Samstag, 15. September 2018

Wie der Engel kommt

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 16.9.2018, über Apostelgeschichte 12,1-11

Liebe Schwestern und Brüder,

Was ist Auferstehung?
Jeden Sonntag bekennen wir uns zum Glauben an die Auferstehung mit den Worten:
„Ich glaube an die Auferstehung der Toten“. 
Aber was Auferstehung ist, davon haben wir bestenfalls eine vage Vorstellung.
Wirklich wissen, was Auferstehung ist, tun wir nicht.
Wie sollten wir auch?
Es ist ja die Auferstehung der Toten; wir aber leben.
Dass nach unserem Tod noch etwas kommt, kann uns trösten.
Aber was dann kommt, und wie es sein wird, das können wir nicht wissen.

Also ist es doch müßig, zu fragen, was Auferstehung ist,
wenn wir es ohnehin erst nach unserem Tod erfahren
und niemandem mehr davon erzählen können.
Aber was nützt uns dann der Glaube an die Auferstehung?
Warum ist er so wichtig, dass der Apostel Paulus schrieb:
„Gibt es keine Auferstehung der Toten,
so ist auch Christus nicht auferstanden.
Ist aber Christus nicht auferstanden,
so ist unsere Predigt vergeblich,
so ist auch euer Glaube vergeblich“
(1.Korinther 15,13-14).

Offenbar muss man unterscheiden zwischen der Auferstehung der Toten,
von der wir nichts wissen können, weil sie erst nach dem Tod stattfindet,
und der Auferstehung Christi, von der wir sehr wohl etwas wissen.
Zwischen beiden besteht eine Verbindung: Jesus.
Jesus ist der Vorläufer der Auferstehung.
Er ist uns vorangegangen in ein neues Leben bei Gott.
Weil er auferstanden ist, werden auch wir nach unserem Tod auferstehen.
Und es besteht ein Unterschied zwischen beiden:
Unsere Auferstehung erwarten wir erst nach dem Tod.
Die Auferstehung Jesu aber hat etwas mit unserem Leben zu tun.
Sie ist, wie Paulus schreibt, das Fundament unseres Glaubens.
Auf welche Weise ist sie das?
Davon berichtet eine Erzählung aus der Apostelgeschichte im 12. Kapitel:

„In diesen Tagen begann König Herodes, einige aus der Gemeinde zu malträtieren.
Er tötete Jakobus, den Bruder des Johannes, mit dem Schwert.
Als er sah, dass das den Juden gefiel, verhaftete er auch noch Petrus.
Es waren aber die Tage der ungesäuerten Brote.
Nachdem er seiner habhaft geworden war, warf er ihn ins Gefängnis
und übergab ihn viermal vier Soldaten zur Bewachung.
Nach dem Passafest wollte er ihn dem Volk vorführen.
Paulus wurde also im Gefängnis bewacht.
In den Gemeinden aber wurde für ihn intensiv zu Gott gebetet.
In der Nacht, bevor Herodes ihn vorführen wollte,
schlief Petrus zwischen zwei Soldaten.
Er war mit zwei Ketten gefesselt.
Außerdem bewachten Posten vor der Tür die Zelle.
Da, plötzlich, stand ein Engel da, und Licht erstrahlte in der Zelle.
Der Engel stupste Petrus in die Seite, um ihn zu wecken,
und sagte: ‚Steh schnell auf!‘
Da fielen ihm die Ketten von den Händen.
Der Engel sprach zu ihm: ‚Zieh den Gürtel stramm und die Sandalen an‘.
Petrus tat es. Und der Engel sprach: ‚Zieh deinen Mantel an und folge mir!‘
Petrus verließ die Zelle und folgte ihm.
Er wusste aber nicht, ob es wirklich geschah;
wegen des Engels schien es ihm, als träume er.
Sie passierten die erste Wache und die zweite
und kamen zum eisernen Tor, das in die Stadt führt.
Das öffnete sich ihnen von selbst.
Sie traten ins Freie und gingen eine Straße entlang.
Gleich verließ ihn der Engel.
Da kam Petrus zu sich und sagte sich:
‚Jetzt weiß ich wahrhaftig, dass der Herr seinen Engel schickte
und mich aus Herodes‘ Hand befreite
und von allem, was das Volk der Juden gern gesehen hätte‘.“

