Predigt am Palmsonntag, 14.4.2019, über Jesaja 50,5-9:
Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet.
Ich sträube mich nicht.
Ich weiche nicht zurück.
Meinen Rücken bot ich den Schlägern dar
und meine Wange denen, die meinen Bart rauften.
Ich verbarg mein Gesicht nicht
vor Beleidigungen und Spucke.
Aber der Herrgott hilft mir,
darum werde ich nicht beschämt werden.
Darum habe ich mein Gesicht steinhart gemacht.
Ich weiß, dass ich nicht beschämt werde.
Mein Anwalt tritt heran.
Wer will mit mir prozessieren?
Lasst uns zusammen vor Gericht treten!
Wer will mein Prozessgegner sein?
Der trete mit mir vor den Richter!
Sieh, der Herrgott hilft mir.
Wer ist der, der mich verurteilen will?
Sieh, alle zerfallen wie Kleidung,
die Motte frisst sie.
Liebe Schwestern und Brüder,
mit dem Palmsonntag treten wir in die Karwoche ein.
Nach dem langen Vorlauf der Passionszeit,
in der Leiden und Tod angekündigt wurden,
kommt nun das Leid tatsächlich über Jesus.
Der Unterschied zwischen Passionszeit und Karwoche ist wie der
zwischen dem Wissen, dass man krank werden kann
und dem tatsächlichen Kranksein.
Jeder weiß, dass man irgendwann einmal ernsthaft krank werden kann -
eine Blinddarmentzündung, ein Beinbruch, ein Schlaganfall.
Aber jeder denkt auch dabei:
„Ich aber nicht!“
Die Karwoche zerschlägt die Illusion des „Ich aber nicht!“.
Sie lässt uns beinahe hautnah erfahren,
wie zerbrechlich das Glück ist.
Wie leidvoll das Leben sein kann.
Wie böse wir Menschen sein können,
und wie leicht die Grenze zur Unmenschlichkeit überschritten wird,
die niemals überschritten werden darf
und doch ungezählte Male überschritten wurde und wird.
I. Der Predigttext ist ein Beispiel für das Überschreiten dieser Grenze.
Ein Beispiel unmenschlicher Bosheit,
die sich schnell dort zeigt,
wo Menschen das Menschsein abgesprochen wird,
wo zwischen Menschen erster und zweiter Klasse,
zwischen „Herrenmenschen“ und „Untermenschen“ unterschieden wird.
Schläge, Ziehen und Ausreißen der Haare, Bespucken
sind Ausdruck der Verachtung und des Hasses,
in die der andere sich gesteigert hat.
Gewalt ist ja keine Form, sich auseinanderzusetzen.
Gewalt will zwingen und bezwingen,
Gewalt will vernichten und auslöschen.
Hier kommt noch etwas anderes ins Spiel.
Zu der Gewalt kommt die Demütigung.
Das Haareziehen, das Bespucken sollen dem Unterlegenen zeigen,
wie schwach, wie wehrlos, wie völlig ausgeliefert er ist.
Es soll ihm zeigen, wie sehr man ihn verachtet.
Und das ist vielleicht noch schlimmer als die Schläge.
Schläge tun weh, sie hinterlassen blaue Flecke oder sogar Narben.
Aber der Schwerz vergeht irgendwann.
Demütigungen verletzen die Seele,
und diese Verletzungen heilen nie,
man kann sie auch niemals vergessen.
II. In der Karwoche erinnern wir uns daran,
dass Jesus so gedemütigt wurde, und das in aller Öffentlichkeit.
Er, der am Palmsonntag wie ein König begrüßt worden,
als König in Jerusalem eingezogen war,
bekommt am Karfreitag eine Krone aus Dornen ins Haar gedrückt,
bekommt den Stock, mit dem man ihn verprügelte, als Szepter in die Hand,
wird seiner Kleider beraubt und in ein lächerliches Kostüm gesteckt.
Und natürlich bespuckt man ihn auch.
Man zeigt damit:
Dieser, der sich als König ausgab, ist völlig gescheitert.
Für seine Anmaßung bekommt er unseren gerechten Zorn zu spüren.
Für seine Unfähigkeit, sich zu wehren,
sich durch ein Wunder zu retten, unsere Verachtung.
Jesus wehrt sich nicht.
Er lässt alles über sich ergehen.
Heute, an Palmarum, erinnern wir uns daran,
dass er sehenden Auges auf dieses Ende zuging.
Er wusste, was ihn erwartete,
und versuchte nicht, sein Schicksal zu wenden,
dem Unheil zu entgehen.
Wie der Beter bei Jesaja macht er sein Gesicht hart wie Stein,
um die Schläge, die Beleidigungen, das Bespucktwerden zu ertragen.
III. Warum lässt Jesus es überhaupt so weit kommen?
Warum zieht er so provokant in Jerusalem ein,
dass alle Welt denken muss, er komme als Messias,
als der verheißene König Israels,
der das Reich Davids wieder aufrichtet und Frieden bringt,
wenn er diese Hoffnungen gar nicht erfüllen kann?
Müssen da die Menschen nicht zurecht enttäuscht von ihm sein?
Sehen die Frommen nicht zurecht ihren Glauben in den Schmutz getreten
und ins Lächerliche gezogen,
wenn Jesus aus dem Messias eine Art Clown macht?
Ist daher seine Ausstaffierung als Narrenkönig mit Dornenkrone
nicht die Quittung für sein lästerliches Verhalten?
Jesus zieht macht- und gewaltlos in Jerusalem ein,
aber seine Provokation ist dafür um so mächtiger und gewaltiger.
Das scheint auch seine Absicht zu sein.
