Montag, 15. April 2019

Mutprobe

Predigt zur Konfirmation von J. am Sonntag Palmarum, 14. April 2019, über Jesaja 40,26-31:

Schaut hinauf zum Himmel und seht, wer das geschaffen hat.
Er führt das Heer der Sterne einen nach dem anderen herauf.
Er nennt sie alle mit Namen.
Er kann so viel und hat so große Fähigkeiten, dass keiner von ihnen verloren geht.

Warum sagst du, Jakob, und sprichst du, Israel:
Gott sieht nicht, wie es mir geht?
Und: Meinen Gott kümmert es nicht, was richtig für mich ist?
Weißt du nicht? Hast du nicht gehört?:
Gott ist ein ewiger Gott, Schöpfer der entlegendsten Weltgegenden.
Er wird nicht müde, er wird nicht matt.
Für seinen Verstand gibt es nichts Unerforschtes.
Er gibt dem Müden Kraft und dem, der nichts schafft, größere Fähigkeiten.
Sogar junge Menschen werden müde und matt.
Selbst Jugendliche stolpern und fallen.
Die aber auf Gott vertrauen, gewinnen neue Kraft.
Ihnen wachsen Flügel wie die eines Adlers.
Sie laufen, aber sie ermatten nicht.
Sie wandern, aber sie ermüden nicht.


Liebe Schwestern und Brüder,
lieber J.,

mit der Konfirmation ist man kein Kind mehr.
Man ist auch noch nicht erwachsen.
Aber die Kindheit hat man definitiv hinter sich gelassen.
Im Deutschunterricht kommen jetzt die „Klassiker“ dran,
Lessing, Schiller und „Jöthen“.
Auch zuhause liest man keine Bücher mehr, die im Milieu der Kinder spielen
wie „Die Kinder von Büllerbü“ oder „Michel aus Lönneberga“.

Aber manchmal begleiten einen Bücher,
die man als Kind gelesen hat, in die Erwachsenenzeit hinein.
Manche dieser Bücher versteht man als Erwachsener viel besser,
oder man versteht sie noch einmal ganz anders
und gewinnt sie auf neue Weise lieb.
„Das fliegende Klassenzimmer“ von Erich Kästner ist für mich so ein Buch.
Die Schüler, die darin die Hauptrolle spielen, sind in deinem Alter, J.
Aber die Zeit, in der das Buch spielt, ist die deiner Urgroßeltern.
„Das fliegende Klassenzimmer“ schrieb Erich Kästner vor Hitlers Machtergreifung im Jahr 1933.

Ich erwähne dieses Buch, weil mich Dein Konfirmationsspruch daran erinnert hat:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Auch im „fliegenden Klassenzimmer“ geht es ums Fliegen, wie der Titel bereits andeutet.
Es geht darin um die Flügel, die die Phantsie wachsen lassen kann.
Es geht um einen „Engel namens Böckh“.
Und um einen Jungen, der fliegen will.
Er heißt Uli von Simmern und ist der Kleinste in der Klasse.
Darum wird er von manchen gehänselt und nicht für voll genommen.
Einmal stecken ihn Mitschüler sogar in einen Papierkorb,
das sie an einen Seil am Kartenhalter hochziehen,
und lassen ihn damit „fliegen“.
Der Fachlehrer, der sich durch den Streich seinen Unterricht nicht stören lassen will,
irgnoriert den in der Luft baumelnden Jungen
und trägt ihn sogar als unentschuldigt fehlend ins Klassenbuch ein.

Wieviel Spott, wieviel Demütigungen kann man ertragen?
Uli jedenfalls hat davon genug und beschließt, es allen zu zeigen.
Für die große Pause kündigt er an, dass er fliegen wolle.
Das spricht sich herum, der Pausenhof ist gerammelt voll,
als Uli mit einem Regenschirm auf das hohe Klettergerüst steigt.
Seine Freunde warnen ihn, aber Uli springt.
Natürlich stülpt sich sein Schirm sofort um,
Uli kracht ungebremst auf den Asphalt des Schulhofes.
Zu seinem Glück bricht er sich nur das Bein,
muss aber das Weihnachtsfest im Krankenhaus verbringen.

Uli will beweisen, dass er kein Feigling ist.
Dass er nicht weniger Respekt verdient als die anderen,
obwohl er anders - kleiner - ist.
Der Beweis glückt, aber zu welchem Preis!
Es hätte für Uli schlimm ausgehen können.

