Predigt am 10. Sonntag nach Trinitatis, 16.8.2020, über Römer 11,25-35:
Paulus schreibt:
Liebe Geschwister,
mir liegt sehr daran, dass ihr dieses Geheimnis versteht,
damit ihr nicht auf euer eigenes Wissen baut,
dass nämlich Israel teilweise Verstockung widerfahren ist,
bis die Vollzahl der Heiden dazugekommen ist
und so ganz Israel gerettet werden wird,
wie geschrieben steht (Jesaja 59,20f):
„Aus Zion wird der Retter kommen.
Abwenden wird er die Gottlosigkeit von Jakob,
und das wird mein Bund für sie sein,
wenn ich ihre Sünden wegnehmen werde”.
Dem Evangelium nach sind sie zwar Feinde um euretwillen,
aber der Erwählung nach sind sie Geliebte um der Vorväter willen.
Denn die Gaben und die Erwählung Gottes sind unwiderruflich.
Wie ja auch ihr einst Gott ungehorsam wart,
jetzt aber Erbarmen gefunden habt durch ihren Ungehorsam,
so sind diese jetzt ungehorsam geworden,
sodass ihr Erbarmen finden konntet,
damit auch sie jetzt Erbarmen finden.
Denn Gott hat alle in den Ungehorsam eingeschlossen,
um sich aller zu erbarmen.
Liebe Schwestern und Brüder,
den allwissenden Erzähler gibt es nur im Roman.
Nur der Autor eines Buches kennt jeden einzelnen Charakter,
seine Geschichte, seine Gefühle, seine Ziele,
und weiß als einziger, ob die Geschichte am Ende gut ausgeht oder nicht.
Als Leser:in folgt man gespannt den Wendungen des Romans,
und erst am Ende ist man so klug wie sein:e Autor:in.
Man würde manchmal gern vorher wissen,
wie eine Sache ausgeht.
Man würde manchmal auch gern wissen,
was andere gerade denken, was sie vorhaben.
Aber im wirklichen Leben kennt man immer nur eine - seine - Seite.
Was die oder der andere denkt -
welche Beweggründe sie hat, was sie fühlt, was sie will -
darüber kann man bestenfalls Vermutungen anstellen.
Und wer im Zweifel oder im Streitfall recht hatte,
das zeigt sich immer erst ganz am Ende.
Die Bibel ist kein Roman,
auch wenn sie ein sehr dickes Buch ist.
Es gibt in ihr keinen allwissenden Erzähler,
der die Motive und Ziele aller seiner Figuren kennt.
Darin ist die Bibel mit unserer Wirklichkeit verwandt,
auch wenn man meinen könnte,
Glaube und Wirklichkeit würden sich ausschließen.
In der Bibel _kann_ es keinen allwissenden Erzähler geben,
weil Gott über und hinter allen Erzählungen der Bibel steht.
Gott allein ist allwissend.
Aber Gott lässt sich nicht in die Karten sehen -
auch wenn man zu gern mal spicken würde,
welche Trümpfe er so in der Hand hält.
Man sieht nur die Karten, die schon ausgespielt sind.
Von ihnen versucht man zu schließen,
welche Karten noch im Spiel sind,
und welches Blatt die anderen haben:
ob sie gute Karten haben oder schlechte.
II
Paulus, der ehemalige Pharisäer,
fragt sich in seinem Brief an die Gemeinde in Rom,
warum seine jüdischen Glaubensgeschwister
im gekreuzigten und auferstanden Jesus von Nazaret
nicht den Messias, den Christus, erkennen wollen,
den er in ihm erkannt hat.
Damit greift er eine Frage auf,
die auch die römischen Christen bewegt
und die seitdem immer wieder aufgeworfen wurde:
Wenn die Menschen jüdischen Glaubens auf den Messias warten,
warum erkennen sie dann Jesus nicht als Messias an?
Über die Jahrhunderte hinweg war dies einer der Gründe
für die erbarmungslose und unerbittliche Verfolgung,
Ausgrenzung und Stigmatisierung der Menschen jüdischen Glaubens.
Aber schon Paulus geht einen anderen Weg bei der Lösung dieser Frage.
