Freitag, 2. November 2018

Von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat

Predigt am 23. Sonntag nach Trinitatis, 4.11.2018, über Römer 13,1-7:

Jeder muss sich der übergeordneten Obrigkeit unterordnen.
Es gibt nämlich keine Obrigkeit, die nicht von Gott [zugelassen worden] ist;
[auch] die derzeitige ist von Gott verordnet.
Wer der Obrigkeit Widerstand leistet, widersetzt sich darum der Anordnung Gottes.
Wer sich aber widersetzt, wird sein Urteil empfangen.
Die gute Tat muss die Obrigkeit nicht fürchten, sondern die schlechte.
Willst du keine Angst vor der Obrigkeit haben müssen?
Tu das Gute, und du wirst von ihr gelobt werden.
Für dich ist sie nämlich ein Instrument Gottes zum Guten.
Wenn du aber das Schlechte tust, hüte dich!
Sie trägt das Schwert nicht umsonst!
Für den, der schlecht handelt, ist sie nämlich ein Instrument Gottes,
das zur Strafe überführt.
Darum muss man sich unterordnen,
nicht nur wegen der Strafe, sondern auch des Gewissens wegen.
Deshalb zahlt ihr ja auch die Steuern.
Denn [die Finanzbeamten] sind Diener Gottes,
die eben damit ihren [göttlichen] Auftrag wahrnehmen.
Erfüllt alle Pflichten:
Gebt Steuer, wem Steuer, und Zoll, wem Zoll gebührt;
Respekt, wem Respekt, und Ehre, wem Ehre gebührt.


Liebe Schwestern und Brüder,

wer hätte gedacht, dass Paulus so ein Spießer ist: Bloß nicht auffallen! Bloß keinen Ärger mit den Behörden, mit der Obrigkeit!
Dabei war Paulus eigentlich gar nicht so bieder, im Gegenteil: Er hatte ständig Ärger mit den Behörden, war mehrfach vorbestraft und etliche Male im Gefängnis. Auch den Brief an die Römer hat er wahrscheinlich aus dem Knast geschrieben.

Wenn Paulus so schlechte Erfahrungen mit der Obrigkeit gemacht hat, wie kommt er dann dazu,
von der Pflicht zum Gehorsam gegenüber dem Staat zu sprechen? Und auch noch zu behaupten, die Obrigkeit wäre von Gott verordnet, und die staatlichen Beamten, die Polizisten, Zöllner und Finanzbeamten, wären im Auftrag des Herrn unterwegs?

Eine erste Antwort könnte sein: Er mahnt zum Gehorsam, weil er selbst so schlechte Erfahrungen mit dem Ungehorsam gemacht hat. Paulus möchte nicht, dass die Gemeinde in Rom so mit dem Gesetz in Konflikt gerät wie er. Vor allem möchte er nicht, dass sie die Folgen tragen und ertragen muss: Die Bestrafung, das Gefängnis. Vielleicht befürchtet er auch, dass die Maßnahmen und Strafen in Rom, der Hauptstadt des Imperiums, drakonischer ausfallen könnten als in der Provinz. Und so ist es ja später auch gekommen: Die Ermordung von Christinnen und Christen durch wilde Tiere war eine beliebte Showeinlage im römischen Circus Maximus.

Wenn das der Grund für die Mahnung zum Gehorsam war, dann schreibt Paulus sozusagen als Seelsorger. Es ist zwar nicht seine Gemeinde, die Gemeinde in Rom, aber er empfindet eine Verantwortung für sie. Er möchte ihnen Kummer und Leid ersparen - verständlich, dass er dazu rät, den Ball flach zu halten und sich zu fügen.

II. Aber, bei allem Verständnis für die Vorsicht, die Paulus walten lässt, muss er die Römer deshalb gleich zu Untertanen machen? Es würde ja reichen, den Behörden aus dem Weg zu gehen. Aber zu behaupten, die Staatsbeamten würden im Auftrag Gottes handeln, damit schießt Paulus über das Ziel hinaus. Paulus hat sich selbst mit den Behörden angelegt – warum sollen es die Christen in Rom nicht auch tun?
Es ist ein Unterschied, ob man selbst etwas tut und die Folgen seines Tuns tragen und ertragen muss, oder ob man andere, womöglich vom sicheren Schreibtisch aus, zum Tun anstiftet und sie die Folgen tragen lässt. Um des Glaubens willen Nachteile in Kauf nehmen zu müssen, verfolgt oder gar getötet zu werden, dazu kann und darf man niemanden überreden. Gerade, weil z.B. im Nahen Osten Selbstmordattentäter auf diese Weise manipuliert werden, kann man da gar nicht vorsichtig genug sein.

