Predigt am Erntedanktag, 30.9.2018, über 1.Timotheus 4,4-5
Liebe Schwestern und Brüder,
finden Sie sich schön?
Eine indiskrete Frage, ich weiß. Ich erwarte auch nicht, dass Sie darauf antworten. Ich möchte Sie vielmehr anregen, sich selbst diese Frage zu stellen:
Finde ich mich schön?
Sehen Sie morgens im Spiegel die strahlenden Augen, die Lachfältchen, die geschwungenen oder vollen Lippen?
Oder sehen Sie die grauen Haare, die Schatten unter den Augen, die zu trockene oder zu fettige Haut, die Falten?
Wenn Sie sich im Spiegel sehen, fallen Ihnen dann Ihre kräftigen, zupackenden Hände oder Ihre feinen, grazilen Finger auf, Ihre schönen oder aufregenden Kurven, Ihre Beine, auf denen Sie flott gehen, sicher stehen können?
Oder sehen Sie den Bauchansatz, das nachgebende Bindegewebe, die Orangenhaut, die Besenreiser?
Was sehen wir, wenn wir in den Spiegel schauen?
Wagen wir, uns schön zu finden, oder sehen wir Mangel und Häßliches?
Und was sehen wir, wenn andere sich in unseren Augen spiegeln?
Der Predigttext aus dem 1.Timotheusbrief will uns lehren, neu und anders zu sehen:
„Jedes Geschöpf ist schön*, und man muss nichts verachten, wenn man es mit Dank annimmt. Denn es wird geheiligt durch das Wort und das Gebet.“
I. „Jedes Geschöpf ist schön“. Kann man das so pauschal behaupten? Es kann doch nicht jedes Geschöpf schön sein, oder? Die Kröte, der Aasgeier, die Hyäne, die Wildsau sind nicht schön, sondern hässlich und abstoßend.
Die Distel ist nicht schön, die Klette nicht und auch nicht der Dornstrauch.
Und es gibt sogar Menschen, die durch einen Unfall, durch eine Krankheit oder von Geburt an so „anders“ aussehen, dass man sie als entstellt empfindet, als hässlich.
Das Wort, das ich eben benutzt habe, ent-stellt, ist verräterisch. Es verrät, dass man von einer Norm ausgeht. Eine Norm, von der diese Menschen, die man als „entstellt“ bezeichnet, abweichen. Was man als „schön“ empfindet und als „schön“ bezeichnet, das ist oft das, was einer gewissen Norm entspricht. Sie steht nirgendwo aufgeschrieben, und doch hat sie jede und jeder verinnerlicht.
Frauen müssen ständig ertragen, dass man sie an dieser geheimen Norm misst und beurteilt. Aber so geheim ist sie ja gar nicht. Täglich wird uns durch die Werbung vor Augen geführt, wie eine Frau auszusehen hat. Frauen werden an einem Idealbild gemessen, nach dem die Venus von Milo, die über Jahrhunderte als das Maß weiblicher Schönheit galt, als „fett“ bezeichnet und zu keiner Modelschow zugelassen werden würde.
Venus von Milo |
Schönheit, wie wir sie heute verstehen, bedeutet, einer Norm zu entsprechen. Man legt eine Schablone an und überprüft, ob er oder sie in diese Schablone passt. Alles, was darüber hinausgeht, ist hässlich und muss weggehungert, wegtrainiert, weggeschnitten werden.
II. Der Predigttext vertritt einen anderen Begriff von Schönheit:
„Schön ist alles, was man mit Dank annimmt“.
Hier wird Schönheit nicht mit einer Schablone gemessen. Schönheit ist auch nicht etwas, was man hat oder eben nicht hat. Schönheit entsteht im Auge des Betrachters, und zwar dadurch, dass man für etwas dankbar ist. Darum ist Schönheit auch ein Thema für den Erntedank.
Schönheit entsteht dadurch, dass man dankbar ist. Das klingt kompliziert. Dankbarkeit und Schönheit haben gewöhnlich nichts miteinander zu tun. Wir tun uns überhaupt schwer mit der Dankbarkeit. In unserer heutigen Gesellschaft ist man nicht dankbar, sondern tüchtig. Dankbar müssen die Almosenempfänger sein. Der Tüchtige ist stolz darauf, dass er sich alles selbst erarbeitet hat. Er ist niemandem etwas schuldig und muss keinem dankbar sein. Jeder hat es selbst in der Hand, etwas aus sich und seinem Leben zu machen. Man soll nicht jammern, wenn man keinen Erfolg hat, sondern sich zusammenreißen und sich anstrengen.
