Traueransprache über Psalm 104,24:
„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet,
und die Erde ist voll deiner Güter.”
Liebe Angehörige,
liebe Trauergemeinde,
der 104. Psalm spricht von der Ordnung der Welt.
Für den Psalmdichter ist das keine zufällige Ordnung.
Die Welt ist von Gott eingerichtet und geordnet worden.
Wie der Mensch den Acker bestellt
und im Garten Gemüse und Blumen anpflanzt,
hat Gott die Welt geordnet,
damit Gras für das Vieh wächst
und für den Menschen Brot und Weintrauben.
Auch Werden und Vergehen sind kein Zugfall.
Sie folgen dem göttlichen Plan.
Indem man Ordnung schafft, versucht man auch,
sein Leben zu ordnen.
Das fängt bei der Küchengestaltung an -
jeder hat da sein System, wie er Besteck und Geschirr einräumt,
wo die Gewürze hinkommen und wo Mehl und Reis.
Es geht weiter über die Gestaltung des Wohnzimmers, des Bades, der Abstellkammer
und hört nicht auf bei den Lebensgewohnheiten -
wann man aufsteht, was man dann als erstes tut,
wie man sich sein Frühstück zubereitet.
Jeder Mensch macht das anders.
Als Kind übernimmt man manche dieser Gewohnheiten von seinen Eltern.
So kann man sich in einer Familie einigermaßen zurechtfinden,
und zugleich hat jede Familie dadurch eine Art Handschrift, eine Signatur
in der Weise, wie sie die Dinge des Alltags einsortiert.
Durch diese Handschrift erinnert man sich an seine Eltern.
Neben diese persönlichen Ordnung der Familie tritt die staatliche Ordnung.
In die wächst man hinein, angeleitet durch Kindergarten und Schule.
Und manchmal muss man sich neu sortieren und orientieren,
wenn die staatliche Ordnung sich grundlegend ändert.
N.N. hat eine solch grundsätzliche Veränderung der Ordnung
in ihrem Leben vier Mal erleben und durchmachen müssen.
Hineingeboren wurde und hineingewachsen ist sie in die Weimarer Republik.
Ihre Eltern hatten noch das Kaiserreich erlebt,
und der Vater die Schrecken des ersten Weltkrieges.
Als N.N. in die Schule kam, brach das sogenannte „Dritte Reich” an.
Die staatliche Ordnung hatte sich grundsätzlich geändert.
Aus einer Demokratie war ein totalitärer Staat geworden,
eine Diktatur, die bald begann, ihre Bürger mit Terror einzuschüchtern.
Aber das war nicht gleich zu merken.
Als man es merkte, war es zu spät.
Da waren die Vorbereitungen zum zweiten Weltkrieg längst im Gange,
in den N.N.s Vater noch einmal hineingezogen wurde.
Da brannten am 9. November 1938 die Synagogen,
zerklirrten die Scheiben jüdischer Geschäfte,
verschwanden jüdische Nachbarn und Kollegen.
Und dann kam die nächste Umwälzung,
kam mit der Gründung der DDR die dritte neue staatliche Ordnung, die N.N. erlebte.
Wieder wurde alles anders,
wieder merkte man es nicht gleich.
Aber bald war der Unterschied zu Westdeutschland nicht mehr zu übersehen.
Viele Menschen ergriffen damals die Gelegenheit zur Übersiedlung in den Westen.
Manche ließen dabei sogar ihre Familien,
ließen Frau und Kinder zurück.
Als N.N. dann in den Ruhestand eintrat, kam die Wende
und damit der vierte Wechsel der staatlichen Ordnung, den sie erlebte.
Alle, die vor der Wende geboren wurden, haben erlebt,
was ein solcher Systemwechsel bedeutet.
Wie viel sich da gerade für einen persönlich verändert,
auch wenn äußerlich scheinbar alles gleich bleibt -
man wohnt weiterhin im selben Haus,
hat die selben Nachbarn, die selben Kollegen.
