Predigt am
Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 11.11.2018, über Hiob
14,1-6:
Der Mensch wird von
einer Frau geboren.
Seine Lebenszeit ist
kurz.
Sie ist voll Unruhe.
Wie eine Blume, die
aufblüht und verwelkt,
eilt [der Mensch]
dahin.
Wie der Schatten
[auf der Sonnenuhr], der nicht stehen bleibt.
Auch ihn beobachtest
du genau.
Und mit mir gehst du
[sogar] ins Gericht!
Wenn es doch einen
Reinen gäbe, der nicht unrein wäre.
Aber es gibt keinen.
Hast du die
Lebenszeit eines Menschen
und die Zahl seiner
Monate festgelegt,
dann hast du ihm
eine Deadline gesetzt,
die kann er nicht
überschreiten.
Schau weg von ihm,
dann hört er auf [unrein zu sein (?)],
bis er sich freut,
wie ein Lohnarbeiter auf seinen Tag*.
__________
* An dem er frei
hat? An dem er seinen Lohn erhält?
Liebe Schwestern und Brüder,
wenn
man jemanden anstarrt, kann man ihn nervös machen.
Sie
haben sicher schon erlebt, wie unsicher man wird,
wenn
einen jemand anstarrt.
Besonders,
wenn man bei der Arbeit beobachtet wird.
Da
wird man unkonzentriert, da unterlaufen einem Fehler.
Schon
kleine Kinder mögen es überhaupt nicht, wenn man sie beobachtet.
Dabei
gibt es für Omas und Opas nichts Schöneres,
als
ihren Enkelkindern zuzuschauen.
I.
Gott sieht alles.
Gott
starrt uns permanent an.
Sieht
uns immer zu,
sogar,
wenn wir unter der Dusche stehen.
Das
mag man sich gar nicht vorstellen.
Manchmal
hat man es gern, gesehen zu werden.
Da
sehnt man sich geradezu danach, dass jemand hinsieht.
Das
Kunststück bewundert, das man gelernt hat.
Die
neue Frisur.
Die
Eins, die man auf die Klassenarbeit bekam.
Manchmal
möchte man lieber nicht gesehen werden.
Wenn
man gerade aufgestanden ist.
Wenn
man sich bekleckert hat.
Wenn
man geweint hat.
Ist
Gott so höflich, dass er in solchen Situationen wegschaut,
oder
guckt er gerade hin, wenn einem etwas Peinliches passiert?
Fühlen
wir uns durch sein Hinschauen unbehaglich,
fühlen
wir uns beobachtet,
oder
fühlen wir uns von seinem Blick geschmeichelt und bestärkt?
II.
So viele Fragen!
Ausgelöst
hat sie der Predigttext aus dem Buch Hiob.
Hiob
- das war ein Mensch,
auf
den Gott gern und voller Stolz sah.
Gott
war mit Hiob sehr zufrieden.
Denn
Hiob war ein Gerechter.
Er
war einer, der tat, was Gott von ihm verlangte:
Er
erfüllte die Gebote.
Er
tat Gutes.
Er
führte ein frommes und gottesfürchtiges Leben.
Aber
eines Tages schlägt der Teufel Gott eine Wette vor.
Der
Teufel behauptet,
Hiob
würde sofort vom Glauben abfallen, wenn ihm Böses widerfährt.
Gott
geht auf diese Wette ein.
Hiob
verliert auf einen Schlag alles, was er hat.
Er
selbst wird schwer krank.
Er
leidet an einer ansteckenden Hautkrankheit,
sodass
sich niemand mehr in seine Nähe wagt.
Am
Ende sitzt Hiob in der Asche
und
schabt mit einer Scherbe seine wunde Haut.
Trotzdem
fällt er nicht vom Glauben ab.
Aber
er klagt.
Hiob
klagt Gott an.
Er
kann nicht verstehen,
warum
ihm, dem Guten, so viel Böses widerfahren ist.
Hiob
beklagt nicht nur sein Schicksal,
sondern
das aller Menschen.
Und
es scheint, als habe seine und unsere Misere damit zu tun,
dass
Gott alles sieht.
Gott
schaut hin.
Gott
schaut zu genau hin.
Unter
Gottes Augen fühlt sich Hiob bloßgestellt.
Denn
wenn Gott ihn ständig beobachtet,
sieht
er auch, wenn er einen Fehler macht.
Es
geht ja gar nicht anders - irgendwann macht jeder mal einen Fehler.
Und
den sieht Gott natürlich, wenn er alles sieht.
Hiob
findet das unfair.
Darum
bittet er Gott, wegzusehen,
damit
er nicht jeden Fehler mitbekommt, den man so macht.
Wenn
Gott nicht ständig hinsieht,
ist
man vielleicht auch nicht so nervös,
und
dann macht man auch nicht so viele Fehler.
Ist
Gott wirklich so streng, wie Hiob ihn darstellt?
Wenn
Gott alles sieht, dann sieht er auch das,
was
man lieber nicht zeigen würde.
Was
einem peinlich ist, wofür man sich schämt.
Und
natürlich nützt es nichts, sich zu verstecken.
Gott
sieht einen überall.
Überall
müssen ihm unsere Fehler und Schwächen auffallen.
Uns
stehen sie ständig vor Augen.
Wir
sehen sogar im Dunkeln, was wir an uns nicht mögen.
Gott
kann doch gar nicht anders, als das auch zu sehen!
Selbst,
wenn er ein Auge zudrücken wollte -
wer
alles sieht, kann das nicht.
Eltern
und Großeltern sehen auch immer alles.
Sie
sehen sofort, wenn man mit den neuen Sachen draußen war -
obwohl
man sich doch so vorgesehen hat!
