Predigt am 6. Sonntag nach Trinitatis, 19.7.2020, über Deuteronomium 7,6-12:
Du bist ein heiliges Volk für den Herrn, deinen Gott.
Dich erwählte der Herr, dein Gott, ein Volk zu sein,
das er sich aus allen Völkern der Erde erwarb.
Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.
Der Herr hat euch herausgeführt mit starker Hand
und euch losgekauft aus dem Sklavenhaus,
aus der Hand Pharaos, des Königs von Ägypten.
Und du sollst erkennen, dass der Herr, dein Gott, Gott ist.
Der treue Gott bewahrt den Bund und die unverbrüchliche Liebe
denen, die ihn lieben und seine Gebote halten,
bis in die tausendste Generation.
Aber denen, die ihn hassen, vergilt er persönlich,
indem er sie vernichtet.
Er zögert nicht, dem, der ihn hasst, persönlich zu vergelten.
Du sollst dich nach dem Gebot, den Vorschriften und den Rechtsordnungen, die ich dir heute gebiete, richten, dass du danach handelst.
Es soll geschehen:
Dafür, dass ihr diesen Rechtsordnungen genau gehorcht
und euch nach ihnen richtet und danach handelt,
wird auch der Herr, dein Gott, dir gegenüber
den Bund und die unverbrüchliche Liebe bewahren,
die er deinen Vorfahren geschworen hat.
Liebe Schwestern und Brüder,
„Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.“
Was kann schöner sein als das: geliebt zu werden?
Der Sinn des Lebens ist nicht, allein für sich zu sein
und „sein Ding“ zu machen.
Der Sinn des Lebens besteht darin,
einen anderen Menschen zu finden,
eine Partnerin oder einen Partner,
kurz: Liebe zu finden, sie zu erleben
und daraus zu leben in ihrer Vielfalt und Fülle,
und sie weiterzugeben.
Zu den schönsten Momenten im Leben gehört deshalb,
wenn man erwählt wird.
Wenn sich jemand in eine:n verliebt,
ist das Glück vollkommen.
Doch so wunderbar und vollkommen die Liebe ist:
sie erträgt keine Konkurrenz.
Liebe will Ausschließlichkeit.
Sind zwei Menschen ein Paar geworden,
wird die eine oder der andere zuweilen neidisch auf andere,
die Zeit mit der Partnerin oder dem Partner verbringen
und in seiner oder ihrer Nähe sind,
während man selbst nicht bei ihr oder ihm sein kann:
auf Schwiegereltern und Geschwister,
auf Freundinnen und Freunde,
Kolleginnen und Kollegen.
Zuweilen wird man sogar auf die eigenen Kinder neidisch,
wenn sie die Partnerin oder den Partner mit Beschlag belegen,
während man selbst ihr oder ihm nahe sein möchte.
II
„Nicht, weil ihr zahlreicher wärt als alle Völker,
hat der Herr euch geliebt und euch erwählt -
denn ihr seid das kleinste aller Völker -,
sondern weil der Herr euch liebt,
und weil er sich an den Schwur hält,
den er euren Vorfahren leistete.“
Gott hat sich verliebt, vor langer, langer Zeit.
In einen Menschen, einen heimatlosen Flüchtling,
der als Fremder in einem Land lebte,
indem er zeitlebens ein nur geduldeter Gast blieb.
Seine Nachfahren, vor dem Hunger nach Ägypten geflohen und dort versklavt,
kehrten nach ihrer Befreiung aus der Sklaverei
in das Land ihrer Vorfahren zurück.
Sie nahmen es ein.
Sie holten sich zurück, was ihren Vorfahren einst gehört hatte,
und sie eroberten neue Gebiete dazu.
Aber nicht lange gehörte ihnen dieses Land.
In vielen Kriegen wurden sie größeren und mächtigeren Völkern untertan,
schließlich aus ihrer Heimat deportiert
und in alle Winde zerstreut.
Als Fremde blieben sie fremd in den Ländern,
in denen sie lebten,
wurden misstrauisch beobachtet, verdächtigt und verfolgt,
und so ist es bis heute.
Selbst das alle menschliche Vorstellungskraft sprengende Grauen des Holocaust hat daran nichts geändert.
Der Antisemitismus, der nie wirklich überwunden worden war,
macht sich wieder breit,
als hätte es den Holocaust nie gegeben.
Aber trotz dieser und aller anderen schrecklichen Grausamkeiten,
die man diesen Menschen antat,
hat sich auch daran nichts geändert:
Gott liebt sein Volk Israel.
Bis heute ist es sein erwähltes Volk
und wird es in alle Zukunft sein.
Nicht wegen einer besonderen Eigenart,
die manche einer sogenannten „Rasse“ zuschreiben wollen.
Nicht wegen besonderer Leistungen,
einer herausragenden Frömmigkeit,
eines innigeren Glaubens.
Sondern weil Gott diese Menschen liebt
und weil er einst Abraham ein Versprechen gab,
das er nie gebrochen hat und niemals brechen wird.
III
Viele haben dem Volk Israel diese besondere Beziehung zu Gott geneidet.
Die Kirche war über viele Jahrhunderte sogar der Meinung,
Gottes Liebe sei von seinem Volk Israel
auf die Kirche übergegangen,
und die Christen seien das „wahre Israel“.
Aber von Gott erwählt zu sein bedeutet nicht,
dass wir entscheiden - oder sonst irgend jemand -,
wer zu Gottes Volk gehört, und wer nicht.
Allein Gott entscheidet das.
Es gibt auch keine genetischen oder sonstwie vererbbaren Merkmale,
die einen Menschen zum Teil des Volkes Gottes machen.
