Mittwoch, 11. Juli 2018

Klimaveränderung

Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 15. Juli 2018, über Philipper 2,1-4

Liebe Schwestern und Brüder,

das Klima unter uns ist rauer geworden; daran besteht wohl kein Zweifel. Der Ton, den Politiker anschlagen, aber auch die Auseinandersetzungen mit Andersdenkenden werden schärfer und härter. Man unterscheidet nicht mehr zwischen Person und Sache, sondern greift direkt die Person an.
Auch das Miteinander hat nachgelassen. Wehmütig denken die Älteren daran zurück, wie selbstverständlich man früher einander half; wie normal es war, sich zu treffen - auf der Straße, beim Einkaufen, in der Kneipe; wie gern und problemlos man in der Gaststätte Fremde am Tisch platznehmen ließ. Heute ist jeder für sich. Schon harmlose Nettigkeiten - der Wunsch der Tageszeit, die Frage nach dem Befinden - werden als Neugier, als übergriffig empfunden und schroff abgelehnt. In Hannover hatte neulich eine kirchliche Jugendgruppe die Idee, in der Nachbarschaft Blumen vor die Haustüren zu legen. Die Leute riefen die Polizei.
Enttäuschend und verstörend, dieses Misstrauen, diese Distanz unter den Menschen. Wer oder was könnte daran schuld sein an geschwundener Solidarität und fehlendem Mitgefühl?

I. Der erste Impuls ist oft, einen Sündenbock auszumachen, dem man die Schuld an der Misere geben kann. Aber damit ist das Problem nicht gelöst. Will man sich tatsächlich um eine Lösung bemühen, muss man nachdenken. Überlegen, was sich verändert hat (1), wer sich verändert hat (2) und warum es sich verändert hat (3).

(1) Wenn sich etwas verändert, muss es ein „Früher“ geben, an dem es anders war als heute. Scheinbar in jeder Generation hört man die Älteren sagen, dass es „früher“ besser war. Aber wann war dieses „Früher“? Und war „früher“ wirklich alles besser? Oder verklärt sich in der Rückschau die Vergangenheit, so dass man sich wehmütig nur an das erinnert, was schön war, das Schwere und Schlechte aber ausblendet und verdrängt?
Für das „Früher“ sollte man also besser auf eine neutrale Beschreibung zurückgreifen, die frei ist von solchen blinden Flecken. Wie wäre es z.B. mit dem Predigttext des heutigen Sonntages? Der Apostel Paulus beschreibt im Philipperbrief, was das Leben lebenswert macht:
„Wurdet ihr durch Christus getröstet,
erfuhrt Linderung durch die Liebe;
hattet ihr Gemeinschaft im Geist,
Mitleid und Mitgefühl,
dann macht meine Freude vollkommen,
indem ihr gleichgesinnt seid;
jeder von euch sich um Liebe bemüht;
indem ihr einig seid und das Eine erstrebt;
auch nicht selbstsüchtig und geltungssüchtig seid,
sondern einander in Demut zu übertreffen sucht;
nicht jeder das seine bedenkt, sondern jeder an den anderen denkt.“
Fünf Dinge zählt Paulus als Grundpfeiler der menschlichen Existenz auf:
1. man findet Trost;
2. man erfährt Liebe;
3. man erlebt Solidarität;
4. man erfährt Mitleid und hat Mitleid mit anderen und
5. man kann sich in andere hineinversetzen und erlebt, dass andere sich in die eigene Lage versetzen können.

II. Diese fünf Grundpfeiler sind ganz schön anspruchsvoll. Wie oft sucht man vergeblich nach Trost; wie vielen Menschen kam die Liebe abhanden, oder sie hofften vergeblich darauf; wie selten findet man Gleichgesinnte, und wie rar sind Mitleid und Mitgefühl! So selten diese fünf Dinge sind, ich denke, dass jeder Mensch sie braucht und für sich ersehnt: Liebe und Trost, Gemeinschaft, Mitleid und Mitgefühl. Ohne diese fünf Dinge kann man nicht glücklich sein; ohne sie ist das Leben nicht lebenswert.

