Samstag, 1. Dezember 2018

Umstände machen

Predigt am 1.Advent über Matthäus 21,1-11
„Sechs waren geladen,
zwölf sind gekommen.
Tu Wasser zur Suppe,
heiß alle willkommen!”

Liebe Schwestern und Brüder,

„unverhofft kommt oft”.
Wenn unerwarteter Besuch kommt,
muss man improvisieren:
die Wohnung schnell etwas aufräumen;
aus Resten oder Konserven etwas zu Essen zaubern;
ein Bett für den Gast herrichten.

Bringt das Kind eine Freundin oder einen Freund mit nach Hause,
macht es nichts, wenn die Wohnung nicht aufgeräumt ist.
Beim Essen stellt man ohne weiteres einen Teller dazu,
wenn sich die Kinder nicht selbst versorgen,
aus dem Kühlschrank oder dem Fach mit den Chips und den Süßigkeiten.
Und wenn die Freundin übernachten will, ist das auch kein Problem.

Bei Erwachsenen ist es nicht so unkompliziert.
Man kann nicht einfach einen Freund, eine Freundin besuchen,
man muss sich vorher anmelden.
Wenn man es nicht tut, einfach so hereinschneit,
können sich peinliche Situationen ergeben.
Der Gastgeber fühlt sich zu wortreichen Erklärungen genötigt,
warum die Wohnung nicht aufgeräumt ist,
warum nichts Richtiges zu Essen im Haus ist,
warum eine Übernachtung eigentlich ungelegen kommt.

Als Gast ist einem so etwas unangenehm.
Man möchte nicht ungelegen kommen,
man möchte nicht zur Last fallen.
Man möchte nicht das Gefühl haben,
die Freude über den Besuch, über das Wiedersehen wird verdrängt
durch die Umstände, die man dem Gastgeber damit macht.

I. Jesus kommt unangemeldet nach Jerusalem.
Er hat seinen Besuch auch nicht vorbereitet.
Aber er hat sich offenbar vorher überlegt,
wie er in Jerusalem einziehen will: Als König.
Das ist sehr leichtsinnig von ihm -
schließlich sind die Römer die Herren,
und die könnten keinen Spaß verstehen,
wenn sich jemand die Königswürde anmaßt.

Da haben sie von Jesus nichts zu befürchten:
Er strebt keine politische Herrschaft an.
Er hat keine Armee, keine Waffen.
Er kommt arm und friedfertig.
Jesus will ein Zeichen setzen.
Sein Einzug in die Hauptstadt ist symbolisch zu verstehen.

Jesus zieht als Messias in Jerusalem ein.
Der Messias, auf Griechisch: Christus,
wird von den Propheten des Alten Testaments angekündigt,
unter anderem auch von Sacharja.
Wenn er kommt, bricht das Reich Gottes an,
ein Reich des Friedens und der Gerechtigkeit,
dessen Zentrum der Tempel in Jerusalem bildet,
wie es einst bei König David war.
Mit seinem Einzug bringt Jesus zwei Dinge zum Ausdruck:
Ich bin der Messias und
das Reich Gottes ist angebrochen.

Um als Messias einzuziehen,
braucht Jesus eine Eselin mit einem Fohlen, wie es Sacharja prophezeit.
Daran werden die Menschen erkennen, dass er der Messias ist -
oder dass er zumindest so angesehen werden will.
Das ist nämlich nicht so eindeutig.
Denn auf die Frage, wer Jesus ist,
lautet die Antwort nicht: Der Messias,
sondern: „der Prophet aus Nazareth”.

Jesus braucht einen Esel, und die Jünger „besorgen” einen.
Zur Zeit Jesu waren Esel so häufig wie heute die Autos.
Es ist also kein Problem für seine Jünger,
sich an der nächsten Ecke eine Eselin „auszuborgen” -
man sagt auch „klauen” dazu.
Wir jedenfalls wären wohl nicht einverstanden,
wenn sich jemand unser Auto nehmen würde
mit der lapidaren Begründung „der Herr braucht es”.

II. Jesus hat keinen Respekt vor fremdem Eigentum.
Direkt nach dem Einzug in Jerusalem geht er in den Tempel
und wirft die Tische der Geldwechsler und Händler um.
Auch eine symbolische Handlung, wie sein Einzug.
Seinen Jüngern erlaubt er, Getreide zu stehlen - und das auch noch am Sabbat.
Und er rät ihnen:
„wenn jemand mit dir rechten will und dir deinen Rock nehmen,
dem lass auch den Mantel.”
Seine Einstellung zum Besitz fasst er zusammen in dem Satz:
„sorgt nicht für morgen, denn der morgige Tag wird für das Seine sorgen”.

Wenn man sich Jesus so ansieht, muss man wohl sagen:
Jesus war der erste Hippie.
Ohne Respekt vor Besitz und Obrigkeit lebte er in den Tag hinein.
Er gab nichts auf Anstand und Ansehen,
sondern befreundete sich mit moralisch fragwürdigen Personen,
mit denen ein anständiger Bürger nicht verkehrte.
Wahrscheinlich hatte Jesus auch lange Haare;
Jesuslatschen sowieso.

