Samstag, 27. Juni 2020

Treue

Predigt am 3. Sonntag nach Trinitatis, 28. Juni 2020, über Micha 7,18-20:

Welcher Gott ist wie du?
Der du Schuld vergibst
und hinwegsiehst über die Sünde,
dem Rest deines Erbteils zugute.

Er hält nicht für immer an seinem Zorn fest,
denn sein Wesen ist unverbrüchliche Liebe.
Er wird sich wieder über uns erbarmen,
unsere Schuld zertreten,
und du wirst ihre Sünden in den Tiefen des Meeres versenken.

Er erweist Jakob Treue,
Abraham unverbrüchliche Liebe,
wie er unseren Vätern schwor
vor undenklichen Zeiten.


Liebe Schwestern und Brüder,

Treue ist ein großes Wort,
ein wichtiges Wort.
Eine Beziehung wäre nichts ohne sie.
Wenn man eine Beziehung eingeht,
ist sie deren selbstverständliche, unausgesprochene Voraussetzung.
Dabei geht es bei Treue nicht allein darum,
keine anderen Beziehungen einzugehen.
Es geht bei Treue auch um Vertrauen und Verlässlichkeit.
Um das Durchhalten und Durchtragen der Beziehung über Durststrecken,
über Zeiten des Missverständnisses und des Streits,
des Gefühls, zu kurz zu kommen,
mehr zu geben als zu bekommen.
Nicht immer lässt sich diese Treue durchhalten.
Bevor es zum Treuebruch kommt,
ist etwas anderes zerbrochen oder abhanden gekommen:
Die Liebe.

Treue in einer Beziehung
gibt es nur zwischen wirklichen Partnern,
die sich auf Augenhöhe begegnen.
Ist einer von beiden schwächer,
wird er abhängig vom anderen.
Das ist keine Treue,
wenn sie auf Ungleichheit und Unfreiheit basiert.

Auch der Stärkere kann nicht wirklich treu sein,
weil Treue ein Geschenk ist,
das aus dem Verzicht auf Stärke,
auf eigenen Vorteil und Gegenleistung erwächst.

II
Gott ist seinem Volk Israel treu.
Schon Abraham begegnete er wie einem Freund (Genesis 18,1-15),
von gleich zu gleich.
Gott ist in eine Beziehung zu Abraham getreten
und erneuerte diese Beziehung in jeder Generation,
mit Isaak, mit Jakob,
bis zum Bundesschluss am Sinai.
Dort erhielt Mose von Gott die Tafeln mit den Geboten.
Dort begegnete Gott seinem Volk als Partner eines Bundes,
von gleich zu gleich.
Aber das Volk Israel suchte sich andere Partner.
Von Gott hatte es nach der Befreiung aus Ägypten
und der Ankunft im Gelobten Land offenbar nichts mehr zu erwarten und zu erhoffen.
Andere Partner waren verlockender:
Großmächte, mit denen man politische Bündnisse eingehen konnte.
Fremde Götter, die man mit Geschenken bestechen
und für die eigenen Zwecke einspannen konnte.
So kam es, dass die Zahl der Gläubigen dezimiert wurde,
bis nur noch ein kläglicher Rest übrig geblieben war.

III
Wie konnte es geschehen,
dass das biblische Volk Israel die Beziehung zu Gott vergaß
und ihm untreu wurde?
Wie kann es geschehen,
dass eine große Liebe,
die ewig währen sollte und sich auch so anfühlte,
abhanden kommt oder zerbricht?

Liebe ist ein Gefühl des Ergriffenseins von einem anderen
und der Exstase.
Sie ist, wenn sie einen ergreift,
wie ein Rausch, der alles andere verdrängt.
Das ist die eine Seite der Liebe.

Die andere Seite der Liebe ist das Bewusstsein der Verbindlichkeit
und der Verantwortung für etwas Wunderbares und Kostbares.
Es ist das Wissen, beschenkt worden zu sein,
ohne es zu verdienen.

Der Rausch, die Exstase sind kein Dauerzustand.
Sie sind besonderen Momenten vorbehalten.
Das Wissen, mit dem anderen Menschen ein unverdientes Geschenk erhalten zu haben,
begleitet uns, wenn es gut geht, ein Leben lang.

IV
Über ein Geschenk hat man keine Macht.
Man kann ein Geschenk nicht einfordern.
Es kommt nicht, wann man selbst es will oder braucht,
sondern wenn der andere zum Geben bereit ist.

Jetzt verstehen wir, was mit „Sünde” gemeint ist:
Sünde ist der Wunsch, jederzeit ein Geschenk zu erhalten.
Jeder Tag soll Geburtstag, soll Weihnachten sein.
Man will nicht auf das Geschenk warten müssen,
sondern es haben, wenn einem danach ist.

Weil Gott ihnen nicht alle Steine aus dem Weg räumt,
ihnen nicht alles Leid erspart,
nicht jeden Wunsch erfüllt,
wenden sich die biblischen Israeliten von ihm ab
hin zu den Götzen, die sie manipulieren konnten.

Bis heute führt die oft leidvolle Erfahrung
der Unbestechlichkeit und Freiheit Gottes dazu,
dass Menschen sich enttäuscht von ihm abwenden.

Auch von Partnern, die nicht so sind, wie man will,
die nicht das tun, was man von ihnen erwartet oder verlangt,
wendet man sich manchmal ab.
Aber das ist keine Partnerschaft.
Echte Partnerschaft ist eine Beziehung zwischen Gleichen.
Echte Partnerschaft achtet die Freiheit und Andersartigkeit des anderen.

V
Wie aber lernt man,
die Freiheit und das Anderssein des anderen zu achten?
Durch die Erfahrung unverbrüchlicher Liebe.

Liebe, die außer sich geraten lässt,
fragt nicht nach dem Wert oder dem Lohn.
Sie liebt den anderen um seiner selbst willen.

Und Liebe, die ausdauernd ist und verantwortungsvoll,
erträgt das Anderssein des anderen,
weil sie im Anderen nicht das Eigene sucht,
sondern ihn sein lässt, wie er ist.

Auf diese Weise,
mit dieser unverbrüchlichen Liebe,
liebt Gott uns.
Gottes unverbrüchliche Liebe hält an uns fest,
Gott ist treu,
auch wenn wir Gott und unseren Mitmenschen wieder und wieder untreu werden.
Gott sieht uns mit den Augen der Liebenden.
In den Augen der Liebenden
ist jede und jeder Einzelne von uns
ein wunderbares, einzigartiges und unverdientes Geschenk.
Und nicht nur wir hier:
Jeder Mensch auf Gottes Erde.
Auch der, der ganz anders ist als wir.
Auch unsere politischen oder persönlichen Feinde und Gegner.
Auch die oder der, denen wir Pest und Cholera an den Hals wünschen
- gerade die, und gerade der.

Gott, der unverbrüchlich Liebende,
öffnet uns die Augen dafür,
wie sehr wir von Gott geliebt
und deshalb liebenswert sind,
wunderbar und schön.

Gott, der unverbrüchlich Liebende,
öffnet unsere Herzen für die Wahrheit,
dass das für jeden anderen Menschen auch gilt,
und dass es für uns nur gelten kann,
wenn wir die anderen auch gelten lassen.

Amen.