Predigt am 2. Advent, 9. Dezember 2018, über Jesaja 35:
Wüste und Steppe erblühen.
Die Steppe bricht auf und blüht
wie der Affodil. Sie grünt und grünt, und bricht auf.
Das ist wie ein Jauchzen, ein Freudenschrei.
Sie hat die Herrlichkeit des Libanon,
die Pracht von Karmel und Saron.
Wir sehen die Herrlichkeit des Herrn,
die Pracht unseres Gottes.
Macht fest die kraftlosen Hände!
Macht die wackligen Knie stark!
Sagt dem klopfenden Herzen:
sei stark! Hab keine Angst!
Da kommt die Rache eures Gottes,
die Vergeltung Gottes.
Er kommt, und mit ihm eure Rettung.
Dann werden die Augen der Blinden geöffnet
und die Ohren der Tauben aufgetan.
Dann springt ein Lahmer wie ein Widder,
und die stumme Zunge jubelt.
Denn Wasser brechen in der Wüste hervor
und Bäche in der Steppe.
Die Fata Morgana ist dann tatsächlich ein Sumpf,
und das dürstende Land eine Wasserquelle.
Im Revier der Schakale kann man lagern.
Gras wächst dort wie Schilfrohr und Papyrus.
Dort wird eine Straße sein und ein Weg,
den man „heiliger Weg” nennen wird.
Kein Unreiner wird ihn betreten,
er geht seinen eigenen Weg;
Dummköpfe werden nicht auf ihm umherirren.
Es wird dort keine Löwen geben,
kein Raubtier lässt man auf ihm gehen,
es wird dort nicht zu finden sein,
sondern dort gehen die Erlösten.
Die Erlösten des Herrn werden zurückkehren
und jubelnd nach Zion kommen.
Ewige Freude wird über ihnen sein.
Freude und Fröhlichkeit stellen sich ein,
aber Kummer und Seufzen fliehen.
Liebe Schwestern und Brüder,
es gibt kaum etwas Schöneres, als im Garten zu arbeiten:
Zu sehen, wie etwas wächst, was vorher nur ein winziges Samenkorn war.
Oder mitten unter dem Unkraut eine kleine Blüte zu entdecken -
ein Gänseblümchen, ein Veilchen oder eine seltene Pflanze:
das sind besondere Glücksmomente!
Der vergangene Sommer hat das Gärtnern nicht leicht gemacht.
Bei der Trockenheit musste man ordentlich gießen,
wenn überhaupt etwas wachsen sollte.
Sogar das Unkraut hatte es schwer.
Mit den Erfahrungen des vergangenen Sommers
kann man die Visionen Jesajas von einer blühenden, wasserreichen Wüste
viel besser verstehen und teilen.
Man stelle sich vor, man müsste in einer Gegend leben,
wo es immer so trocken ist wie in diesem Sommer!
I. Aus der Wüste wird ein blühender Garten.
Diese Vision haben Menschen zu allen Zeiten gehabt.
Sie war ihr Antrieb, Wälder abzuholzen, Boden urbar zu machen.
Denn Wüsten sind nicht nur die Gegenden, in denen es kein Wasser gibt.
„Wüstungen” nannte man von ihren Bewohnern aufgegebene Siedlungen,
die sich die Natur zurückgeholt hatte.
Eine „Wüstenei” ist eine unwirtliche, unbewohnbare Gegend.
Und aus den Großstädten kennt man die „Betonwüsten”,
in denen kaum etwas Grünes zu finden ist.
Die ersten Menschen, die hier Bäume fällten und Gärten anlegten,
machten eine unwirtliche Gegend urbar und für Menschen bewohnbar.
Sie gestalteten die Landschaft, wie wir das bis heute
im Kleinen unserer Gärten und im Großen tun.
Sie legten die Wege an, auf denen wir heute noch gehen oder fahren.
Seitdem hat sich viel verändert.
Heute würde man z.B. einen Urwald, wie ihn die ersten Siedler vorfanden,
nicht mehr als „Wüstenei” bezeichnen und abholzen.
Man würde ihn vielmehr unter Naturschutz stellen.