Und wie Hippies so sind, macht auch Jesus keine Pläne.
Er ist „spontan”; er improvisiert.
Als er eine große Veranstaltung mitten in der Wüste durchführt,
zu der tausende von Leuten kommen,
hat er nicht einmal daran gedacht,
wie diese Menschenmassen versorgt werden sollen
(an Toiletten natürlich erst recht nicht).
Am Ende stellt sich heraus, dass nicht mehr als 5 Brote und 2 Fische da sind.
Aber, eigenartig: die reichen, dass alle satt werden.

III. Jesus, der Hippie - das soll ein König sein?
Wie kann jemand, der sich nicht an Regeln hält, König sein wollen?
Ob König oder Bundeskanzlerin:
Wer einem Gemeinwesen, einem Staat vorsteht, muss sich an die Regeln halten -
verkörpert geradezu die Regeln, die gelten sollen.
Was Jesus verkörpert, ist Regellosigkeit, Anarchie.
Andererseits macht er die Regeln so groß,
dass man sie nicht mehr erfüllen kann:
„Ihr habt gehört, dass gesagt ist:
‚Du sollst nicht ehebrechen.’
Ich aber sage euch: Wer eine Frau ansieht, sie zu begehren,
(oder einen Mann, ihn zu begehren),
der hat schon mit ihr (oder ihm) die Ehe gebrochen in seinem Herzen.”
Ehebruch durch Hinsehen - damit übertreibt es Jesus endgültig.
Aber vielleicht gehört das ja zu seinem geheimen Plan:
Wer die Gesetze so verschärft, dass man sie nicht mehr erfüllen kann,
tut faktisch dasselbe, als hielte er sich nicht mehr an die Gesetze.

Nein, das stimmt so nicht.
Es ist wahr, Jesus bricht Regeln,
er tut es absichtlich und mit Vorsatz.
Zugleich aber gilt für ihn eine äußerst strenge Regel.
So streng, dass er für diese Regel sogar den Tod auf sich nimmt.
Eine Regel, die ihn dazu zwingt, die anderen Regeln zu brechen.
Diese strenge Regel ist die Liebe.
Die Liebe zu jedem Menschen in der Form der Nächstenliebe.
Die Nächstenliebe ist für Jesus die oberste Regel,
die unter allen Umständen befolgt und eingehalten werden muss.
Darum heilt er Menschen am Sabbat:
Weil sie Hilfe brauchen
und nicht auch nur einen weiteren Tag darauf warten sollen.
Darum lässt er zu, dass seine Jünger Getreide stehlen:
Weil sie hungrig sind.

IV. Nächstenliebe ist ein ehrenhaftes Motiv.
Aber dazu muss man doch nicht so provozieren!
Man kann ordentlich und mit Anstand seinen Nächsten lieben,
ohne Tische im Tempel umzuwerfen,
ohne sich mit der Obrigkeit anzulegen,
ohne Menschen vor den Kopf zu stoßen.

Nein. Ich fürchte, wer Nächstenliebe wirklich ernst nimmt,
wird immer anecken, unbequem sein und andere provozieren.
Denn die Nächstenliebe deckt Lieblosigkeit auf,
Unmenschlichkeit, Herzenskälte und Egoismus.
Und weil man gegen Nächstenliebe nichts sagen kann,
werden die Lieblosen, Unmenschlichen,
die Herzenskalten und Egoisten maßlos provoziert,
wenn jemand Nächstenliebe praktiziert.
Anders kann ich die maßlose Wut,
den unbändigen Hass nicht verstehen,
die der Satz „Wir schaffen das” ausgelöst hat.

Denn wir schaffen das ja tatsächlich.
Es ist überhaupt kein Problem für unser reiches Land,
die Flüchtlinge aufzunehmen und unterzubringen.
Es ist nicht eine Frage, ob wir das können, sondern ob wir das wollen.
Ich habe den Eindruck: Viele wollen es nicht.
Viele wollen Menschen in Not nicht aufnehmen,
wollen nicht gastfreundlich sein.
Warum wollen sie das nicht?

V. Jeder Besuch macht Umstände.
Man muss vorher aufräumen.
Man muss einkaufen und sich Zeit nehmen.
Man muss seinen gewohnten Tagesablauf unterbrechen.
Die Fernsehserie oder die Sportschau, die man immer schaut,
kann man nicht sehen;
das Computerspiel, auf das man sich gefreut hat,
kann man nicht spielen.
Schlimm.
Schlimme Einschränkungen sind das!
Und dann muss man sich ja auch noch unterhalten.
Man muss irgendwas unternehmen,
dabei säße man viel lieber allein auf dem Sofa.

Gastfreundschaft ist anstrengend,
weil sie gewohnte Abläufe unterbricht,
Veränderungen ins Leben bringt,
zum Improvisieren zwingt.

Jesus unterbricht die Lethargie der gewohnten Abläufe.
Er sabotiert den Bürokratismus,
der immer neue Ausreden für die Nächstenliebe erfindet.
Er macht Umstände, kommt ungelegen und ist unbequem.

Darum ist die Adventszeit eine Bußzeit.
Wir haben das vergessen.
Für viele von uns ist die Adventszeit ein Vorspiel
zum großen Konsumfest Weihnachten.
Da zeigen wir wieder durch die Massen an Geld, die wir ausgeben,
wie verlogen unser „Wir schaffen das nicht,
wir haben ja selbst nicht genug” ist.

Der Advent erinnert uns an die Nächstenliebe,
für die Jesus sein Leben gab.
Wir müssen nicht unser Leben geben.
Aber vielleicht machen wir einmal eine Tür mehr auf
als nur die Türchen am Adventskalender.

Amen.