Ob man für seinen Glauben einsteht, und wie weit man dafür bereit ist zu gehen, kann nur jede und jeder selbst entscheiden. Insofern ist Paulus ein guter Seelsorger, wenn er die Gemeinde in Rom nicht dazu auffordert, seinem Beispiel zu folgen.

III. Damit ist aber immer noch nicht erklärt, warum Paulus den Staat so in den Himmel hebt,
wie er es zu tun scheint. Jedenfalls wurde er über die Jahrhunderte hinweg so verstanden,
als seien der Staat und seine Vertreter quasi von Gott eingesetzt. Darum verlangte man von den Bürgern den gleichen Gehorsam dem Staat gegenüber, wie er Gott entgegengebracht werden sollte.
Im Gottesdienst wurden staatliche Verordnungen und Pamphlete abgekündigt. Evangelische Pfarrer waren Staatsbedienstete. Und viele Pfarrer gingen so weit, Waffen zu segnen und die staatliche Propaganda auch von ihren Kanzeln zu predigen.
Von dieser Haltung, der Staat und seine Vertreter seien von Gott verordnet, ist es nur noch ein kleiner Schritt zu der Auffassung, der Staat selbst sei von Gott geschaffen und die Staatsdiener somit quasi unmittelbar zu Gott, unantastbar und unfehlbar.

Paulus hat eine solche Haltung nie vertreten. Das wäre auch ein Wunder, nach allem, was er von der Obrigkeit erlitten hat. Offenbar muss man seinen Satz:
„Es gibt keine Obrigkeit, die nicht von Gott [zugelassen worden] ist;
[auch] die derzeitige ist von Gott verordnet”,
ganz anders verstehen, als er früher verstanden worden ist.

Dazu muss man zunächst wissen, dass der Staat, in dem Paulus lebte, kein moderner Rechtsstaat war wie unserer. Es galt nicht gleiches Recht für alle. Römische Bürger wurden anders behandelt als die Menschen in den besetzten Gebieten, und diese wiederum anders als die Sklaven, die so gut wie keine Rechte hatten.
Für die Menschen zu Paulus’ Zeiten war der Staat nicht, was er für uns heute ist: eine die Bürger und das Zusammenleben schützende Einrichtung. Damals war der Staat etwas, das man ertragen musste wie das Wetter, und man überlebte nicht wegen, sondern eher trotz des Staates.

IV. Wenn Paulus fordert, sich einem solchen Staat unterzuordnen, dann ist das zunächst einmal ein realistisches Einschätzen der Kräfte. Der Staat ist immer der Stärkere, und einem Stärkeren gegenüber, der bereit ist, zuzuschlagen, hält man besser den Mund, wenn man keinen Ärger haben will. Zugleich erwartet aber auch niemand, dass man einem solchen Staat Sympathie entgegenbringt.
Wenn Paulus Unterordnung fordert, heißt das nicht, dass man den Staat auch noch gut finden soll. Gerade in dieser aus der Not geborenen Unterordnung kommt zum Ausdruck, dass der Staat nicht das ist, was man sich vom Leben erhofft und ersehnt. Der Staat, so gut und vollkommen er sein mag, ist niemals das Reich Gottes auf Erden.

Das ist der große Irrtum, dem man immer wieder verfällt: Zu glauben, weil wir in Wohlstand und Frieden leben, mit einer funktionierenden Kranken- und Altersversorgung, wäre dies die beste aller möglichen Welten, lebten wir fast schon im Paradies. Und es wäre nur noch eine Frage der Zeit,
des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Fortschritts, bis wir tatsächlich das Paradies auf Erden geschaffen hätten.
Das ist ein tragischer Irrtum.
Alle Versuche, die Welt besser zu machen, sie überhaupt vor uns Menschen zu retten und sie vor Raubbau, Verschmutzung und Zerstörung zu bewahren, haben – unausgesprochen oder explizit – zum Ziel, das Paradies auf Erden zu schaffen. Und genau das kann und wird nie gelingen. Weil wir Menschen sind. Und weil wir als Menschen den Naturgesetzen unterworfen sind. Weil wir leiden, krank werden und sterben müssen. Weil wir einen Körper haben und eine Psyche, die ziemlich oft einfach machen, was sie wollen, ohne dass wir das groß beeinflussen könnten.