Viele von uns haben ähnliche Erfahrungen gemacht wie Uli,
wenn auch hoffentlich nicht so dramatisch und gefährlich wie bei ihm.
Viele von uns hatten das Gefühl, sich vor anderen beweisen zu müssen.
Man musste eine Grenze überschreiten, um dazugehören zu dürfen.
Man musste sich die Achtung, den Respekt der anderen verdienen.
Warum ist es nötig, solche Mut- oder Kraftproben abzulegen?
Warum muss man anderen beweisen, dass man ebenso stark, ebenso mutig, ebenso trinkfest ist wie sie
--- dass man genauso ist wie sie?
Muss man so wie die anderen sein, um dazuzugehören?
Muss man so wie die anderen sein, um jemand zu sein?

Eine Antwort auf diese Fragen gibt dein Konfirmationsspruch:
„Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft,
dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler,
dass sie laufen und nicht matt werden,
dass sie wandeln und nicht müde werden.“
Gott, so sagen diese Sätze, verleiht einem Menschen Kraft und Ausdauer,
gibt ihm Flügel, mit denen er über sich hinauswachsen kann.
Aber wofür gibt Gott einem diese Kraft und Ausdauer,
wozu verleiht Gott Flügel?
Damit man es den anderen zeigen kann?
Damit man beweisen kann, dass man genauso ist wie sie?

„Gott sieht nicht, wie es mir geht.
Meinen Gott kümmert es nicht, was richtig für mich ist.“
Das ist die Ausgangssituation.
Das Gefühl, allein zu sein, auf sich gestellt zu sein.
Nicht einmal von Gott gesehen und ernst genommen zu werden,
nicht einmal ihn an seiner Seite zu wissen.
Es ist ein Gefühl, das zum Erwachsenwerden dazu gehört.
Man nennt es Weltschmerz:
„Keiner mag mich, keiner versteht mich, keiner hat mich richtig lieb“.
Außenstehende nehmen dieses Gefühl nicht ernst.
Sie wissen, dass es nicht wahr ist.
Denn sie, die Eltern und Großeltern, die Geschwister und Freunde,
mögen und verstehen und haben richtig lieb.
Aber wen der Weltschmerz gepackt hat, kann das nicht sehen.
Der fühlt sich missverstanden und alleingelassen,
und alles, was die anderen unternehmen, um das zu ändern, bestätigt dieses Gefühl nur.

Viele haben den Weltschmerz erlebt und erlitten.
Wenn man so richtig darin versunken ist, kommt man kaum wieder heraus.
Weil es ja niemanden gibt, der einen versteht,
lässt man sich von niemandem etwas sagen,
nicht einmal vom Propheten Jesaja.
Wie soll der einen auch verstehen, so lange, wie der schon tot ist!
Doch Weltschmerz kannte man auch zu Jesajas Zeiten.
Lasst uns deshalb hören, was er dazu sagt:
„Schau hinauf zum Himmel und sieh, wer das geschaffen hat.
Er führt das Heer der Sterne einen nach dem anderen herauf.
Er nennt sie alle mit Namen.
Er kann so viel und hat so große Fähigkeiten, dass keiner von ihnen verloren geht.“
Jesaja weitet den Blick.
Er überredet einen dazu, den Kopf zu heben,
von der Nabelschau eines sich gekränkt, verlassen und missverstanden Fühlenden
hinaus in die Welt und über die Welt hinauf ins Sternenzelt.
Jesaja fragt mit den Worten des Abendliedes (EG 511,1):
„Weißt du, wieviel Sternlein stehen
an dem blauen Himmelszelt?“
und gibt zur Antwort:
„Gott der Herr hat sie gezählet,
dass ihm auch nicht eines fehlet.
Kennt auch dich und hat dich lieb,
kennt auch dich und hat dich lieb.“
So, wie Gott in der unermesslichen Zahl der Sterne
jedem einzelnen einen Namen gab
und jeden einzelnen im Blick hat -
sogar den Asteroiden B 612,
auf dem der kleine Prinz mit seinem Schaf und seiner Rose lebt -
so ist auch keine und keiner von uns ihm zu klein oder zu unbedeutend.
Gott kennt jede und jeden von uns,
„kennt auch dich und hat dich lieb.“
Und weil Gott auch den kleinsten Asteroiden kennt,
dürfen wir, die wir viel mehr sind als Asteroiden oder Spatzen oder Schafe
davon ausgehen, dass Gott unser Wohlergehen nicht egal ist,
auch und gerade wenn wir uns einsam und verlassen fühlen.