Aber auch das ist ja eine Weise, die Landschaft zu gestalten.
Jede Generation prägt dem Land ihren Stempel auf.
Legt Gärten an oder lässt sie verwildern.
Pflanzt Bäume oder holzt Wälder ab, um die Fläche zu asphaltieren.
Auch die Graffiti, mit denen Jugendliche die Betonwüsten erblühen lassen,
sind eine Form, die Umwelt zu gestalten.
II. Bei den Graffiti wird auch deutlich:
Die Art der Gestaltung ist nicht jedermanns Geschmack.
Für die einen sind die Graffiti eine willkommene Auflockerung des tristen Betongraus,
für manche sind sie sogar Kunst;
für die anderen sind sie schlicht Sachbeschädigung.
Gerade im öffentlichen Raum prallen unterschiedliche Interessen
und Geschmäcker hart aufeinander.
Schlimm ist es z.B., wenn etwas, das mit großem Einsatz und Aufwand gestaltet wurde,
von anderen mutwillig zerstört oder zugemüllt wird.
Die das tun, sind die Löwen und Raubtiere, von denen Jesaja spricht.
Physiker erklären den Prozess der Zerstörung und Verwahrlosung, das Chaos,
mit der Zunahme der Unordnung.
Sie ist eine Naturgewalt, wie man in jedem Haushalt feststellen kann.
Die Ordnung ist eine Art, unsere Umwelt zu gestalten.
Doch es gibt eine Menge Leute, die diese Ordnung stören oder sogar zerstören.
Nicht, um die Dinge nach ihrer Weise zu ordnen -
das gibt es auch, z.B. beim Streit darüber, wie die Spülmaschine einzuräumen ist.
Sondern aus Freude am Chaos, am Urwald, an der Wüste.
Bei Jesaja sind das die Dummköpfe, die sich nicht an den Weg halten,
sondern kreuz und quer über die Beete laufen.
III. Es gibt Menschen, die Freude daran haben, etwas zu gestalten -
eine Wüste zum Blühen bringen,
oder eine schmuddelige Ecke zu einem Ort machen, an dem man sich gern aufhält.
Und dann gibt es Menschen, die haben Freude am Zerstören.
Die reißen die Blumen wieder aus,
die verteilen ihren Müll, die latschen alles kaputt.
Dagegen kommt kein Gärtner an.
Die Hände werden kraftlos - es hat ja doch keinen Sinn,
wieder und wieder gegen das Chaos und die Chaoten anzuarbeiten.
Sie sind am Ende stärker.
Davon kann man zittrige Knie bekommen.
Es tut dem Herzen weh, wenn man sein Bemühen so mit Füßen getreten sieht.
Aber bevor man mit dem Finger auf „die Chaoten” zeigt,
die „immer alles” kaputt machen,
sollte man einen Moment innehalten.
Man selbst war - oder ist - nämlich nicht besser.
Es gehört zum Prozess des Erwachsenwerdens,
Dinge anders zu machen als die Vorfahren.
Um etwas anders machen zu können, muss man das Bestehende verändern
oder es sogar zerstören.
Soll der Urwald zu Acker werden, wird der Urwald zerstört.
Soll der Acker verwildern, wird der Acker zerstört.
Ein Teil unseres Lebens besteht darin, dass wir zerstören -
oder zumindest stark verändern -, was unsere Vorfahren aufgebaut haben.
IV. Das passiert nicht nur mit Gärten, Häuser oder öffentlichen Plätzen.
Das passiert auch in Familien, im Gemeinwesen, in der Kirchengemeinde.
Erinnern Sie sich daran, mit wem Sie einmal befreundet waren -
und es heute nicht mehr sind.
Denken Sie an die Liebsten, die Sie sitzen gelassen haben,
oder von denen Sie sitzen gelassen wurden,
bis Sie den Menschen fanden, mit dem Sie heute zusammen sind.
Es gibt Streit in der Familie,
sodass Verwandte oder sogar Geschwister nicht mehr miteinander sprechen.
Es gibt Gruppen, Parteiungen im Gemeinwesen, in der Kirchengemeinde.