V. Die Welt ist voller Leid, das Leben ist ungerecht, schmerzhaft und endlich. Das zu erkennen, tut weh. Aber es ändert nichts daran, dass es so ist - auch wenn es uns momentan gut geht. Und weil es uns gut geht, denkt man, das gehöre sich so, das müsse immer so sein. Das Gute, das Glück, die Gesundheit seien die Regel; Krankheit, Leid und Schmerz seien die Ausnahme.
Aber es ist genau andersherum.

Vielleicht kommt daher das Erschrecken, die Verbitterung, wenn einem Leid widerfährt. Man ist der Meinung, das habe man nicht verdient. Man hat doch so viel Sport getrieben, so gesund gelebt – warum wird man dann krank? Man hat doch so viel Gutes getan, oder jedenfalls niemandem etwas Böses - warum passiert einem dieses Unglück?
Aber die Tatsache ist: Niemand hat Leid verdient. Und trotzdem passiert es ständig. Weil das Leben nun einmal so ist.

Ebenso ist der Staat nicht immer nur gut. Er ist gut, wenn ich ein guter Staatsbürger bin. Aber wenn ich einmal nicht so will wie der Staat, dann zeigt er seine Zähne. Von unserem Staat haben wir - abgesehen von dem einen oder anderen Strafzettel, von Steuern und Abgaben, die er von uns fordert - nichts zu befürchten. Und trotzdem ist der Staat eine Macht, die einem entgegentreten kann.
Die einem die Ausreise, das Recht verweigern kann. Die einen bespitzeln kann, einem Chancen verwehren kann. Denn Staatsdiener sind auch nur Menschen.

Paulus fordert nicht dazu auf, den Staat als von Gott verordnet anzusehen, um ihm dadurch besondere Weihen zu geben, ihn quasi in den Himmel zu heben.
Sondern um uns deutlich zu machen: Wie bei allem, was von Gott eingesetzt ist, kann der Mensch auch gegen den Staat nichts tun. Der Staat ist wie das Wetter: Man muss ihn ertragen.

Für uns Christinnen und Christen ist der Staat nicht das letzte, auch nicht diese Welt – so schön sie ist. Er ist immer nur etwas Vorläufiges und Vorletztes. Wir warten auf das Reich Gottes und wissen: Es ist ganz anders als diese Welt. Es wird nicht in dieser Welt entstehen - dazu muss die Welt sich erst grundsätzlich ändern und neu werden, und das kann sie nicht von selbst, das können wir nicht machen.

VI. Paulus hat die Gemeinde in Rom dazu aufgefordert, den Staat als ein notwendiges Übel anzusehen, an dem man wachsen kann, wenn man es akzeptiert. Was er nicht sehen und sich vielleicht – trotz all seiner schlechten Erfahrungen - nicht vorstellen konnte, war, dass der Staat einmal einen so umfassenden Anspruch  auf seine Bürger erheben würde, dass er so totalitär werden würde, dass man dem Rad in die Speichen fallen musste, um Menschenleben vor dem Staat zu retten und seine Menschlichkeit nicht zu verlieren.
Die wenigsten haben sich das damals getraut. Das unselige Missverständnis dieses Textes von Paulus
hat damals – neben der Angst vor dem Staat – dazu geführt, dass so wenige Christinnen und Christen sich für ihren Glauben eingesetzt haben.

Nach den Erfahrungen mit dem sogenannten „Dritten Reich” stehen wir heute dem Staat viel kritischer gegenüber als Paulus. Was wir aber dennoch von Paulus lernen können, ist, dass der Staat nur etwas Vorletztes ist. Der Staat ist notwendig, aber er ist niemals göttlich. Als Christinnen und Christen haben wir deshalb eine doppelte Staatsbürgerschaft: die unseres Heimatlandes, und die des Reiches Gottes. Gebe Gott, dass wir uns niemals für eine der beiden Staatsbürgerschaften werden entscheiden müssen.