Petrus wird beim Fest der ungesäuerten Brote verhaftet.
Das Fest der ungesäuerten Brote ist das Passafest,
zu dem jedes Haus von Sauerteig gereinigt wird.
Von diesem Brauch stammt unser „Frühjahrsputz“ her
und unser „Großreinemachen“.
Diese Zeitangabe ist kein Zufall:
Vor dem Passafest wurde auch Jesus verhaftet.
Petrus soll am Tag nach dem Fest
dem Volk bei einem „Volksgerichtshof“ zur Verurteilung vorgeführt werden.
Der Tag nach dem Fest, das ist der Sonntag:
Der Tag der Auferstehung Jesu.
Wie die Geschichte erzählt, kommt es nicht zur Verurteilung.
In der Nacht zum Sonntag findet die wunderbare Befreiung
von Petrus aus dem Gefängnis statt,
so, wie Jesus in der Nacht zum Sonntag auferweckt wurde,
so dass am Ostermorgen das Grab leer war.

Es kann also kein Zufall sein,
dass Petrus ausgerechnet zum Passafest ins Gefängnis geworfen wird,
und dass er ausgerechnet in der Nacht zum Sonntag, dem Tag der Auferstehung,
daraus befreit wird.
Die Geschichte von der Befreiung des Petrus aus dem Gefängnis
ist eine Auferstehungsgeschichte.

Aber geht es bei der Auferstehung nicht um die Auferstehung von den Toten?
Wie kann die Befreiung aus dem Gefängnis eine Auferstehung sein?
Nun, zuerst einmal könnte man sagen,
dass Petrus dem Tod noch einmal von der Schippe gesprungen ist.
Der Prozess, den Herodes ihn am Sonntag Morgen machen wollte,
hätte sicher nicht anders geendet als der Prozess,
den Pilatus Jesus gemacht hatte: Mit seinem Tod am Kreuz.
Und tatsächlich berichtet die Legende,
dass Petrus später den Kreuzestod erlitten hat.
Und dass er aus Ehrfurcht und Liebe zu Jesus darauf bestand,
umgekehrt gekreuzigt zu werden, mit dem Kopf nach unten.

Peter Paul Rubens, Die Kreuzigung Petri
Quelle: https://commons.wikimedia.org/wiki/File:Peter_Paul_Rubens-Die_Kreuzigung_Petri.jpg

Auch sonst passt der Vergleich der Befreiung aus dem Gefängnis mit der Auferstehung.
Wer im Gefängnis einsitzt, ist für die Gesellschaft gestorben.
Mit einem Straftäter will niemand etwas zu tun haben.
Seine Gefährlichkeit für die Gesellschaft ist der Grund,
warum er hinter Schloss und Riegel sitzt.
Bis auf die wenigen Menschen,
die eventuell noch Kontakt zu dem Gefangenen haben und halten,
weiß und interessiert sich niemand dafür, wie es ihm geht.
Und, so das allgemeine Empfinden, das ist auch gut so;
er hat es nicht besser verdient.
Dabei wird vergessen, dass dort ein Mensch einsitzt.
Ein Mensch, der vielleicht schreckliche Dinge getan,
das Menschsein anderer mit Füßen getreten hat.
Aber dennoch ein Mensch, der darunter leidet, dass er vergessen ist,
für seine Mitmenschen so gut wie tot.

