Samstag, 10. November 2018

Sehen und gesehen werden


Predigt am Drittletzten Sonntag des Kirchenjahres, 11.11.2018, über Hiob 14,1-6:

Der Mensch wird von einer Frau geboren.
Seine Lebenszeit ist kurz.
Sie ist voll Unruhe.
Wie eine Blume, die aufblüht und verwelkt,
eilt [der Mensch] dahin.
Wie der Schatten [auf der Sonnenuhr], der nicht stehen bleibt.
Auch ihn beobachtest du genau.
Und mit mir gehst du [sogar] ins Gericht!
Wenn es doch einen Reinen gäbe, der nicht unrein wäre.
Aber es gibt keinen.
Hast du die Lebenszeit eines Menschen
und die Zahl seiner Monate festgelegt,
dann hast du ihm eine Deadline gesetzt,
die kann er nicht überschreiten.
Schau weg von ihm, dann hört er auf [unrein zu sein (?)],
bis er sich freut, wie ein Lohnarbeiter auf seinen Tag*.

__________
* An dem er frei hat? An dem er seinen Lohn erhält?



Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man jemanden anstarrt, kann man ihn nervös machen.
Sie haben sicher schon erlebt, wie unsicher man wird,
wenn einen jemand anstarrt.
Besonders, wenn man bei der Arbeit beobachtet wird.
Da wird man unkonzentriert, da unterlaufen einem Fehler.
Schon kleine Kinder mögen es überhaupt nicht, wenn man sie beobachtet.
Dabei gibt es für Omas und Opas nichts Schöneres,
als ihren Enkelkindern zuzuschauen.

I. Gott sieht alles.
Gott starrt uns permanent an.
Sieht uns immer zu,
sogar, wenn wir unter der Dusche stehen.
Das mag man sich gar nicht vorstellen.

Manchmal hat man es gern, gesehen zu werden.
Da sehnt man sich geradezu danach, dass jemand hinsieht.
Das Kunststück bewundert, das man gelernt hat.
Die neue Frisur.
Die Eins, die man auf die Klassenarbeit bekam.

Manchmal möchte man lieber nicht gesehen werden.
Wenn man gerade aufgestanden ist.
Wenn man sich bekleckert hat.
Wenn man geweint hat.

Ist Gott so höflich, dass er in solchen Situationen wegschaut,
oder guckt er gerade hin, wenn einem etwas Peinliches passiert?
Fühlen wir uns durch sein Hinschauen unbehaglich,
fühlen wir uns beobachtet,
oder fühlen wir uns von seinem Blick geschmeichelt und bestärkt?

II. So viele Fragen!
Ausgelöst hat sie der Predigttext aus dem Buch Hiob.

Hiob - das war ein Mensch,
auf den Gott gern und voller Stolz sah.
Gott war mit Hiob sehr zufrieden.
Denn Hiob war ein Gerechter.
Er war einer, der tat, was Gott von ihm verlangte:
Er erfüllte die Gebote.
Er tat Gutes.
Er führte ein frommes und gottesfürchtiges Leben.

Aber eines Tages schlägt der Teufel Gott eine Wette vor.
Der Teufel behauptet,
Hiob würde sofort vom Glauben abfallen, wenn ihm Böses widerfährt.
Gott geht auf diese Wette ein.
Hiob verliert auf einen Schlag alles, was er hat.
Er selbst wird schwer krank.
Er leidet an einer ansteckenden Hautkrankheit,
sodass sich niemand mehr in seine Nähe wagt.
Am Ende sitzt Hiob in der Asche
und schabt mit einer Scherbe seine wunde Haut.
Trotzdem fällt er nicht vom Glauben ab.
Aber er klagt.
Hiob klagt Gott an.
Er kann nicht verstehen,
warum ihm, dem Guten, so viel Böses widerfahren ist.

Hiob beklagt nicht nur sein Schicksal,
sondern das aller Menschen.
Und es scheint, als habe seine und unsere Misere damit zu tun,
dass Gott alles sieht.
Gott schaut hin.
Gott schaut zu genau hin.
Unter Gottes Augen fühlt sich Hiob bloßgestellt.
Denn wenn Gott ihn ständig beobachtet,
sieht er auch, wenn er einen Fehler macht.
Es geht ja gar nicht anders - irgendwann macht jeder mal einen Fehler.
Und den sieht Gott natürlich, wenn er alles sieht.

Hiob findet das unfair.
Darum bittet er Gott, wegzusehen,
damit er nicht jeden Fehler mitbekommt, den man so macht.
Wenn Gott nicht ständig hinsieht,
ist man vielleicht auch nicht so nervös,
und dann macht man auch nicht so viele Fehler.

Ist Gott wirklich so streng, wie Hiob ihn darstellt?
Wenn Gott alles sieht, dann sieht er auch das,
was man lieber nicht zeigen würde.
Was einem peinlich ist, wofür man sich schämt.
Und natürlich nützt es nichts, sich zu verstecken.
Gott sieht einen überall.
Überall müssen ihm unsere Fehler und Schwächen auffallen.
Uns stehen sie ständig vor Augen.
Wir sehen sogar im Dunkeln, was wir an uns nicht mögen.
Gott kann doch gar nicht anders, als das auch zu sehen!
Selbst, wenn er ein Auge zudrücken wollte -
wer alles sieht, kann das nicht.