Paulus setzt diese fünf so seltenen Dinge bei den Philippern glatt voraus, und er setzt noch eins obendrauf: Er fordert von den Philippern weit mehr als diese fünf, die ohnehin schon Mangelware sind:
Paulus möchte, dass unter den Philippern Einigkeit herrscht. Einigkeit in der Frage, was zu tun ist; Einigkeit über den Weg, wie es zu erreichen ist, und Einigkeit auch über das Ziel.
Er möchte, dass alle sich in gleicher Weise anstrengen und bemühen.
Und er möchte, dass jeder seine Interessen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellt.
Das alles klingt sehr nach den Idealen, die auch im Sozialismus propagiert wurden - und an denen der Sozialismus kolossal gescheitert ist. Mancher hier kann sich noch daran erinnern und kann aus eigener Erfahrung sagen: Was Paulus da von seinen Philippern verlangt, das funktioniert nicht. Im Sozialismus jedenfalls hat es nicht funktioniert.

III. (2) Es hat nicht funktioniert, und es wird nie funktionieren, dass der Einzelne seine Interessen zugunsten der Gemeinschaft zurückstellt. Alle Projekte, alle Träume von Gemeinsinn und Solidarität sind gescheitert. Und sie werden auch in Zukunft scheitern, und zwar an ihren Voraussetzungen: Der Mensch stellt seine Interessen nicht zurück. Der Mensch denkt zuerst an sich, und dann noch einmal an sich, und dann kommt eine ganze Weile gar nichts, und dann kommen - vielleicht - die anderen.
Manchmal kann man auch anders. Manchmal kann man sich zurücknehmen, für andere da sein, hilfsbereit, liebenswürdig, barmherzig sein. Aber nie für längere Zeit. Der Drang, vorkommen und sich zeigen zu müssen, gesehen und gelobt zu werden ist einfach zu groß, ebenso wie der Drang, zu bestimmen; zu tun, was einem gefällt; der Drang, die eigenen Bedürfnisse zu erfüllen. Das alles gehört so sehr zu unserem Menschsein, dass eine selbstlose Gemeinschaft, wie Paulus sie beschreibt, nur mit Zwang durchgesetzt werden kann. Und auch dafür bietet die Geschichte viele, mitunter schreckliche, Beispiele.

Wenn wir Menschen so sind, wie wir sind, dann gibt es keinen Sündenbock, weil alle Sünder sind. Dann ist niemand Spezielles schuld daran, dass das Klima unter uns rauer, die Hilfsbereitschaft seltener und der Gemeinsinn verloren gegangen ist. Sondern wir alle sind dafür verantwortlich, jede und jeder von uns. Wir bestimmen das Klima, indem wir darauf achten, wie wir miteinander sprechen und umgehen. Wir gestalten unser Miteinander, indem wir darauf achten, wo jemand Hilfe nötig hat, und unsere Hilfe anbieten; indem wir uns von unseren Sofas erheben, unsere Wohnzimmer verlassen und z.B. hier hinauf auf den Dolmar kommen, um andere zu treffen und miteinander zu feiern.

IV. (3) Wenn wir also zuletzt fragen, warum sich gegenüber „Früher“ so viel verändert hat, müssen wir uns an die eigene Nase fassen und uns fragen lassen: Warum haben wir uns so verändert? Was hat uns so hart gemacht, so unbarmherzig, wo wir doch auch freundlich und liebevoll sein können, und das eigentlich auch viel schöner ist und sich besser anfühlt, als abweisend und gemein zu sein?
Warum haben wir das Gefühl, zu kurz zu kommen? Warum sind wir so neidisch auf andere, wenn wir doch so viel besitzen und mit unserer Zeit oft nichts besseres anzufangen wissen, als sie vor dem Fernseher oder Computer zu verbringen?

Vielleicht liegt es daran, dass ein Traum zerplatzt ist, den wir alle einmal geträumt haben. Statt uns einzugestehen, dass es nur ein Traum war; dass er unrealistisch war, sich niemals hätte erfüllen können, sind wir böse auf die Welt und auf unsere Mitmenschen, weil sie uns unseren Traum kaputt gemacht haben.