Ähnlich fühlen Menschen, die durch eine schwere Krankheit,
eine Behinderung oder durch ihr Alter an ein Krankenbett,
an ihre eigenen vier Wände gefesselt sind:
Sie fühlen sich allein gelassen, vergessen;
für die Mitmenschen so gut wie tot.

Werden solche Menschen wieder gesund;
erhalten sie die Möglichkeit, dem Gefängnis ihrer eigenen vier Wände zu entkommen
oder werden sie aus dem Gefängnis entlassen,
kann sich das für sie wie ein neues Leben anfühlen.
Eine Auferstehung, mitten im Leben.

Es gibt eine Auferstehung im Leben.
Darauf deutet auch das Griechische hin,
in dem die Geschichten von der Auferstehung überliefert sind:
Auferweckung und das Wecken aus dem Schlaf sind im Griechischen das selbe Wort,
ebenso wie Aufstehen und Auferstehen.
Im Deutschen ist es ähnlich.
Das Wecken steckt in der Auferweckung,
das Aufstehen in der Auferstehung mit drin.
Wenn der Engel Petrus in die Seite stupst, um ihn zu wecken,
geschieht in diesem Moment auch seine Auferweckung zu einem neuen Leben.

Auch heute warten Menschen darauf, dass ein Engel zu ihnen kommt,
sie anstupst und sie zu einem neuen Leben erweckt.
Nicht nur die in einer Zelle oder in ihrem Körper Gefangenen.
Nicht nur die durch eine Krankheit oder eine Behinderung Isolierten,
nicht nur die an Einsamkeit Leidenden.
Auch Menschen, deren Seele sich verdüstert hat,
die an einer Depression erkrankt sind;
auch Menschen, deren Beziehung heillos zerrüttet ist
und die keinen Ausweg mehr sehen;
Menschen, die verstrickt sind in Schuld;
denen die Schulden über den Kopf wachsen;
die sich mit ihrer Familie oder mit den Nachbarn zerstritten haben.
Aber kein Engel kommt.
Engel kommen nur zu den Heiligen,
kommen nur in den Geschichten, die zu wunderbar sind,
als dass man sie glauben könnte.

Wie kommt der Engel zu Petrus?
Erzählt die Geschichte etwas darüber?
Scheinbar kommt er aus dem Nichts, ist ganz plötzlich einfach da.
Aber vorher wird erzählt:
„In den Gemeinden wurde für Petrus intensiv zu Gott gebetet“.
Der Engel kommt, weil die Gemeinde intensiv für Petrus betet.
Sie haben ihn nicht vergessen, nachdem er ins Gefängnis geworfen worden war -
im Gegenteil: Sie denken jetzt ganz besonders an ihn.

Der Engel kommt, wenn Menschen nicht vergessen werden.
Es kommt sicherlich kein Engel vom Himmel - da hilft alles Beten nichts.
Aber wenn man vor Gott wirklich intensiv an einen Menschen denkt,
wird es geschehen, dass einer oder eine sich aufmacht und hingeht
und so für diesen Menschen zu einem Engel wird.

Das Gebet macht Menschen zu Engeln.
Nicht das Gebet eines Einzelnen,
der oder die sich verpflichtet oder genötigt fühlt, sich zu kümmern.
Sondern das Gebet einer Gemeinschaft, einer Gemeinde,
der dieser Mensch fehlt; die ihn oder sie wirklich vermisst.

Zur Intensität des Gebetes gehört die Intensität des Vermissens.
Wir müssen es wohl erst wieder lernen, einander zu vermissen;
einander so wichtig zu nehmen, dass wir merken, wenn jemand fehlt,
und dass wir ihn oder sie vermissen.
Wenn wir gelernt haben, einander zu vermissen,
werden wir füreinander zu Engeln.
Dann werden wir erfahren und erleben,
dass es Auferstehung mitten im Leben gibt.
Lassen Sie uns daran festhalten.
Lassen Sie uns daran glauben.

Amen.