Donnerstag, 22. Oktober 2020

Aus Prinzip barmherzig

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 25.10.2020, über Markus 2,23-28:
 
Es begab sich, dass Jesus am Sabbat durch die Getreidefelder ging
und seine Jünger begannen, Ähren auszuraufen, als sie sich den Weg bahnten.
Da sprachen die Pharisäer zu ihm:
Sieh doch, was sie am Sabbat tun! Das darf man nicht!
Aber er sprach zu ihnen:
Habt ihr nicht gelesen, was David tat,
als er in Not war, und ihn und die bei ihm waren hungerte,
wie er in das Haus Gottes ging zur Zeit des Hohepriesters Abjatar
und die Schaubrote aß, die außer dem Priester niemand essen darf,
und auch denen davon gab, die bei ihm waren?
Und er sprach zu ihnen:
Der Sabbat ist wegen des Menschen da,
und nicht der Mensch wegen des Sabbats.
Daher ist der Menschensohn auch Herr über den Sabbat.
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
an dieser Geschichte ist eigentlich alles verkehrt.
 
Warum regen sich die Pharisäer darüber auf,
dass die Jünger Getreideähren abreißen und die Körner herauspulen?
Viel schlimmer ist doch,
dass sie mitten durchs reife Getreide laufen und es zertrampeln!
Darüber sollten sie sich aufregen!
Dagegen ist das Abreißen von ein paar Ähren doch gar nichts!
Es ist auch keine Arbeit, die Körner aus den Ähren zu pulen.
So etwas tut man nicht aus Hunger, sondern aus Langeweile,
um beim Wandern etwas zu Kauen zu haben.
 
Aber auch Jesus müsste nicht so reagieren, wie er es tut.
Schließlich sind seine Jünger nicht am Verhungern.
Sie könnten sich ruhig an die Regel halten, am Sabbat nicht zu arbeiten,
und würden sich dabei keinen Zacken aus der Krone brechen.
Was hat er überhaupt wie ein Gutsherr mitten durchs Getreide zu gehen,
statt auf dem Weg zu bleiben wie jeder andere auch?
Hat er keine Achtung vor der Arbeit des Bauern
und vor dem Brot, das da wächst?
Und wie kommt er schließlich dazu, sich mit König David zu vergleichen?
 
An dieser Geschichte ist alles verkehrt,
und das sollte uns stutzig und hellhörig machen.
 
Worum geht es hier eigentlich?
Wie es scheint, geht es ums Prinzip,
ob man sich über Gottes Gebot hinwegsetzen darf, oder nicht.
Dabei sind Jesus und die Pharisäer darin einig,
dass man die Gebote halten muss.
Sie sind auch darin einig,
dass es Umstände gibt,
in denen man die Gebote übertreten darf,
ja, sogar übertreten muss.

Am Beispiel König Davids wird deutlich,
dass es ganz bestimmte Umstände sein müssen,
die eine Übertretung des Gebotes rechtfertigen:  
eine Notsituation.  
In einer Notsituation muss man sich manchmal über geltende Gesetze,
muss man sich manchmal auch über Gottes Gebot hinwegsetzen.
Dagegen haben auch die Pharisäer nichts einzuwenden.
Auch für die Pharisäer war es,  
und für die Menschen jüdischen Glaubens ist es selbstverständlich,
dass man Gebote übertreten darf oder sogar muss, um Leben zu retten.
 
Aber eine solche Notsituation liegt hier nicht vor.
Die Jünger haben vielleicht Hunger,
aber sie sind doch weit davon entfernt, zu verhungern.
Auch in den anderen Geschichten,
die davon erzählen, wie Jesus Kranke am Sabbat heilt,
ist die Not nicht so groß,
dass Jesus mit seiner Heilung nicht noch einen Tag warten könnte,
bis der Sabbat vorüber und das Heilen wieder erlaubt ist.
 