Er wirft es seinen Glaubensgenossen nicht vor,
dass sie Jesus nicht als Messias anerkennen,
sondern stellt es als Tatsache fest - wenn auch nicht ohne Bedauern.
Es ist für ihn undenkbar,
dass seine Glaubensgenossen den Messias nicht erkennen würden.
Es muss daher - sozusagen von höchster Stelle - verhindert worden sein,
dass Jesus von ihnen erkannt wurde.
Aber zugleich ist es undenkbar,
dass Gott nicht wollte, dass sein Volk den Messias erkennt.
Israel ist Gottes erwähltes Volk,
daran gibt es keinen Zweifel,
„denn die Gaben und die Erwählung Gottes sind unwiderruflich”.
Anders wäre Glaube auch gar nicht möglich.
Wenn Gott jederzeit seine Meinung ändern
und sein Versprechen brechen würde,
wie sollte man dann sicher sein,
dass man zu Gott gehört?
Für Paulus kehrt sich damit die Frage um:
Nicht warum seine Glaubensgenossen nicht an Jesus glauben,
ist die Frage, sondern was das für die bedeutet,
die an Jesus glauben.
Christus ist gekommen und hat,
davon ist Paulus überzeugt,
einen neuen Zugang zu Gott eröffnet,
der besonders denen gilt,
die Gott bisher nicht kannten.
Dadurch entstehen zwei Gruppen:
Hier die Schar der Christen,
die sich dem neuen Weg anschließen,
wie Paulus ihn verkündigt.
Dort die Menschen jüdischen Glaubens,
die an den Überlieferungen ihrer Mütter und Väter
und am Gesetz des Mose festhalten,
an Gebot und Beschneidung.
Beide sind „Volk Gottes”,
beiden gelten Gottes Verheißungen -
den Menschen jüdischen Glaubens von Anfang an,
und den Christ:innen jetzt auch.
III
Wenn es zwei Gruppen gibt,
die miteinander im Wettbewerb stehen
um Gottes Gunst und Erbarmen,
erhebt sich die Frage:
Wer von beiden hat recht?
Wer gehört zum Volk Gottes:
„Wir” oder „die”?
Die Frage ist einfach zu entscheiden:
Weil die Gaben und die Erwählung Gottes unwiderruflich sind,
kann die Antwort nur lauten: beide.
Offenbar gibt es zwei Wege, zwei Möglichkeiten,
Gottes Kind zu werden:
durch den jüdischen Glauben und durch den christlichen.
Es gibt zwei Wege,
aber man kann sich nicht aussuchen,
welchen man gehen will,
weil man sich den Glauben nicht aussuchen kann.
Man kann nicht von jetzt auf gleich entscheiden:
Ich glaube, dass Jesus der Christus, der Messias ist.
Auch, wenn manche:r das im Rückblick so empfindet:
Dass wir glauben, ist nicht unsere Tat, nicht unsere Entscheidung.
Dass wir an Jesus als den Christus glauben, ist ein Geschenk.
Paulus nennt es: „Gottes Erbarmen”.
Der Glaube an Jesus kann einem nicht einleuchten,
man kann nicht davon überzeugt werden.
Er fällt einem sozusagen in den Schoß - oder nicht.
Nicht zu glauben ist der „Ungehorsam”,
von dem Paulus spricht.
„Ungehorsam” Klingt so, als habe man nicht gewollt,
als sei es die eigene Schuld gewesen,
dass man nicht glauben konnte, nicht geglaubt hat.
Aber so, wie Paulus es darstellt,
ist der Ungehorsam vielmehr eine Unfähigkeit:
Man kann nicht an Jesus als den Christus glauben,
wenn Gott es nicht will.
Paulus nennt es „Verstockung”,
wie Gott einst den Pharao verstockte,
damit er das Volk Israel nicht aus Ägypten ziehen ließ.
IV
Gott verstockt Menschen,
damit sie nicht an Jesus glauben -
kann man, darf man so von Gott denken und sprechen,
wie Paulus es tut?
Darf man Gott so beschreiben,
dass er scheinbar willkürlich der einen den Glauben schenkt
und ihn der anderen verweigert?
Paulus kann nicht wissen,
wie Gott ist und was Gott will.
