Samstag, 4. August 2018

Wenn viele gemeinsam träumen

Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 5. August 2018, über Jesaja 62,6-12

Liebe Schwestern und Brüder,

an den zwei größten jüdischen Feiertagen, dem Passafest und dem Versöhnungstag, wünscht man sich zum Schluss: „Nächstes Jahr in Jersualem“.
Die überall auf der Welt verstreut lebenden Menschen jüdischen Glaubens wünschen sich zweimal im Jahr, sie könnten das nächste Fest an dem Ort feiern, an dem es früher gefeiert wurde und der einst das Zentrum ihres Glaubens war. In Jerusalem stand der Tempel, in dem fast eintausend Jahre lang Israel seinem Gott begegnete. Unter König Salomo ca. 1.000 v.Chr. erbaut, wurde der Tempel 587 v.Chr. von babylonischen Truppen bei der Einnahme Jerusalems zerstört. Ab 538 v.Chr. begann man mit dem Wiederaufbau des Tempels. Noch einmal war er das Zentrum jüdischen Glaubens und Gottesdienstes, bis er im Jahr 70 n.Chr. von römischen Truppen ein weiteres Mal zerstört und bis heute nicht wieder aufgebaut wurde. Allein seine Westmauer, die sog. „Klagemauer“, steht heute noch.

„Nächstes Jahr in Jersualem“. Wenn für unseren christlichen Glauben der Ort, wo alles anfing, eine ebenso große Rolle spielen würde, wünschten wir uns an Weihnachten: „Nächstes Jahr in Bethlehem“ und zu Ostern: „Nächstes Jahr in Jerusalem”.
Auch für uns Christen ist Jerusalem ein wichtiger Ort. Weil Jesus im nur 10 km entfernten Bethlehem zur Welt kam. Weil er im Jerusalemer Tempel lehrte. Weil er auf dem Hügel Golgatha, damals in der Nähe Jerusalems, heute mitten im Stadtzentrum gelegen, gekreuzigt und begraben wurde und dort auferstand. Weil das Pfingstwunder sich in Jerusalem ereignete und sich dort die erste christliche Gemeinde bildete.

Jerusalem ist nicht nur ein wichtiger Ort für unseren Glauben. Es ist auch ein Sehnsuchtsort. Viele Christen träumen davon, die Orte zu sehen, die so eng mit dem Leben von Jesus verknüpft sind. Jerusalem ist auch das Zentrum der zukünftigen Welt. Im letzten Buch der Bibel schaut der Seher Johannes einen neuen Himmel und eine neue Erde und sieht „die heilige Stadt, das neue Jerusalem, von Gott aus dem Himmel herabkommen“ (Offenbarung 21,2). Seitdem verbinden sich die Hoffnungen und Träume auch der Christen mit Jerusalem. Der englische Dichter William Blake hat diesen Traum vom neuen Jerusalem in einer berühmten Hymne zusammengefasst hat, die mit der Musik von Hubert Parry so etwas wie eine zweite Nationalhymne der Briten geworden ist:
„Reicht mit den Bogen aus glänzendem Gold.
Bringt mir die Pfeile zum Abenteuer.
Bringt meinen Speer. Der sei mir hold.
Bringt mir den Wagen aus flammendem Feuer.
Ich werd nicht ruhen mit meinem Bemühn,
noch wird das Schwert schlafen in meiner Hand,
bis dass ich erbaut hab Jerusalem
auf Englands grünem, gnädigen Land”.*
Das Lied singt von der Zuversicht, das neue Jerusalem Wirklichkeit werden zu lassen. Nicht irgendwann und irgendwo, sondern zu Lebzeiten an einem ganz konkreten Ort. Es müssen nicht die grünen Hügel Englands sein. Immer wieder wollten Menschen das Reich Gottes anbrechen lassen - in Assisi z.B., in Münster oder in Taizé.
Aber so mitreißend, so bewegend dieses Lied ist, es singt von Gewalt und Krieg. Mit Ausnahme der friedliebenden Franziskanermönche in Assisi, der schwärmerischen Wiedertäufer in Münster oder der Brüder von Taizé, die sich um Frieden und Völkerverständigung bemühen, hat man das neue Jerusalem vor allem mit Gewalt erbauen wollen, mit Feuer und Schwert. Mit den Kreuzzügen fing es an. Und seither ist eigentlich jede militärische Intervention in einem anderen Land der erfolglose Versuch gewesen, mit Waffen so etwas wie ein neues Jerusalem zu schaffen, den Traum von Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit mit Gewalt wahr werden zu lassen.
Aber so lässt sich keine Stadt bauen, in der Gott zuhause ist. Jerusalem selbst ist dafür das beste Beispiel: Diese kleine Hauptstadt Israels lag immer schon zwischen den Interessensspähren der Großmächte. Jedes Mal, wenn sich die Macht im Süden mit der Macht im Norden anlegte, bekam es das kleine Israel ab: Heere zogen hindurch, raubten und plünderten, erst von Sünden nach Norden, dann von Norden nach Süden, oder umgekehrt. Jedes Mal mahnten die Propheten, auf Gott zu vertrauen und sich nicht mit einer der Großmächte zu verbünden; jedes Mal wurden sie ignoriert; jedes Mal bekam Israel dafür von der jeweils anderen Macht aufs Haupt.