 

Kinderbücher, Kinderlieder - das ist doch nichts für Erwachsene!
Erwachsenen muss man die Sache auf andere Weise erklären.
Mit einer scharfsinnigen Beweisführung bestechen,
mit theologischen oder philosophischen Argumenten überzeugen.
Aber die Wahrheit, dass wir von Gott Geliebte sind, lässt sich nicht erweisen.
Man kann sie nur ergreifen.
Und so, wie wir als Eltern in unseren Kindern das Vertrauen anlegen und wecken,
mit dem sie ihr Leben meisten und bestehen können,
so legen Kinderbücher und Kinderlieder Grundsteine für das Vertrauen auf Gott,
für den Glauben an das Gute, an die Wahrheit, an Liebe und Menschlichkeit.
Sie lehren uns eine Haltung, mit der man dem Weltschmerz begegnen kann:
Wenn man sich ganz einsam und verlassen fühlt, den Kopf zu heben
in die Sterne zu schauen und daran zu denken,
dass Gott sie alle gezählt hat wie die Haare auf unserem Kopf.
- Nicht, dass Gott Langeweile hätte und sich mit solcher Zählerei die Zeit vertriebe!
Vielmehr so: Wie wir über das erste graue Haar erschrecken,
oder uns sorgen, wenn wir mehr Haare als sonst in der Bürste finden,
ebenso nimmt Gott Anteil an jedem Moment unseres Lebens,
und es ist ihm nicht egal, wie es uns geht - wir sind ihm nicht egal.

Nun müsste ich wohl sagen, dass es keine Mutprobe braucht, um zu Gott zu gehören.
Und tatsächlich stellt die Taufe keine große Herausforderung dar.
Es braucht keinen Mut, um sich taufen zu lassen.
Kleine Kinder erschrecken sich höchstens vor dem kalten Wasser.
Es ist keine Mutprobe nötig, um zu Gott zu gehören.
Aber es ist unglaublich viel Mut nötig, um zu glauben.
Viele Menschen bringen diesen Mut nicht auf.
Denn es bedeutet, sich auf ein Wort zu verlassen.
Ein Wort, das die Brücke über einen Abgrund bildet.
So, wie man sich auf die drei Worte „Ich liebe dich“ verlässt.
Aber manchmal wird man enttäuscht.
Manchmal stellt sich heraus, dass diese drei Worte nicht mehr wahr sind.
Sich dann noch einmal auf ein „Ich liebe dich“ einzulassen,
erfordert viel Mut - oder großen Leichtsinn,
wie man ihn entwickelt, wenn man verliebt ist.
Die Wahrheit, dass wir von Gott Geliebte sind, kann man nicht erweisen.
Glauben bedeutet, darauf zu vertrauen,
dass Gottes Liebe gilt und dass sie mir gilt.
Es ist nur ein Wort, auf dem man wie auf einer Brücke
über einen schwindelerregenden Abgrund geht.
Erst, wenn man die Brücke betritt, erfährt man, dass sie trägt.
Man kann es nicht wissen, ohne den Schritt zu tun,
Deshalb ist es so schwer, zu glauben.
Gott gibt uns dazu die Kraft, den Mut und die Ausdauer,

Die Kraft, die Gott verleiht, die Flügel, die er wachsen lässt,
helfen einem eher nicht, es den anderen mal so richtig zu zeigen,
wie Uli von Simmern es versuchte.
Sie helfen vielmehr, die „Mühen der Ebene“ zu bestehen.
Sie helfen einem, das Richtige zu tun und dabei zu bleiben,
auch wenn alle anderen das Falsche tun, wie es nach 1933 in unserem Land geschah.
Sie helfen, sich über die Masse zu erheben.
Nicht, um etwas Besseres zu sein,
sondern um besser sehen zu können, wohin der Weg führt, den alle gehen,
und in welcher Richtung im Verhältnis dazu der eigene Weg liegt.
Und schließlich helfen sie einem,
hin und wieder den Kopf gen Himmel zu heben
über den unendlichen Sternenhimmel zu staunen
und an den zu denken, der sie alle gezählt
und der auch unser Leben im Blick hat.