Auch in der Familie, im Dorf, in der Gemeinde gibt es Menschen,
die das Zusammenleben gestalten wollen,
und es gibt Chaoten, die es kaputt machen.
Manchmal ist man das eine, manchmal das andere.
Wenn man der Chaot ist, ist man taub und blind für die Bemühungen der anderen.
Man sieht nicht den gedeckten Tisch, die liebevolle Geste,
sieht nicht die Mühe und Arbeit, die sich der andere gemacht hat.
Wenn man der Chaot ist, ist man stumm wie ein Fisch,
wenn es darum geht, sich zu entschuldigen
oder sich zu bedanken.
Wenn man der Chaot ist, ist man manchmal ein Raubtier,
das anderen weh tut, sie verletzt.
V. Wie kommt man aus diesem Dilemma heraus,
dass man manchmal der ist, der etwas aufbaut,
und manchmal der Chaot, der alles wieder einreißt?
Kann man denn überhaupt diesem Dilemma entkommen,
wenn zum Gestalten gehört,
dass man Bestehendes zerstört oder zumindest stark verändert?
Die Vision Jesajas spricht nicht von Menschen,
sondern von Gott als dem Gestalter - dem „Schöpfer”, sagen wir auch.
Gott ist es, der die Wüste erblühen lässt.
Wenn wir Gott spielen, wenn wir Schöpfer sein wollen,
geraten wir in das Dilemma,
dass wir etwas zerstören müssen, wenn wir etwas erschaffen wollen.
Wir geraten in das Dilemma,
dass wir - bei allem guten Willen - manchmal Chaoten sind,
die kaputt machen, was ein anderer geschaffen hat,
oder dass wir jemanden verletzen.
Gott kann uns aus diesem Dilemma befreien.
Gott kann uns helfen, keine Chaoten zu sein,
indem er uns die Augen öffnet für die Schönheit der Welt;
die Ohren öffnet für die Wahrheit seines Wortes.
Indem er uns den Mund öffnet,
mit dem wir unsere Schuld bekennen und um Vergebung bitten,
aber auch „Danke” sagen
und unser Glück herausschreien oder -singen können.
VI. Bleibt zum Schluss die Frage,
wie das gehen soll, wenn wir Gott nirgends am Werke sehen?
Wie können wir sicher sein, dass das Flimmern am Horizont tatsächlich eine Wasserfläche ist
und nicht das Hitzeflimmern der Fata Morgana?
Es ist eine Frage des Blickwinkels.
Es geht darum, etwas sehen zu lernen, was man normalerweise nicht sieht.
Das kann man nicht lernen.
Wir wissen ja nicht, worauf wir achten sollen -
wie sollten wir es entdecken?
Das ist wie beim Sternenhimmel:
Ohne fremde Hilfe entdeckt man den „kleinen Wagen” nicht.
Aber wenn man ihn einmal gezeigt bekam, findet man ihn immer wieder.
Wer zeigt uns den anderen Blick,
mit dem wir erkennen, was man normalerweise nicht sieht?
Die Art und Weise, wie man diesen anderen Blick erlernt, ist das Gebet.
In der Haltung des Bittstellers,
der nicht schon alles weiß, sondern auf der Suche ist,
kann Gott uns helfen, neu und anders zu sehen.
Wer um den neuen Blickwinkel, die neue Perspektive bittet,
hat sie bereits eingenommen;
der beginnt bereits, die Dinge anders, neu zu betrachten.
VII. Advent - Neuanfang.
Etwas ist im Kommen.
Jemand ist im Kommen.
Jemand, der Taube hörend, Blinde sehend,
Lahme gehend und Stumme sprechend gemacht hat.
Jemand, der eine neue Sicht gebracht hat.
Der auch unsere Perspektive verändert.
Gehen wir ihm entgegen
durch die Wüste, die unsere Welt, unser Leben manchmal ist.
Wir werden keine blühenden Landschaften finden.
Aber wir werden entdecken, dass die Wüste sich verändert.
Im dürren Land beginnt Wasser zu fließen.
Und das ist keine Fata Morgana.
Das ist Advent.