Aber muss man seine Heimat, muss man seinen Traum nicht verteidigen? Muss man dazu nicht das Schwert in die Hand nehmen, damit andere nicht stehlen, was man mühsam erarbeitet, damit sie nicht verzehren, was man gepflanzt und angebaut hat? - Man wird es niemandem verdenken, wenn er sich wehrt; besonders, wenn es ihm ans Leben geht. So haben es auch die Rohrer gehalten, als sie die Mauer des ehemaligen Klosters erhöhten und verstärkten, um sich vor den Angriffen der Ungarn zu schützen, und später, im 30jährigen Krieg, vor den Plünderungen der sog. „Kroaten“. Manchmal - öfter, als einem lieb ist - muss man seinen Traum mit Gewalt verteidigen. Das erleben besonders die Israelis, deren Existenzrecht von einigen Ländern und Terrorgruppen bis heute bestritten wird. Manchmal muss man sein Leben verteidigen, um überhaupt weiter träumen und für eine bessere Welt arbeiten zu können. Aber, so recht man damit hat, sich zu wehren: Gewalt erzeugt immer wieder Gegengewalt. Irgendwann ist die Gewalt so allgegenwärtig, dass alle Opfer sind und alle Täter. Man kommt aus diesem Kreislauf nicht mehr heraus.
Deshalb lässt sich das neue Jerusalem nicht mit Gewalt bauen. Offenbar fällt es uns Menschen ganz allgemein schwer, einen Traum ohne Gewalt zu verwirklichen. Dabei geht es nicht um die nackte Gewalt der Waffen. Oft geht es um strukturelle Gewalt. Die meisten Träume, die wir träumen, kommen nur einer Gruppe von Menschen zugute und schließen andere aus. Die meisten Träume, die bisher verwirklicht wurden, entstanden auf dem Rücken von Menschen, für die sie ein Alptraum waren. Ob das nun die Kreuzzüge waren, die das Heilige Land „befreien” wollten, und alle sogenannten „Befreiungskriege“ seitdem; ob es die Traumschlösser der Herrschenden waren, die durch den Schweiß namenloser Arbeiter entstanden, von den Pyramiden bis zum Schloss Neuschwanstein; oder ob es der Traum so vieler Auswanderer von der Gründung einer Existenz, vom eigenen Stück Land in der „Neuen Welt“ war, für dessen Verwirklichung die Ureinwohner vertrieben und ermordet wurden. Daraus wurde der „amerikanische Traum”: Das angebliche Recht, seinen eigenen Traum mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verwirklichen - auch, wenn das auf Kosten anderer geht.

Wenn Menschen anfangen, ihre Träume zu verwirklichen, geht meistens etwas kaputt - gehen oft andere Menschen kaputt, die den Preis für diesen Traum bezahlen müssen. Jetzt geht auch noch unsere Erde kaputt, weil wir den Traum vom Wohlstand, vom Fortschritt und von grenzenloser Mobilität zu weit getrieben haben. Können wir denn gar nicht anders träumen? Geht es nur um den Preis, dass etwas, dass andere kaputt gehen?