Jesus legt es geradezu darauf an, die Leute vor den Kopf zu stoßen.
Er hatte ja keinen Moment vor, den Erwartungen der Leute zu entsprechen,
die sie mit dem Kommen des Messias verbanden.
Er enttäuscht alle Erwartungen; damit macht er sich alle zu Feinden.
So ist es bis heute.
Bis heute enttäuscht Jesus die Erwartungen, die man in ihn setzt.
Auch wir wurden schon von ihm enttäuscht.
Auch wir hatten mehr von ihm erwartet.
Wie oft haben wir ihn, oder Gott in seinem Namen,
um etwas oder für jemanden gebeten.
Wie oft hatten wir gehofft, dass er wenigstens dieses eine Mal
eingreifen und unser Schicksal oder das eines geliebten Menschen ändern würde.
Jedes Mal wurden wir enttäuscht.
Jedes Mal waren wir gezwungen, die Bruchstücke unseres Glaubens wieder aufzusammeln
und unseren Glauben neu zusammenzusetzen.
Auch das ist eine Demütigung,
wenn man erleben muss,
dass der eigene Glaube offenbar zu naiv, zu schlicht war;
dass man das offenbar nicht von Gott erwarten kann, was man erwartete.
Dass, was man vom Glauben zu wissen meinte, offenbar anders zu verstehen war.
IV. Die Karwoche führt den Glauben in eine ausweglose Situation.
Einerseits ist man voller Mitleid mit dem Leidenden.
Andererseits gibt es auch in uns einen Teil,
der zwar nicht „kreuzige ihn!“ schreit,
der aber auch die Wut darüber kennt und empfindet,
in seinen Hoffnungen und Erwartungen enttäuscht worden zu sein.
Aus einer ausweglosen Situation gibt es keinen Ausweg.
Und doch findet Gott einen Ausweg.
Diesen Ausweg deutet Jesaja an:
„Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet.
Ich sträube mich nicht.
Ich weiche nicht zurück.“
Es ist die Einwilligung in Gottes Willen.
„Dein Wille geschehe“, wie wir im Vaterunser beten.
Auch Jesus sagt es im Garten Gethsemane,
als seine Verhaftung und damit seine Qualen und sein Tod unmittelbar bevorstehen:
„Ist’s möglich, so gehe dieser Kelch an mir vorüber;
doch nicht, wie ich will, sondern wie du willst“ (Matthäus 26,39).
Diese Einwilligung in Gottes Willen geschieht nicht freudig, nicht begeistert.
Aber sie geschieht.
Voraussetzung dafür ist die Erkenntnis,
dass es neben meinem Willen noch einen anderen Willen gibt,
den es zu berücksichtigen gilt.
Und dass dieser zweite - Gottes - Wille ein Recht hat,
das dem meines Willens mindestens ebenbürtig ist.
Das klingt, als wäre es nichts Besonderes.
Aber jeder, der sich einmal dem Willen eines anderen beugen musste;
der seine Interessen zugunsten seines Partners, seines Kindes, seiner Eltern zurückstellte,
weiß, das es alles andere als einfach ist.
Natürlich, in guten Zeiten und aus Liebe tut man es gern.
Aber wenn es einen etwas kostet;
wenn man nicht einsieht, warum man dem anderen seinen Willen lassen soll;
wenn es Mühe macht oder das eigene Leben einschränkt, wird es schwer.
Jesus willigt in den Willen seines Vaters ein,
der ihn ins Leid und in den Tod führt,
weil er die Hoffnung hat, dass Leid und Tod nicht das Ende sein werden.
So hält auch der Beter bei Jesaja seinen Buckel und seine Wange hin,
weil er weiß, dass er das überstehen wird.
Er vergleicht seine Situation mit einem Gerichtsverfahren.
Eben ist er zwar noch der Angeklagte,
den man behandelt wie einen schlimmen Verbrecher, wie Abschaum.
Aber das Verfahren wird erweisen, dass er im Recht ist.
Das Gericht wird ihn freisprechen, das ist sicher.
So sicher, dass der Beter keinen Ankläger fürchtet.
Mit Gott als Anwalt an seiner Seite nimmt er es mit jedem auf.
V. In Gottes Willen einwilligen - wie soll das gehen?
Woher soll man wissen, was in der jeweiligen Lage Gottes Wille ist?
Jesus mag Gottes Willen gekannt haben, er war ja Gottes Sohn.
Aber wie sollen wir wissen, wie sollen wir erkennen, was Gott von uns will?
„Der Herrgott hat mir das Ohr geöffnet“, heißt es bei Jesaja.
Wem Gott das Ohr öffnet, der kann hören, was Gott von ihm will.
Der hört dann zum Beispiel folgendes:
„Es ist dir gesagt, Mensch, was gut ist
und was Gott von dir fordert, nämlich
Gottes Wort halten und Liebe üben
und demütig sein vor deinem Gott“ (Micha 6,8).
Die Orientierung an Gottes Wort,
bei der die Liebe der Maßstab und das Ziel ist,
und das nicht als Bestimmer und Besserwisser,
sondern in aller Demut:
das ist der Weg, Gottes Willen zu tun.
Dabei kann man Fehler machen.
Dabei kann man sich irren - wir sind nur Menschen.
Aber wer auf diesem Weg geht und versucht, darauf zu bleiben,
kann sicher sein, dass Gott nicht von seiner Seite weicht.
Kann darauf vertrauen, dass er alles, was ihm auf diesem Weg widerfährt,
aushalten kann und überstehen wird.
Weil am Ende Gott auf ihn wartet.
So, wie Gott auch auf Jesus wartete;
wie nach der Dunkelheit und Verzweiflung des Karfreitags
der Ostermorgen kam.