Samstag, 25. Juli 2020

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Predigt am 7. Sonntag nach Trinitatis, 26. Juli 2020, über Hebräer 13,1-3:

Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe!
Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, aber vergesst nicht - 
so haben manche, ohne es zu wissen, Engel beherbergt.
Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid; 
denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.


Liebe Schwestern und Brüder,

„was du nicht willst, das man dir tu,
das füg auch keinem andern zu!"

Mit diesem Merkvers bin ich aufgewachsen - Sie vielleicht auch.
Bei allen Regeln, die man für das Leben so braucht,
ist diese eine der einfachsten und grundlegendsten -
aber auch am schwersten zu befolgen.

Andere Regeln sind leichter umzusetzen.
Von den 10 Geboten z.B. das 7. Gebot: „Du sollst nicht stehlen”:
Da weiß man gleich, woran man ist: Fremdes Eigentum ist tabu.
Bei „Was du nicht willst, was man dir tu …” muss man erst überlegen.
Denn was man anderen antut, spürt man selbst ja nicht -
bis es einmal auf einen selbst zurückschlägt.

Wenn man z.B. als der Stärkere andere herumschubst und herumkommandiert,
spürt man selbst nicht, wie sich das anfühlt,
herumgeschubst und herumkommandiert zu werden.
Es muss erst ein Stärkerer kommen, der mit einem dasselbe tut,
bis man begreift, wie unangenehm und erniedrigend das ist.

Wer diese Regel befolgen will,
muss sich also in andere hineinversetzen
und sich vorstellen können, wie sich das anfühlt,
was man anderen so antut -
z.B. hinter dem Rücken über jemanden reden,
oder einem anderen sagen und zeigen:
Du gehörst nicht hierher, du gehörst nicht dazu.
Wer das selbst nie erlebt hat,
wer immer nur Täter war, nie Opfer,
der kommt gar nicht auf die Idee, darüber nachzudenken.

II
Es versteht sich nicht von selbst,
dass man darüber nachdenkt,
was sein Handeln bei anderen anrichtet und auslöst.
Weil es nicht selbstverständlich ist,
hat Jesus die Faustregel umgedreht:
Statt darüber nachzudenken, wie andere sich fühlen,
geht man bei der „Goldenen Regel” von sich selbst aus:
„Alles, was ihr wollt, das euch die Leute tun sollen,
das tut ihnen auch!”
, sagt Jesus (Matthäus 7,12).
Die Goldene Regel setzt bei uns und unseren Bedürfnissen an.
Ich weiß ja schließlich, was ich will und brauche.
Ich möchte z.B. respektvoll behandelt werden -
dann, sagt Jesus, begegne auch anderen Menschen mit Respekt.
Ich möchte, dass man mir die Wahrheit sagt -
dann, sagt Jesus, sag auch du die Wahrheit.

Wer die Goldene Regel beherzigen möchte,
macht die Entdeckung,
dass die eigenen Bedürfnisse auch die aller anderen sind.
Ich habe Hunger - andere Menschen auch.
Ich möchte meine Ruhe - die wollen andere auch.
Ich möchte Sicherheit - die suchen andere auch.
Ich suche Zuneigung, Freundschaft, Vergebung - die brauchen andere auch.

Trotzdem ist es nicht leicht, die Goldene Regel zu befolgen.
Denn oft weiß man nicht, was man eigentlich will.
Und meistens erscheint einem das, was man braucht,
als so selbstverständlich, dass man nicht darüber nachdenkt.
In unserer Gesellschaft, in der so vieles im Überfluss vorhanden ist
und so viele Menschen reichlich von allem haben,
braucht man auch nicht darüber nachzudenken.
Wenn man Hunger hat, geht man an den Kühlschrank.
Ist der Kühlschrank leer, geht man einkaufen.
Erst, wenn das nicht mehr geht -
weil man wegen des Corona-Virus nicht aus dem Haus kann
oder weil man kein Geld zum Einkaufen hat -
merkt man, was einem fehlt.
Wenn man es nicht haben kann,
wird einem bewusst, was man will oder braucht.

So setzt also auch die Goldene Regel das Nachdenken voraus:
Ein Nachdenken über das, was uns selbstverständlich erscheint,
was aber nicht selbstverständlich ist.

III
Die Regeln, die der Hebräerbrief aufstellt, beschreiben einen dritten Weg:
Sie erinnern an Erfahrungen, die man gemacht hat
oder sprechen von Erfahrungen, die man machen könnte. 
Diese Erfahrungen sollen dazu anregen, nach dem Willen Jesu zu handeln,
nämlich: Den Nächsten, die Nächste zu lieben wie sich selbst.