Das gilt auch für den eigenen Körper. Der Körper ist zum Material geworden, das man gestalten kann und muss, durch Diäten, durch Sport, durch Körperpflege. Ein Bauchansatz ist ein Zeichen dafür, dass man sich nicht genug angestrengt hat. Und letztlich ist man auch selbst schuld, wenn man krank wird: Man hat dann eben einfach nicht genug für seine Gesundheit getan.
Wer so denkt, der ist überrascht und fassungslos, wenn einer, der alles richtig gemacht hat - Sport trieb, gesund lebte, regelmäßig zum Arzt ging - trotzdem krank wird. Und geradezu als Ungerechtigkeit erlebt man es, wenn ein übergewichtiger Kettenraucher ein hohes Alter erreicht. Nur die Wenigsten erkennen den Denkfehler hinter dieser Vorstellung: Man kann sich Gesundheit und ein langes Leben nicht verdienen. Das Leben ist und bleibt lebensgefährlich, und es endet immer tödlich. Man kann, statistisch gesehen, das Risiko einer Erkrankung vermindern. Aber dass das Risiko bei einem gesunden Leben um soundsoviel Prozent vermindert ist, bedeutet nicht, dass man nicht trotzdem krank wird und stirbt. Unser Leben ist täglich vom Tod bedroht -
„mitten wir im Leben sind von dem Tod umfangen“ -,
dagegen sind wir machtlos. Wir kommen mit unseren Mitteln und Fähigkeiten gegen den Tod nicht an, daran werden alle medizinischen und technischen Fortschritte nichts ändern.
Wir kommen aber gegen die Angst vor dem Tod an. Was gegen die Todesangst helfen kann, ist die Vorstellung, dass unser Leben in Gottes Hand ist. Gott hat es uns gegeben; Gott erhält es über den Tod hinaus und verwandelt es zu einem neuen Leben in der Auferstehung.
Gott hat uns das Leben geschenkt. Diese Vorstellung nennt die Bibel Schöpfung; Gott ist der Schöpfer und wir seine Geschöpfe. Damit will die Bibel nicht den Erkenntnissen der Biologie widersprechen. Sie weiß um die Sache mit den Bienchen und den Blümchen, und dass nicht der Klapperstorch die kleinen Kinder bringt. Der Bibel geht es um eine andere Sicht auf die Welt, wenn sie von der Schöpfung spricht. Es ist ja ein Unterschied, ob wir uns die Welt machen, widewidewie sie uns gefällt, ob wir allein unseres Glückes Schmied sind, oder ob wir unser Leben als ein Geschenk aus Gottes Hand ansehen und annehmen. Als Geschöpf ist man jedenfalls nicht zur Selbstoptimierung verpflichtet; man muss nicht immer besser, klüger, schöner werden, als man ist.
III. Wenn man sich als „Geschöpf“ denken und sehen gelernt hat, kann man auch für sich annehmen, was Gott nach dem ersten Schöpfungsbericht über seine ganze Schöpfung sagt: „Siehe, es war sehr gut“.
Als Gottes Geschöpfe sind wir gut - sogar sehr gut. Nicht, weil wir Besonderes geleistet hätten, nicht, weil wir es verdient hätten durch besondere Anstrengung oder Bemühung, durch die Herkunft aus einem bestimmten Land, durch die Erfüllung bestimmter Voraussetzungen, Gebote oder Normen. Wir sind gut so, wie wir sind - und obwohl wir so sind, wie wir sind. Wir sind gut, trotz aller unserer Fehler und Macken. Trotz allem, was uns hässlich macht und entstellt - und das ist nicht nur Äußerliches. Hässlich wird man vor allem durch Hass, durch Neid, durch Unmenschlichkeit. Aber Gott vergibt uns, was uns hässlich macht, wenn wir es bereuen, und so werden wir gut, sogar sehr gut. Und weil wir gut sind, sind wir auch schön. Und es wäre geradezu eine Beleidigung des Schöpfers, wenn wir sagen würden, wir sind es nicht.