Eltern und Großeltern sehen auch immer alles.
Sie sehen sofort, wenn man mit den neuen Sachen draußen war -
obwohl man sich doch so vorgesehen hat!
Sie sehen sofort, dass der Teller kaputt ist,
obwohl man die beiden Hälften so geschickt in den Stapel zurückgeschoben hat.
Eltern und Großeltern kriegen immer raus,
wenn man etwas getan hat, was man nicht tun sollte.
Wie machen sie das nur?

Eltern und Großeltern sehen vieles, aber nicht alles.
Und öfter, als Kinder und Enkel es ahnen, drücken sie ein Auge zu.
Statt die Fehler zu korrigieren,
freuen sie sich über das, was das Kind geschrieben hat,
obwohl die Rechtschreibung sehr originell ist.
Statt eine Leistung zu schmälern oder mit anderen zu vergleichen,
loben und ermutigen sie das Kind für das, was es schon kann,
obwohl das, was es kann, für einen Älteren nicht der Rede wert wäre.

Und dann gibt es noch den Liebsten oder die Liebste.
Die sieht auch alles.
Die sieht uns so, wie uns sonst keiner sieht:
Noch ganz zerknautscht und zerstört morgens nach dem Aufstehen.
In Tränen aufgelöst, verzweifelt.
Manchmal in einer peinlichen Situation.
Und er, sie liebt uns trotzdem.
Er, sie findet uns trotzdem schön.
Und sieht Seiten an uns, die wir nicht sehen können.
Und findet schön, was wir an uns nicht leiden können.

IV. Jesus sagt, dass wir Gott „Vater” nennen sollen.
Weil Gott unser Vater ist, sieht er alles,
aber er drückt auch mal ein Auge zu.
Gott sieht, was wir falsch gemacht haben,
aber er misst uns nicht an unseren Fehlern,
sondern an unseren Möglichkeiten.
Das bedeutet nicht, dass Gott gleichgültig wäre, was wir tun.
Oder dass Gott Schuld nicht erkennen,
Falsches nicht falsch nennen würde.
Vielmehr bedeutet es, dass Gott unterscheidet zwischen uns und der Schuld.
Die Schuld verurteilt er.
Aber uns liebt er.

Gott sieht uns an und entdeckt unsere Fähigkeiten.
Gott entdeckt die Schönheit, die jede und jeder von uns besitzt.
Denn Schönheit entsteht im Auge des Betrachters.
Wenn jemand einen anderen Menschen voller Liebe ansieht,
dann ist dieser Mensch schön.
Wenn Gott uns liebevoll ansieht, werden wir schön.

Aber wenn es uns so ergeht wie Hiob?
Wenn uns ein Unglück widerfährt,
wenn wir verlieren, was wir lieben,
wenn wir krank werden, sterbenskrank vielleicht sogar:
Was hilft es uns dann, dass Gott uns sieht?
Wir fühlen uns in unserem Elend bloßgestellt,
fühlen uns ausgeliefert und preisgegeben.

Auch Eltern können manchmal bloß zusehen.
Zwar, wenn das Kind sich weh tat,
können sie pusten und ein Pflaster aufkleben.
Aber wenn es ins Krankenhaus muss,
können sie nur hilflos neben dem Bett sitzen.
Und es ist so wichtig, dass sie neben dem Bett sitzen!
Dass sie ihre eigene Hilflosigkeit aushalten,
es aushalten, dass sie nichts tun können außer sitzen und schauen.
Weil ihr Kind das jetzt braucht, um gesund zu werden
oder um die Verzweiflung der Krankheit zu ertragen.
Hinsehen heißt nämlich auch, dass man nicht wegsieht -
obwohl man das vielleicht lieber täte.
Hinsehen heißt, wahrzunehmen, wie es dem anderen geht
und es auszuhalten, dass es ihm nicht gut geht
und dass man nichts daran ändern kann.
Aber man kann es sehen und ertragen
und dem anderen so tragen helfen,
was nicht zu ertragen ist.

So sieht Gott auf uns.
Gott sieht uns, wenn wir Angst haben.
Gott sieht uns, wenn wir verzweifelt sind.
Gott sieht uns, wenn wir keinen Glauben, keine Hoffnung mehr haben.
Und Gott hält das aus.
So hilft er uns tragen, was nicht zu ertragen ist.
So hilft er uns, in der größten Dunkelheit ein Licht zu sehen.

V. Hiob kann das nicht so empfinden.
Er fühlt Gottes strengen, kritischen Blick auf sich,
weil er Gott die Schuld an seinem Elend gibt.
So geben manchmal auch Kinder ihren Eltern die Schuld für das,
was aus ihnen geworden oder nicht geworden ist.
Und Eltern geben sich manchmal selbst die Schuld für das,
was ihren Kindern widerfahren ist, worunter sie leiden,
was sie zu viel und zu wenig von ihnen bekamen.

Auch Gott gibt sich die Schuld.
Gott gibt sich die Schuld aller Menschen
und lässt sich dafür von ihnen ans Kreuz nageln.
Und überlebt auch das.
Gott hält nicht nur unsere Wut aus, unsere Anklage, unsere Verzweiflung -
nicht, weil er so herzlos und kalt wäre,
so unendlich weit entrückt allem Irdischen und Menschlichen, sondern -
weil Gott uns unendlich liebt.
Gott hält auch aus, dass wir ihm die Schuld geben.
Er nimmt sie auf sich,
damit wir uns selbst nicht mit Schuld belasten müssen
und damit wir anderen keine Schuld aufladen müssen.

Wenn wir das glauben können,
werden wir entdecken, dass Gott liebevoll auf uns sieht.
Dass er uns schon immer so angesehen hat
und uns immer so ansehen wird.
Amen.