Es geht also um mehr als nur die Ausnahme vom Gebot.
Es geht darum, WER sich herausnehmen darf,
das Gebot zu übertreten.
Wenn ich die Regel „Not kennt kein Gebot” anwende
und Regeln oder Gesetze außer Kraft setze,
die doch für alle gelten,
stelle ich mich über das Gesetz.
Ich nehme mir etwas heraus, was mir eigentlich nicht zusteht,
weil die Not es gebietet.
Trotzdem muss ich die Verantwortung für mein Handeln tragen
und mich möglicherweise dafür rechtfertigen,
dass ich Gesetze gebrochen habe.
 
Darum darf das nicht zur Gewohnheit werden,
sondern muss eine Ausnahme für den Notfall bleiben,
sonst wären Regeln und Gesetze wirkungslos.
Nur Jesus darf das Sabbatgebot übertreten.
Darum tritt er wie ein Gutsherr auf,
der quer durchs Getreide stiefelt,  
statt, wie es sich gehört, auf dem Weg zu bleiben.
Darum vergleicht er sich mit König David:
Jesus ist der Herr über den Sabbat.
Jesus, der Sohn Gottes, darf es sich herausnehmen,
auch wegen eines geringen Grundes die Regel zu brechen,
dass man am Sabbat nicht arbeiten darf.
 
Jesus ist uns hier kein Vorbild.
Er handelt willkürlich, wie ein Diktator, ein Despot.
Auch darin ist die Geschichte total verkehrt.
So etwas darf Jesus doch nicht tun!
So kann Jesus doch nicht sein!
Ich denke, was diese Geschichte uns sagen will,
ist nicht, dass Jesus ein launischer Despot ist,
der tut, was ihm gerade einfällt.
Sondern dass Jesus Gottes Sohn ist,
der in göttlicher Vollmacht handelt
und darum auch Gottes Gebot übertreten kann -
nicht aus Willkür, sondern aus Barmherzigkeit.
 
Natürlich könnte man von den Jüngern erwarten,
sich zurückzuhalten und keine Ähren abzurupfen,
weil man am Sabbat nun einmal nicht arbeiten soll.
Aber die Barmherzigkeit sagt: Lass sie ihren Hunger stillen.
Natürlich könnte Jesus mit der Heilung der Kranken warten,
bis der Sabbat vorüber ist.
Aber die Barmherzigkeit sagt: Lass sie gesund werden,
sie haben lange genug unter ihrer Krankheit gelitten.
 
Wir sind nicht Jesus.
Auch das macht uns diese Geschichte deutlich.
Wir sind eher wie die Jünger
oder wie die Gefolgsleute Davids,
die von seiner Barmherzigkeit profitieren.
Aber wenn wir selbst einmal in die Situation kommen sollten,
dass wir entscheiden müssen, was jetzt dran ist,  
das Befolgen der Regel, oder die Barmherzigkeit,
können wir uns an Jesus und seiner Barmherzigkeit orientieren.
 
Martin Luther hat das auch zum Maßstab seiner Bibelauslegung gemacht.
Er hat bei allem, was sich in der Bibel findet,
gefragt, „was Christum treibet”,
hat die Texte der Bibel an der Barmherzigkeit gemessen.
Und wenn ein Text unbarmherzig ist -
wenn er zum Beispiel den Frauen das Reden in der Gemeinde,
das geistliche Amt verbietet,
oder wenn er Homosexualität verteufelt,
dann ist Christus, seine Barmherzigkeit, größer als diese Texte.
Dann dürfen und dann müssen wir, um der Barmherzigkeit willen,
uns über diese Texte hinwegsetzen und sie beiseite legen.
Nicht aus Willkür, oder weil wir uns über sie erheben,
sondern in der Nachfolge Jesu, der barmherzig war
und uns gelehrt hat, barmherzig zu sein
mit anderen --- und mit uns.
 
Amen.