Auch der Prophet Jesaja träumt. Der Autor, den man als „dritten Jesaja” bezeichnet und der lebte, als der Tempel nach seiner Zerstörung durch die Babylonier wieder aufgebaut wurde, begleitet mit seinen Worten die Verwirklichung eines Traumes. Was an seinen Worten bemerkenswert ist: Sie sprechen nicht von dem, was seine Zeitgenossen gerade tun - die Stadt Jerusalem und den Tempel wieder aufbauen. Sie sprechen von dem, was Gott tut:
„Für deine Mauern, Jersualem,     habe ich Wächter bestellt.
Sie ruhen nicht,     weder Tag noch Nacht.
Ihr, die ihr Gott erinnert,     gönnt euch keine Pause!
Gebt ihm keine Ruhe,     bis er Jerusalem befestigt
und ihren Ruhm     gemehrt hat auf der Erde.
Gott hat bei seiner rechten Hand geschworen     und bei der Macht seines Armes:
Ich gebe dein Korn nicht mehr     deinen Feinden zu essen,
und den Wein, um den du dich abgemüht hast,     werden nicht Fremde trinken.
Die geerntet haben, sollen essen     und Gott loben.
Die Trauben gelesen haben, sollen trinken     in den Vorhöfen meines Heiligtums.
Zieht hindurch, zieht hindurch durch die Tore!     Bahnt dem Volk den Weg!
Schüttet auf, schüttet auf die Straße!     Lest die Steine heraus!
Hebt hoch das Banner für die Völker!
Passt auf! Gott lässt sich hören     bis zu den Enden der Erde.
Sagt der Tochter Zion:     Sieh hin, deine Rettung kommt!
Da, sein Lohn ist bei ihm     und was er erwarb, ist vor ihm.
Man wird sie ’Heiliges Volk’ nennen,     ’Losgekaufte des Herrn’.
Dich aber wird man ’Begehrte’ nennen;     ’Stadt, die man nicht verlässt’.” **
Ähnlich klingt es auch im 127. Psalm:
„Wenn der Herr nicht das Haus baut, so arbeiten umsonst, die daran bauen.
Wenn der Herr nicht die Stadt bewacht, so wacht der Wächter umsonst” (Psalm 127,1).
Aber wie macht Gott das?
Wie baut Gott ein Haus - oder sogar eine ganze Stadt?
Die Steine fügen sich nicht aufeinander, wenn wir es nicht tun; da kann man warten, solange man will. Es kann also nicht gemeint sein, dass man die Hände in den Schoß legen soll. Das Bauen, das müssen wir schon übernehmen. Aber wie kommt dann Gott ins Spiel? - Indem man fragt, was Gott will. Denn wer nach Gott fragt, denkt in diesem Moment einmal nicht an sich. Wer Gottes Willen tun will, setzt dieses eine Mal nicht seinen eigenen Willen durch. Unsere Träume - so ehrenhaft, so gut gemeint sie sein mögen - entspringen unserem Willen, unseren Wünschen. Es sind nicht Gottes Träume. Wer seine eigenen Träume umsetzt, stößt notgedrungen an Grenzen, an die Träume und Wünsche der anderen. Und da kommt dann die Gewalt ins Spiel, die offene oder die strukturelle, mit der eine Seite sich durchsetzt.

Ein Traum, der ohne Gewalt auskommen will, muss also ein Traum sein, den viele miteinander teilen können, ein gemeinsamer Traum. Bei Jesaja ist es der Traum, dass man verzehren kann, was man gesät hat; dass man den Wein trinken wird, den man gelesen und gekeltert hat. Diesen Traum können alle teilen, die beim Säen und Ernten mit angefasst haben. Und auch jeder, der erleben musste, dass er um den Ertrag seiner Arbeit gebracht wurde.

Zu Jesajas Zeiten war die Welt noch einigermaßen überschaubar - auch, wenn damals schon Heere aus anderen Ländern in die kleine Welt Israels einfielen, plünderten und verwüsteten, wie sie es später auch mit der kleinen Welt des Dorfes Rohr taten.
Heute reicht es nicht mehr, sich auf eine Gruppe von Leidensgenossen, auf eine Gruppe Gleichgesinnter zu beschränken. Heute wissen wir, dass der Flügelschlag eines Falters in China bei uns einen Sturm auslösen kann; dass unser Autofahren für die Menschen auf den Südseeinseln den Untergang ihrer Heimat bewirkt. Wenn wir heute gemeinsam träumen wollen, dann müssen wir die Gemeinschaft weiter fassen als bisher, viel weiter: Wir müssen die ganze Welt im Blick behalten. Denn was wir heute tun, hat Auswirkungen auf alle Menschen.
Jeder Mensch träumt davon, die Früchte seiner Arbeit zu ernten und zu genießen, in jedem Volk, an jedem Ort der Erde.
Jeder Mensch träumt davon, in Frieden und Sicherheit zu leben.
Ohne Gottes Hilfe wird es uns nicht gelingen, diesen Traum zu verwirklichen.
Ohne dass wir nach Gottes Willen fragen, wird jeder Versuch, diesen Traum wahr werden zu lassen, mit Gewalt enden.
Daran erinnert uns Jesaja als Wächter über unsere Träume.
Er erinnert uns unermüdlich daran, nach Gott zu fragen und auf Gottes Verheißung zu vertrauen. Amen.

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*) Übersetzung von Irmela Brender, in: T.H.White, Das Buch Merlin, München (Knaur) o.J., S. 134
**) Im Hebräischen ist dieser Text ein Gedicht. Die althebräische Dichtung besteht aus dem „Parallelismus membrorum“; ich versuche das durch die Lücken im Text anzuzeigen.