V. Man kann nicht ohne Träume leben. Das ist die „Gemeinschaft im Geist“, von der Paulus schreibt und die zu den Grundpfeilern der menschlichen Existenz gehört. Man braucht einen gemeinsamen Traum, gemeinsame Ziele. Und gerade hier, bei den Träumen und Zielen, kann man uns so leicht manipulieren. Je unrealistischer der Traum, je größer das Ziel, desto eher scheint man bereit, mitzumachen - und desto wütender und brutaler verfolgt man jeden, der diesen Traum, dieses Ziel zu gefährden scheint.
Dabei brauchen wir gar keine großen Träume und Ziele. Wir sind glücklich, wenn unser Leben auf den fünf Grundpfeilern der Liebe, des Trostes, der Gemeinschaft, des Mitgefühls und des Mitleids ruhen kann. Deshalb besteht die Gemeinschaft im Geist nicht darin, dass man gemeinsam große Träume spinnt. Sie entsteht, wenn man feststellt: Das, was man sich wünscht und ersehnt, wünschen und ersehnen andere auch für sich: Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid.
Jesus hat das auf den griffigen Satz der „goldenen Regel“ gebracht:
„Alles, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun sollen, das tut ihr ihnen auch“ (Matthäus 7,12). 
Dieser Satz schien aber manchen nicht griffig genug, deshalb machten sie daraus: „Was du nicht willst, das man dir tu, das füg auch keinem andern zu“. Das ist aber nicht das, was Jesus gesagt hat. Jesus geht es nicht darum, das Böse zu lassen, sondern das Gute zu tun. Er setzt voraus, dass jeder bekommt, was er ersehnt, wenn er zuerst anderen gibt, was sie ersehnen.
Das kann natürlich nicht so funktionieren, dass man anderen etwas gibt, um etwas zu bekommen. Dann könnte man es gleich für sich behalten.
Das Geben, das Jesus meint, ist auf Dauer angelegt. Wenn Menschen auf Dauer so miteinander umgehen, entsteht ein Miteinander, das darauf aus ist, anderen Gutes zu tun, weil man selbst Gutes erfahren möchte. Man ist z.B. auch Fremden gegenüber freundlich, weil man vielleicht selbst einmal ein Fremder sein könnte und dann freundlich behandelt werden möchte. Man ist hilfsbereit auch gegenüber denen, die es eigentlich nicht verdienen, weil man selbst nicht immer Hilfe verdient, aber trotzdem nötig hat.

VI. Aber, werden Sie jetzt einwenden, das kann doch nicht funktionieren - ich habe es doch selbst gesagt: Der Mensch denkt zuerst an sich, nicht an andere. Freundlichkeit, Gutmütigkeit, Hilfsbereitschaft werden immer wieder ausgenutzt und missbraucht.
Ja, das ist so. Ich weiß das, weil ich selbst so bin. Auch ich habe Freundlichkeit oft nicht erwidert, habe schon Gutmütigkeit für mich ausgenutzt, habe Hilfe angenommen, ohne selbst zu helfen. Aber das heißt doch nicht, dass ich, dass wir nicht anders sein, anders handeln könnten! Wenn man erkennt und sich eingesteht, dass andere Menschen dasselbe ersehnen und wünschen wie ich, hat man einen ersten Schritt heraus getan aus dem Zwang, nur an sich denken zu müssen. Und wenn man dann noch erkennt, dass man nicht mehr Recht hat auf Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid als jeder andere, dann ist man bereit, auch anderen etwas Glück zu gönnen. Den Königsweg beschreitet schließlich der, der darauf vertrauen kann, dass das Gute, das man tut, irgendwie wieder zu einem zurück kommt, und man deshalb sozusagen in Vorleistung gehen kann, ohne Angst haben zu müssen, zu kurz zu kommen: „Alles, was ihr wollt, dass die Menschen euch tun sollen, das tut ihr ihnen auch“.

VII. Was man zum Leben braucht: Liebe, Trost, Gemeinschaft, Mitgefühl und Mitleid, fällt selten vom Himmel, fällt einem selten in den Schoß. Meistens kann man aber etwas dafür tun: trösten, lieben, Gemeinsinn beweisen, Mitleid empfinden und mit anderen mitfühlen. Das wird nicht automatisch zum Erfolg führen. Manchmal wird man sich fragen, ob es nicht sinnlos ist, was man tut, weil man so wenig Dank dafür erhält. Manchmal wird man sein Tun für vergeblich halten, weil man ausgenutzt wurde. Wenn man trotzdem dabei bleibt, wird es einen verändern. Wenn man sich die Zeit nimmt, anderen hin und wieder zu geben, was sie brauchen, und wenn man sich dabei von Fehlschlägen nicht entmutigen lässt, verändert es die Welt. Dann wird es wieder so schön, wie es früher einmal war - oder sogar noch schöner!