Sonntag, 14. Oktober 2018

Das Leben - ein Gewebe

Das Leben - ein Gewebe. Eine Ansprache zur Trauerfeier, Jesaja 38,12
Textgrundlage, auch als Eingangspsalm: Das Lied Hiskias, Jesaja 38,10-20


Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,

blickt man auf ein Leben zurück,
stellt man es sich als Weg vor.
Sieht man voraus auf den Lebensweg, der vor einem liegt,
erscheint er einem als gerade, ebene Straße.
Vielleicht warten irgendwo in der Ferne
Abzweigungen oder Weggabelungen.
Aber der Abschnitt,
der vor einem liegt und den man überschauen kann,
ist immer kerzengerade.
Sogar dann, wenn man unmittelbar
vor einer Veränderung im Leben steht.

Blickt man aber zurück,
sieht man, wie der Lebensweg,
der im Blick nach vorn so kerzengerade scheint,
sich windet und schlängelt,
wie er durch Täler und über Gipfel führt.
Wie viele Abzweigungen man genommen hat
und wie viele Kurven und Umwege man gehen musste.
Und dass der Weg nicht eben war,
sondern oft holprig und voller Steine und Schlaglöcher.

Im Rückblick erscheint einem das Leben als ein Weg.
Aber es ist nicht nur ein Weg,
sondern ein Geflecht von Wegen.
Man geht ja nicht allein durchs Leben.
Andere gehen mit.
Ihr Lebensweg läuft streckenweise neben unserem her.
Dicht daneben, oder mit größeren Abstand,
je nach der Nähe und dem Verhältnis,
das man zueinander hat.
Manchmal bricht so ein Weg plötzlich ab -
wenn ein Mensch, der uns nah ist, stirbt;
wenn eine Freundschaft endet, eine Beziehung zerbricht;
wenn jemand in einen anderen Ort, ein anderes Land zieht.

Andere Wege kreuzen den eigenen Lebensweg -
manche nur einmal,
andere öfter oder sogar regelmäßig.
Deshalb müsste man statt von einem Lebensweg
oder von einem Geflecht von Wegen
besser von einem Gewebe sprechen,
wenn man auf das Leben eines Menschen zurückblickt.
Ein Gewebe, in dem der eigene Lebensweg ein Faden ist,
untrennbar verflochten mit vielen anderen Lebensfäden,
die parallel oder quer zum eigenen Lebensfaden verlaufen.

So verflochten war Ihr Leben auch
mit dem von N.
Ihre Lebensfäden liefen dicht neben seinem,
oder sie kreuzten ihn nur ab und zu.
Jetzt, wo sein Lebensfaden abgerissen ist,
blicken wir auf das Gewebe, das sein Leben war,
wie es verflochten war mit Ihrem.
Wir entdecken den Lauf unseres eigenen Lebensfadens
in diesem Gewebe,
und wir betrachten das Muster,
das die vielen Fäden ergeben.

(…)

Er war nicht allein,
weil da noch jemand an seiner Seite war.
Den hat er nicht gesehen,
von dem hat er vielleicht auch nichts gespürt.
Wenn man leiden muss, erscheint einem Gott oft sehr fern;
man hat das Gefühl, von Gott verlassen zu sein.
Und wenn man mit ansehen muss, wie jemand leidet,
ohne dass man ihm helfen
oder es ihm leichter machen kann,
fragt man oft nach dem Warum -
obwohl man weiß,
dass es auf diese Frage keine Antwort gibt.

Selbst Jesus hat sich am Kreuz von Gott verlassen gefühlt.
Auch er hat gefragt: Warum?
Warum hast du mich verlassen?
Aber Gott war da.
Gott war auch bei N.
Immer war er da, an seiner Seite.
Warum war dann von Gott nichts zu spüren?
Warum musste er so leiden?

Gott greift nicht ein.
Zur Freiheit unseres Lebens
gehört auch die Freiheit unserer Entscheidungen.
Wie Eltern ertragen müssen,
dass ihr Kind seinen eigenen Weg geht,
so erträgt Gott, dass wir unsere Wege gehen -
Wege, die oft ins Leiden führen
für uns und für Menschen, die wir eigentlich lieben.

Trotzdem bleibt Gott an unserer Seite,
auch, wenn Menschen uns verlassen;
wenn sie unseren Lebensweg missbilligen.
Gott hält bei uns aus,
wie Sie an N.s Seite ausgehalten haben -
gerade in den Momenten,
in denen Sie hatten eingreifen, hatten helfen wollen,
ihm aber nicht helfen konnten.

Gott bleibt an unserer Seite
und läuft als roter Faden im Gewebe unseres Lebens
neben unserem Lebensfaden her,
meistens, ohne dass wir es bemerken.

Sein roter Faden gibt dem Gewebe unseres Lebens Richtung und Ziel.
Und er gibt dem Gewebe die Farbe -
so, wie Ihre Lebensfäden,
die mit dem Leben von GN. verwoben sind,
seinem Lebensgewebe Farbe geben,
so dass es bunt schillert.
N. hat auch Ihrem Leben Farbe gegeben,
denn sein Lebensfaden läuft ja im Gewebe Ihres Lebens mit.

Das Gewebe des Lebens von N.
leuchtet noch einmal in seiner Buntheit und Vielfalt auf.
Wir sehen, wie sich durch sein Leben ein roter Faden zieht,
der sich auch im Gewebe unseres Lebens findet:
Gott, der unbemerkt an seiner Seite war
und zu dem er jetzt heimgekehrt ist.

Bei Gott wird das Gewebe seines Lebens aufbewahrt.
Bei Gott wird es sich verwandeln
in einen wunderbaren Stoff,
der schillern, strahlen und glänzen wird:
in dem es keine abgerissenen Fäden mehr gibt,
keine Fehlstellen und Löcher.

Und weil das Leben ein Gewebe ist,
bleiben auch wir mit N. verbunden.
Ein Faden seines Lebens
läuft ja auch im Gewebe unseres Lebens mit.
Wenn er jetzt auch abgerissen ist,
gibt er unserem Lebensgewebe doch
seine einzigartige Färbung,
sein einmaliges Muster,
seine besondere Struktur.
Bis eines Tages auch unser Leben
seinen roten Faden offenbaren und von Gott
zu einem ewigen Leben verwandelt werden wird.

Bei Gott ist N. geborgen.
Er heilt alle Schmerzen und alles Leid.
Gott heilt die Wunden, die ihm zugefügt wurden.
Gott wird auch die Verletzungen heilen,
die er anderen zugefügt hat.
So können wir ihn gehen lassen in Frieden,
und so können wir jetzt, oder eines Tages,
auf sein Leben in Frieden zurückschauen
wie auf unseres, mit dem es verwoben ist.

Amen.