil der anderen wahr ist.
Und andererseits, wer Ermutigung erfährt, wer gelobt wird, kann vieles leisten
und wird leicht mit Fehlern oder einem Misserfolg fertig.

Worte haben eine Macht.
Die Macht, in Menschen etwas auszureißen, abzubrechen, auszurotten, einzureißen.
Und sie haben die Macht, in Menschen etwas zu bauen und zu pflanzen.
Es kommt darauf an, wie man die Worte verwendet - ob verantwortungsvoll,
mit dem Wissen um den eigenen Auftrag und um die Wirkung, die meine Worte haben,
oder verantwortungslos, ohne Rücksicht auf das, was meine Worte bei anderen anrichten,
wie verletzend, wie schädigend, wie zerstörerisch sie sein können.
Wenn schon Worte, die zwischen zwei Menschen gesprochen werden,
das Leben zum Guten oder zum Schlechten verändern können;
wenn die Worte der Mächtigen Macht haben, die Meinung eines ganzen Landes zu beeinflussen:
um wie viel gefährlicher muss es dann sein, mit Gottes Wort zu hantieren!
Da versteht man, dass Jeremia dem lieber aus dem Weg gehen möchte.

Gerade, weil das Wort so mächtig ist,
braucht es Menschen, die damit verantwortungsvoll umgehen können.
Deshalb beruft Gott den Jeremia.
Deshalb hat Gott auch uns berufen:
Er traut uns zu, dass wir sein Wort nicht benutzen,
um Menschen wehzutun, ihren Mut und ihre Hoffnung zu zerstören,
ihnen das Gefühl des eigenen Wertes zu nehmen, des Sinns in ihrem Leben.
Sondern dass wir Menschen damit aufbauen und ihnen etwas Gutes einpflanzen:
Selbstvertrauen. Anerkennung. Respekt.

Die Kehrseite dieser Berufung ist:
Wer Gottes Wort behütet, wird leiden.
Zum Glück nicht so, wie Jeremia - jedenfalls nicht in unseren Breiten.
Aber wer Gottes Wort im Munde führt,
wird manchmal widersprechen müssen - und kann dafür Kritik ernten,
ausgegrenzt werden, wird vielleicht sogar niedergebrüllt.
Wer andere verteidigt, wer für die spricht, die keine Stimme haben,
macht sich Feinde und wird vielleicht selbst jemand, den man zum Schweigen bringen will.

Wer Gottes Wort behütet, wird leiden.
Aber die Tatsache, dass man leidet, ist kein Beweis dafür, dass es tatsächlich Gottes Wort ist.
Gottes Wort kann man nicht besitzen.
Gott legt es einem in den Mund, wann und wo er will.
Dass es Gottes Wort ist, zeigt sich daran,
dass es etwas wachsen lässt in einem Menschen, dass es Menschen aufbaut.
Und es zeigt sich auch darin, dass es ausreißt und ausrottet,
was Menschen klein macht, ihnen das Menschsein abspricht.

Aber was hat man nun davon?
Was ist der Lohn für die Mühe, die man damit hat, Gottes Wort zu behüten?
Was hat Jeremia davon gehabt, dass er für Gottes Wort eingetreten ist?
Jeremia bekam Gottes Zusage:
„Fürchte dich nicht vor ihnen,
denn ich bin bei dir, um dich zu retten.“
Man sagt kleinen Kindern: Du brauchst doch keine Angst zu haben!
Wenn Sie an Ihre Kindheit zurückdenken, hat das geholfen gegen die Angst?
Nein, meistens nicht.
Die Angst war trotzdem da. Und sie ist geblieben.
Dass wir keine Angst zu haben brauchen, wissen wir - und haben sie trotzdem.
Weil wir die Erfahrung machen mussten, dass unsere Eltern uns nicht immer beschützen können.
Dass es Dinge gab, gegen die auch sie nichts aurichten konnten.

Gottes „Fürchte dich nicht vor ihnen“ ist kein „Du brauchst keine Angst zu haben“.
Es ist keine Zusage, es ist ein Befehl.
Aber man kann doch niemandem befehlen, keine Angst zu haben!?
Gott befiehlt Jeremia, auf die Macht seines Wortes zu vertrauen.
Das ist wie der Gang über einen schmalen Steg über einem reißenden Fluss: Man muss es wagen.
Wer das Wagnis eingeht, auf Gottes Wort zu vertrauen,
wird die Erfahrung machen, dass es die Angst vertreibt -
obwohl all das, was uns Angst macht, noch da ist,
und obwohl wir werden leiden müssen.
Gott ist bei uns, und Gott rettet uns.
Wer es wagt, auf diese Worte zu vertrauen,
den tragen sie, wie eine Brücke.
Das ist unser Lohn: Wir müssen keine Angst mehr haben
und wir erhalten die Fähigkeit, auch anderen die Angst zu nehmen.
Das ist doch gar nicht mal so schlecht, oder?