Und doch wird alles anders.
Den „Konsum” gibt es auf einmal nicht mehr,
den Betrieb, in dem man so lange gearbeitet hatte, auch nicht.
Die Politiker haben andere Gesichter,
die Behörden heißen jetzt anders und funktionieren auch anders.
Und vieles von dem, was man als „Wahrheit” in der Schule lernte,
gilt nicht mehr, ist sogar falsch.
Die Wende war für alle, die sie erlebten, ein Einschnitt.
N.N. hat vier solcher Wenden mitmachen müssen.
Man kann sich kaum vorstellen, wie sie diese Einschnitte verkraftet hat.
Es waren nicht nur diese Wechsel der äußerlichen Ordnung,
die sie verarbeiten musste.
Auch im persönlichen Bereich musste sie Herausforderungen bestehen.
Das waren gute wie ihre erste große Liebe,
wie der Umzug ins neu gebaute Haus,
wie die Geburt ihres Kindes.
Und es waren schwere, an denen man zerbrechen konnte.
(…)
„Nimmst du weg ihren Odem,
so vergehen sie und werden wieder Staub.
Du sendest aus deinen Odem,
so werden sie geschaffen
und du machst neu die Gestalt der Erde.”
Mit dem Tod hört alle Ordnung auf.
Der Körper löst sich auf, vergeht.
Nach ein paar Jahren ist nichts mehr davon da.
Dieser Auflösung der Ordnung durch den Tod
setzen wir eine Ordnung entgegen, das ist die Erinnerung.
In der Erinnerung halten wir den Menschen fest,
den wir körperlich verloren haben.
So halten wir fest, wer N.N. für uns war.
Wir können nicht alles festhalten, nicht ihr ganzes Leben.
Vor allem nicht den Teil des Lebens, der ihr allein gehörte.
Wir können nur das festhalten, was wir mit ihr teilten.
Aber wie klein oder wie groß dieser Teil auch ist,
wie kurz oder oberflächlich unsere Bekanntschaft mit ihr auch gewesen ist:
Jede Erinnerung ist ein Stück Ordnung,
die wir dem Tod, der Auflösung aller Ordnung, entgegen setzen.
Damit setzen wir dem Tod eine Grenze,
weisen wir íhn in seine Schranken.
Als Christinnen und Christen setzen wir dem Tod nicht nur die Erinnerung entgegen.
Wir haben die Ordnung Gottes auf unserer Seite,
die dem Tod seinen Ort und seine Grenze zuweist.
Und wir setzen dem Tod die Auferstehung entgegen,
den endgültigen Sieg des Lebens über den Tod.
Wir glauben, dass Gott jenseits des Todes eine neue Ordnung schaffen kann und schaffen wird.
Auch wir Menschen versuchen, neue Ordnungen zu schaffen.
N.N. hat vier solcher Versuche erlebt und erlitten.
Unsere menschlichen Ordnungsversuche grenzen Menschen aus
und bringen Leid über die, die nicht hineinpassen.
Gottes Ordnung schließt nicht aus, sondern ein.
Sie umfasst alle Menschen, Lebende und Tote.
In Gottes neuer Welt wird N.N. zu einem neuen Leben erwachen,
befreit von Angst und Schmerz, von Kummer und Leid.
Befreit auch von allen Irrtümern,
vom Korsett der Ordnungen, das sie sich selbst angelegt hat.
Wieder vereint mit allen, von denen sie getrennt war.
Dieses neue Leben erwartet auch uns.
Eines Tages werden wir uns wiedersehen.
Bis es soweit ist, können wir angesichts der Unordnung der Welt
und der Unordnung des Todes auf Gottes Ordnung vertrauen.
Sie gibt uns Mut und Kraft zum Leben,
wie es das Psalmwort sagt:
„Herr, wie sind deine Werke so groß und viel!
Du hast sie alle weise geordnet,
und die Erde ist voll deiner Güter.”