Jüdin oder Jude ist man nicht durch Abstammung,
sondern durch das Bekenntnis zum jüdischen Glauben -
so, wie man Christin oder Christ wird durch das Bekenntnis zu Christus bei der Taufe.
Und ebensowenig, wie Menschen bestimmen,
wer zu Gott gehört und wer nicht,
können sie die Verheißungen Gottes ändern.
„Was Gott aus Gnade geschenkt hat,
das nimmt er nicht zurück.
Und wen er einmal berufen hat, der bleibt es.“ (Römer 11,29).
Das „Neue Testament“ oder der „Neue Bund“,
wie wir beim Abendmahl sagen,
hat den Bund Gottes mit seinem Volk Israel nicht abgelöst oder überflüssig gemacht, im Gegenteil:
Ohne den Alten Bund gäbe es keinen Neuen,
ohne die Verheißungen des Alten Testaments hätten die Worte des Neuen keinen Boden und kein Fundament.
IV
Liebe will Ausschließlichkeit.
Sie erträgt keine Konkurrenz.
Gottes Liebe aber ist größer,
viel größer als unsere oft so engen Herzen.
Gottes Liebe umfasst nicht nur sein Volk Israel
und uns, die wir als Glaubende dazugekommen sind.
Gottes Liebe erträgt es auch,
dass es so viele unterschiedliche Formen des Glaubens gibt.
Aber es muss doch irgendwo eine Grenze geben!
Es können doch nicht alle erwählt,
es können doch nicht alle gleich viel wert sein!
Wie kann ich mir sonst sicher sein,
dass Gott mich meint, mich liebt,
wenn alle anderen genauso gemeint,
genauso geliebt sind wie ich?
Zunächst einmal gilt es auszuhalten,
dass Gott erwählt, nicht wir.
Wie wir Freiheit für uns in Anspruch nehmen
und in unseren Entscheidungen nicht eingeschränkt werden wollen,
so entscheidet Gott frei,
ohne auf unsere Wünsche oder Interessen Rücksicht zu nehmen.
Aus allen möglichen Völkern und Menschen hat Gott sich für Abraham entschieden.
Ihn hat er erwählt, Stammvater eines Volkes zu werden,
das so zahlreich wie die Sterne ist (Genesis 15,5).
Zahleich wie die Sterne sind nicht Abrahams leibliche Nachkommen - die sind zählbar.
Zahlreich wie die Sterne sind alle,
die, wie Abraham, Gott und seinem Versprechen glauben.
Denn sie umfassen alle, die Gott geglaubt haben,
alle, die jetzt glauben
und alle, die noch glauben werden.
Erwählung bedeutet also,
an Gott glauben zu können.
Wer diese Fähigkeit in sich entdeckt,
wer sagen kann:
Ich glaube an Gott,
und wer daraus mehr ableitet als ein gutes Gefühl,
nämlich: sein Leben in der Verantwortung vor Gott zu führen,
die oder der ist erwählt.
Denn dass man glauben kann,
ist ein Zeichen dafür,
dass Gott mich liebt und möchte,
dass ich, wie die anderen Glaubenden,
zu seinem Volk gehöre.
V
Das Volk Israel wurde und wird um seine Erwählung beneidet.
Dabei ist Erwählung nicht unbedingt etwas,
auf das man neidisch sein muss.
Erwählung bedeutet nämlich Verantwortung.
Wer von Gott erwählt wurde,
muss sich vor Gott verantworten.
Gott fragt ihn oder sie:
Was machst du mit deinem Leben?
Wie gehst du um mit der Schöpfung,
der Welt, die ich dir anvertraut habe?
Wie gehst du um mit deinen Mitmenschen,
die ich ebenso liebe wie dich?
Warum lässt du zu, dass sie leiden?
Warum lässt du zu, dass Menschen verhungern
oder auf der Flucht vor dem Hunger im Mittelmeer ertrinken?
Du weißt doch, was gut ist und was ich von dir erwarte (Micha 6,8)!
Erwählung bedeutet, sich das sagen und gesagt sein zu lassen,
sich das immer wieder aufs Neue von Gott fragen zu lassen.
Das Volk Israel hat diese Bürde der Erwählung,
die Last des Gesetzes,
über Jahrtausende geduldig getragen.
Als Jesus kam, hat er dieses Gesetz nicht nur bestätigt,
er hat die Last des Gesetzes sogar noch schwerer gemacht -
so schwer, dass man sie nicht mehr tragen konnte.
Damit nahm er uns die Illusion,
wir könnten das Gesetz erfüllen,
könnten die Last des Gesetzes eines Tages ablegen,
weil wir es abgearbeitet hätten,
und müssten uns dann diese drängenden Fragen Gottes nicht mehr stellen lassen.
Die Verantwortung für unser Leben,
für unsere Mitmenschen und unsere Welt werden wir also nicht los.
Dafür hat Jesus uns gezeigt,
dass die Last der Verantwortung nicht so schwer ist, wie wir meinen.
Die Last ist leicht,
weil Jesus sie für uns sozusagen auf seine Schultern nimmt,
indem er uns die Kraft seiner Liebe gibt.
Als von Gott Geliebte und Erwählte verfügen wir über die Liebe,
die nicht weniger wird, sondern sich vermehrt,
je mehr wir sie verschenken.
Deshalb besteht der Sinn des Lebens nicht nur darin,
einen Menschen zu lieben,
sondern alle.
Denn je mehr Liebe man verschenkt,
desto größer wird sie.
Und je mehr Menschen wir einladen
und einbeziehen in Gottes Bund,
desto sicherer und gewisser werden wir Gottes Liebe zu uns
und unserer Erwählung.
Amen.