Er kann nur anhand dessen, was er sieht und erlebt,
vermuten, was Gottes Wille sein könnte.
Paulus vermutet einen tieferen Sinn dahinter,
dass die „Heiden” zum Glauben an Christus finden,
seine jüdischen Glaubensgeschwister aber nicht.
Und er findet die Erklärung,
dass die Menschen jüdischen Glaubens sozusagen
ein wenig beiseite rücken und Platz machen mussten,
damit die, die bisher nicht zum Volk Gottes gehörten, dazukommen konnten.
Sie mussten „ungehorsam” werden, wie Paulus es nennt,
weil in Gottes Haus zwar viele Wohnungen sind,
wir aber die Tür nicht gefunden hätten,
wenn unsere jüdischen Glaubensgeschwister
nicht für uns Platz gemacht hätten.
Ohne ihre Hilfe wären wir an der offenen Tür vorbeigelaufen.
Was von außen als Ablehung und Unwille, als „Ungehorsam”, erscheint,
ist also in Wahrheit ein Entgegenkommen.
Ein unfreiwilliges Entgegenkommen,
denn die Menschen jüdischen Glaubens wussten nichts davon,
dass sie für die „Heiden” Platz gemacht hatten.
Sie konnten es nicht wissen.
Wenn man selbst nicht der allwissende Erzähler ist,
bleiben einem die wahren Gründe bis zum Ende verborgen.
V
Paulus stellt Vermutungen an -
auch er ist nicht allwissend.
Ob seine Vermutungen uns überzeugen können?
Es klingt nicht wirklich logisch, was er sagt,
es ist mehr ein Bild, das Paulus zeichnet:
Das Bild eines Hauses,
das eigentlich genug Platz hat,
aber dessen Eingang nicht zu finden ist,
wenn andere, die schon drin sind,
nicht ein wenig beiseite rücken.
Das Bild vom „Platz machen” ist ein schönes Bild.
Es gilt auch uns:
Es könnte ja sein,
dass auch wir manchmal Plätze besetzen,
und dadurch verhindern, dass andere dazukommen können.
Wenn wir ein bisschen rücken würden,
würden andere vielleicht entdecken,
dass auch für sie noch Platz in der Gemeinde,
ein Platz im Gottesdienst ist.
Man macht sich nicht nur körperlich breit.
Man nimmt auch Raum ein mit seinem:
„Das muss so-und-so gemacht werden!” oder
„das haben wir immer so gemacht!”.
Man nimmt anderen den Raum,
wenn man Aufgaben oder Verantwortung
nicht abgeben oder teilen kann.
Man nimmt anderen Raum,
wenn sie erst so sein, denken und leben müssen
wie man selbst es für richtig hält,
bevor man ihnen einen Raum bei sich zugesteht.
Vielleicht ist am Ende die Frage gar nicht so entscheidend,
warum es zwei Wege zu Gott gibt:
den des jüdischen und den des christlichen Glaubens -
und ob es vielleicht noch mehr Wege geben könnte.
Entscheidend ist, ob man Gottes Liebe und Erwählung,
wenn man sie gefunden und für sich angenommen hat,
mit anderen teilen kann,
die nicht so glauben, denken und sind, wie man selbst,
oder ob man sie eifersüchtig nur für sich allein haben will.
Entscheidend ist, ob man anderen zuliebe
im Glauben und im Leben ein bisschen zur Seite rücken kann.
In Gottes Haus sind viele Wohnungen.
Aber wie das so ist in Mehrfamilienhäusern:
Nicht immer kommen Nachbarn gut miteinander aus.
Darum schärft Paulus uns ein,
dass _alle_ ungehorsam waren.
Niemand kann von sich behaupten,
er oder sie hätte Gottes Barmherzigkeit verdient,
oder würde sie mehr verdienen als andere.
Darum sollten wir Gott dankbar sein,
dass er uns zu sich eingeladen hat,
und nicht scheel dreinschauen,
wenn er Leute einlädt,
denen wir es nicht gönnen
oder die wir nicht dabei haben möchten.
Wir sollten vielmehr froh sein,
dass Gottes Haus und Gottes Herz so groß sind.
Da ist für jede und jeden Platz -
auch für uns!