Wie aber kann man schön sein, wenn man sich selbst nicht als schön empfindet? Wenn man nur das Hässliche sehen kann, die Fehler und Unzulänglichkeiten?
Hier kommt die Dankbarkeit ins Spiel. Die Dankbarkeit folgt nämlich aus einer veränderten Sicht auf das Leben:
„Dass unsre Sinnen wir noch brauchen können und Händ und Füße, Zung und Lippen regen“,
das verdanken wir nicht eigenem Können, eigener Leistung. Das versteht sich auch nicht von selbst, das haben wir weder verdient, noch haben wir darauf einen Anspruch, sondern
„das haben wir zu danken Gottes Segen“.
Wer für sein Leben, seine Gesundheit, seinen Körper Dankbarkeit empfinden kann, kann sich selbst so annehmen, wie er oder sie ist, und sich schön finden. Der oder die misst sich nicht an den Normen und Schablonen der Gesellschaft, sondern entdeckt, wie wunderbar es ist, diesen Körper zu haben. Diese Hände gebrauchen zu können. Wie wunderbar und keinesfalls selbstverständlich es ist, gehen und sehen zu können, riechen und schmecken.
IV. „Jedes Geschöpf ist schön“. Das kann man sich nicht selbst sagen, das muss man gesagt bekommen. Deshalb sind wir so empfänglich für Normen und Schablonen, weil sie uns sagen, wann und wie wir schön sind.
Aber Normen, die andere aufgestellt haben und die der Mode unterworfen sind, können nicht darüber entscheiden, wie wir in Wahrheit sind. Wir spiegeln uns nicht in den Augen der anderen, die uns nach ihren oft unmenschlichen Maßstäben messen. Wir spiegeln uns in den Augen der Liebsten, des Liebsten, und in den Augen Gottes, der uns mindestens ebenso liebt und zu einer jeden und einem jeden von uns sagt: „Sieh dich an: Du bist sehr gut. Du bist schön“.
Aber wann und wie sagt Gott uns das?
Gott spricht zu uns durch sein Wort, durch das Wort der Bibel und durch die Predigt, die das Bibelwort auslegt. Und er spricht zu uns im Gebet, wie es im Predigttext heißt:
„Man muss nichts verachten, wenn man es mit Dank annimmt. Denn es wird geheiligt durch das Wort und das Gebet“.
Im Griechischen Text steht für „Gebet“ das Wort εντευξις, das ursprünglich „Zusammenkunft, Zwiesprache“ bedeutet. Beten bedeutet also, Zwiesprache halten - eine Unterhaltung mit Gott. Wenn man sich unterhält, dann redet man nicht nur, dann hört man auch zu. Auch das Schweigen des anderen kann sehr beredet sein. Gott antwortet uns nicht, wenn wir beten. Aber in seinem Schweigen bedenken wir vor Gott, was wir gerade gesagt haben. Wenn wir uns unzulänglich fühlen, bedenken wir das im Angesicht von Gottes Vergebung. Wenn wir uns hässlich fühlen, hören wir Gottes „Siehe, es war sehr gut“. So verändert sich nicht nur unser Denken über uns. Wir überdenken auch unsere Sicht auf andere. Denn das „Siehe, es war sehr gut“ gilt ja nicht allein uns, es gilt allen Geschöpfen Gottes.
V. „Jedes Geschöpf ist schön“. Wer diesen Satz für sich annehmen und gelten lassen kann, wird auch seine Mitmenschen und Mitgeschöpfe mit anderen Augen sehen. Wird davor zurücksckrecken, einen anderen als „hässlich“ oder „fett“ zu bezeichnen. Wird sich scheuen und schämen, über einen Menschen mit einer Behinderung, einem Gebrechen zu lachen; einen Menschen mit ungewohntem Aussehen, anderer Hautfarbe zu verachten. Der wird auch mit Pflanzen und Tieren anders umgehen, sie nicht mutwillig quälen oder zerstören, sondern ihre Schönheit entdecken und sich an ihnen freuen.
Wer diesen Satz für sich gelten lassen kann, wird Schönheit nicht mit der Schablone messen, sondern mit dem Herzen, das besser sieht als unsere Augen. Wird Dankbarkeit empfinden für sein Leben, für Menschen und Tiere, die Welt, die uns umgibt. Dankbarkeit dafür, dass Gott über uns wie über seine ganze Schöpfung sagt: „Siehe, es war sehr gut“. Amen.
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