Sie
sehen sofort, dass der Teller kaputt ist,
obwohl
man die beiden Hälften so geschickt in den Stapel zurückgeschoben
hat.
Eltern
und Großeltern kriegen immer raus,
wenn
man etwas getan hat, was man nicht tun sollte.
Wie
machen sie das nur?
Eltern
und Großeltern sehen vieles, aber nicht alles.
Und
öfter, als Kinder und Enkel es ahnen, drücken sie ein Auge zu.
Statt
die Fehler zu korrigieren,
freuen
sie sich über das, was das Kind geschrieben hat,
obwohl
die Rechtschreibung sehr originell ist.
Statt
eine Leistung zu schmälern oder mit anderen zu vergleichen,
loben
und ermutigen sie das Kind für das, was es schon kann,
obwohl
das, was es kann, für einen Älteren nicht der Rede wert wäre.
Und
dann gibt es noch den Liebsten oder die Liebste.
Die
sieht auch alles.
Die
sieht uns so, wie uns sonst keiner sieht:
Noch
ganz zerknautscht und zerstört morgens nach dem Aufstehen.
In
Tränen aufgelöst, verzweifelt.
Manchmal
in einer peinlichen Situation.
Und
er, sie liebt uns trotzdem.
Er,
sie findet uns trotzdem schön.
Und
sieht Seiten an uns, die wir nicht sehen können.
Und
findet schön, was wir an uns nicht leiden können.
IV.
Jesus sagt, dass wir Gott „Vater” nennen sollen.
Weil
Gott unser Vater ist, sieht er alles,
aber
er drückt auch mal ein Auge zu.
Gott
sieht, was wir falsch gemacht haben,
aber
er misst uns nicht an unseren Fehlern,
sondern
an unseren Möglichkeiten.
Das
bedeutet nicht, dass Gott gleichgültig wäre, was wir tun.
Oder
dass Gott Schuld nicht erkennen,
Falsches
nicht falsch nennen würde.
Vielmehr
bedeutet es, dass Gott unterscheidet zwischen uns und der Schuld.
Die
Schuld verurteilt er.
Aber
uns liebt er.
Gott
sieht uns an und entdeckt unsere Fähigkeiten.
Gott
entdeckt die Schönheit, die jede und jeder von uns besitzt.
Denn
Schönheit entsteht im Auge des Betrachters.
Wenn
jemand einen anderen Menschen voller Liebe ansieht,
dann
ist dieser Mensch schön.
Wenn
Gott uns liebevoll ansieht, werden wir schön.
Aber
wenn es uns so ergeht wie Hiob?
Wenn
uns ein Unglück widerfährt,
wenn
wir verlieren, was wir lieben,
wenn
wir krank werden, sterbenskrank vielleicht sogar:
Was
hilft es uns dann, dass Gott uns sieht?
Wir
fühlen uns in unserem Elend bloßgestellt,
fühlen
uns ausgeliefert und preisgegeben.
Auch
Eltern können manchmal bloß zusehen.
Zwar,
wenn das Kind sich weh tat,
können
sie pusten und ein Pflaster aufkleben.
Aber
wenn es ins Krankenhaus muss,
können
sie nur hilflos neben dem Bett sitzen.
Und
es ist so wichtig, dass sie neben dem Bett sitzen!
Dass
sie ihre eigene Hilflosigkeit aushalten,
es
aushalten, dass sie nichts tun können außer sitzen und schauen.
Weil
ihr Kind das jetzt braucht, um gesund zu werden
oder
um die Verzweiflung der Krankheit zu ertragen.
Hinsehen
heißt nämlich auch, dass man nicht wegsieht -
obwohl
man das vielleicht lieber täte.
Hinsehen
heißt, wahrzunehmen, wie es dem anderen geht
und
es auszuhalten, dass es ihm nicht gut geht
und
dass man nichts daran ändern kann.
Aber
man kann es sehen und ertragen
und
dem anderen so tragen helfen,
was
nicht zu ertragen ist.
So
sieht Gott auf uns.
Gott
sieht uns, wenn wir Angst haben.
Gott
sieht uns, wenn wir verzweifelt sind.
Gott
sieht uns, wenn wir keinen Glauben, keine Hoffnung mehr haben.
Und
Gott hält das aus.
So
hilft er uns tragen, was nicht zu ertragen ist.
So
hilft er uns, in der größten Dunkelheit ein Licht zu sehen.
V.
Hiob kann das nicht so empfinden.
Er
fühlt Gottes strengen, kritischen Blick auf sich,
weil
er Gott die Schuld an seinem Elend gibt.
So
geben manchmal auch Kinder ihren Eltern die Schuld für das,
was
aus ihnen geworden oder nicht geworden ist.
Und
Eltern geben sich manchmal selbst die Schuld für das,
was
ihren Kindern widerfahren ist, worunter sie leiden,
was
sie zu viel und zu wenig von ihnen bekamen.
Auch
Gott gibt sich die Schuld.
Gott
gibt sich die Schuld aller Menschen
und
lässt sich dafür von ihnen ans Kreuz nageln.
Und
überlebt auch das.
Gott
hält nicht nur unsere Wut aus, unsere Anklage, unsere Verzweiflung -
nicht,
weil er so herzlos und kalt wäre,
so
unendlich weit entrückt allem Irdischen und Menschlichen, sondern -
weil
Gott uns unendlich liebt.
Gott
hält auch aus, dass wir ihm die Schuld geben.
Er
nimmt sie auf sich,
damit
wir uns selbst nicht mit Schuld belasten müssen
und
damit wir anderen keine Schuld aufladen müssen.
Wenn
wir das glauben können,
werden
wir entdecken, dass Gott liebevoll auf uns sieht.
Dass
er uns schon immer so angesehen hat
und
uns immer so ansehen wird.
Amen.