„Die Liebe zu denen, die euch vertraut sind, bleibe!”
Dass man Eltern oder Geschwister, Partner oder Partnerin, 
Kinder oder Enkel, Freundinnen oder Freunde gern hat,
ist zwar nicht die Regel.
Aber wenn es gut ging und gut geht,
macht man die Erfahrung, von Menschen umgeben zu sein,
die man lieb hat.
Diese Erfahrung, die hoffentlich jede:r von uns machen durfte,
wendet der Hebräerbrief auf die Fremden an:
„Die Liebe zu denen, die euch fremd sind, vergesst nicht”.
Wer seine Nächsten liebt, soll auch die Fremden lieben.
Aber warum sollte man fremde Menschen genauso behandeln 
wie die, die einem nahe stehen?
Weil, sagt der Hebräerbrief, uns in diesen Fremden ein Engel begegnen könnte.

Nun ist es sicher nicht so,
dass Gottes Engel inkognito umherstreifen,
um unsere Gastfreundschaft zu überprüfen.
Liest man in der Bibel von Gottes Boten,
dann wird dort berichtet,
dass Gott sie mit einer Botschaft zu den Menschen schickt.
Durch die Menschen, die uns fremd sind,
könnte Gott uns also eine Botschaft schicken.
Sie könnten uns lehren, Dinge und uns selbst
anders und auf neue Weise zu sehen -
etwas, was Menschen, die uns vertraut sind, uns nicht lehren können.

IV
„Denkt an die Gefangenen, weil auch ihr Gefangene seid”.
Vielleicht stimmt es doch nicht,
dass der Hebräerbrief uns an unsere Erfahrungen erinnert.
Denn im Gefängnis waren doch hoffentlich die Wenigsten von uns!
Im Griechischen steht dort, wo wir „Gefangene” lesen,
das Wort „Gebundene”.
Gebundene sind wir alle, im Guten wie im Bösen.
Im Guten sind wir an Menschen gebunden, die wir lieben,
oder an ein Versprechen, das wir jemandem gaben.
Im Bösen sind wir gebunden an die Verhältnisse, in denen wir uns befinden,
an eine Angewohnheit, die wir nicht abstellen können,
an eine Sucht wie den Alkohol.
Wir erleben uns gebunden durch Ängste und Sorgen,
durch familiäre oder berufliche Zwänge.
Auch wenn wir nicht im Gefängnis waren,
wissen wir, was es bedeutet, gefangen zu sein -
und dass man sich aus dieser Gefangenschaft selbst oft nicht befreien kann,
sondern die Hilfe anderer dazu braucht.

„Denkt an die Misshandelten, weil auch ihr Verletzliche seid.”
Zum Schluss erinnert der Hebräerbrief an die eigene Verletzlichkeit.
Wer kennt sie nicht, die Angst vor dem Zahnarzt?
Es ist die Angst vor dem Schmerz, den man im Gesicht besonders empfindet.

Die Erfahrung des Schmerzes vermeidet man, wo man kann,
und man erinnert sich auch nicht gern daran,
wie schlimm die Kopfschmerzen waren,
wie weh der umgeknickte Fuß oder das aufgeschürfte Knie getan haben,
wie schmerzhaft der Verlust des geliebten Menschen war.
Aber der Hebräerbrief möchte, dass wir uns daran erinnern.
Denn zum Mitleid ist nur fähig, wer das Leid nicht verdrängt.
Mitleid aber ist die Voraussetzung der Nächstenliebe.
Nur wer Mitleid empfinden kann, ist in der Lage,
die Goldene Regel zu befolgen, die Jesus aufgestellt hat.

V
Auch der dritte Weg, den der Hebräerbief beschreibt,
erspart uns nicht das Nachdenken und das Einfühlen in den anderen Menschen.
Es ist das Kennzeichen der Nächstenliebe, die Jesus von uns fordert,
dass wir nicht nur über uns nachdenken,
sondern uns auch in unsere Mitmenschen hineinversetzen.

Natürlich kann man nicht alle Menschen, 
die man kennt oder denen man begegnet,
in sein Herz, seine Gedanken und seine Gebete einschließen.
Deshalb lautet das Gebot der Nächstenliebe:
„Liebe deinen Nächsten wie dich selbst”.
Das könnte eine Richtschnur sein:
In dem Maße, in dem ich über mich selbst nachdenke und mir Sorgen mache,
kann ich über meine Mitmenschen nachdenken und mich um sie sorgen.
Es hat den guten Nebeneffekt,
dass die eigenen Sorgen und Probleme um so kleiner werden,
je mehr man sich um andere sorgt.
Und es hat die Verheißung,
dass uns in einem anderen Menschen ein Bote Gottes begegnet,
der eine wichtige Botschaft für uns hat.
Das muss kein Ruf zur Umkehr sein wie bei Bileam (4.Mose 22),
kein Hinweis auf Fehler und Versäumnisse.
Es kann auch sein, dass mir der andere sagt:
Du bist ein guter Mensch.
Du bist gut so, wie du bist.
Und du wirst geliebt.

Und das kann einem ja eigentlich nicht oft genug gesagt werden.

Amen.