Predigt am Reformationstag, 31.10.2020, über Matthäus 10,26-33:
Jesus spricht: Nichts ist verborgen, was nicht offenbar werden wird,
und nichts heimlich, was nicht bekannt werden wird.
Was ich euch im Dunkeln sage, das redet im Licht,
und was man euch ins Ohr flüstert, das verkündet auf den Dächern.
Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten können,
die Seele aber nicht.
Fürchtet vielmehr den, der Seele UND Leib vernichten kann in der Hölle.
Zahlt man nicht einen Cent für zwei Sperlinge?
Doch ohne Wissen eures Vaters fällt keiner von beiden zu Boden.
Euch aber sind sogar die Haare auf dem Kopf alle gezählt.
Habt also keine Angst. Ihr seid viel mehr wert als Sperlinge.
Jeder nun, der sich vor den Menschen zu mir bekennt,
zu dem werde auch ich mich bekennen vor meinem Vater im Himmel.
Wer mich aber vor den Menschen verleugnet,
den werde auch ich vor meinem Vater im Himmel verleugnen.
Liebe Schwestern und Brüder,
„ihr seid viel mehr wert als Sperlinge” -
soll das ein Kompliment sein?
Oder ist es eine versteckte Beleidigung,
dass wir mit Spatzen verglichen werden?
Ich finde es spannend,
wie hier Mensch und Spatz in einen Zusammenhang gebracht werden.
Dabei gibt es auf den ersten Blick keine Gemeinsamkeiten zwischen uns.
Hier der Mensch, der groß ist und Großes leistet,
dort der kleine Spatz,
der vor allem durch seine Frechheit und Dreistigkeit sprichwörtlich geworden ist.
Aber etwas kann der Spatz,
um das der Mensch ihn beneidet
und was er auch gern könnte:
Fliegen.
Nicht so hoch wie ein Adler,
nicht so schnell wie ein Falke
oder so elegant wie eine Möwe,
sondern, seiner frechen Art entsprechend,
surrend und purrend und laut zeternd.
Aber er fliegt, der Spatz,
und kommt dem Himmel näher,
als wir es können.
Weil der Mensch nicht wie ein Vogel fliegen kann,
nicht einmal wie ein Spatz,
hat er sich auf geistige Höhenflüge verlegt.
Mit unseren Gedanken, mit unserer Phantasie fliegen wir.
Ich meine damit nicht den Traum vom Fliegen.
Ich meine, dass die Gedanken,
wenn wir sie fliegen lassen,
die gewohnten Bahnen, die eingefahrenen Gleise verlassen,
sich über das Vertraute erheben
und neue Zusammenhänge, neue Wege, neue Möglichkeiten entdecken.
Das ist Reformation:
das Entdecken neuer Zusammenhänge, neuer Wege, neuer Möglichkeiten.
Martin Luthers reformatorische Entdeckung
begann mit einem kleinen Höhenflug,
bei dem er sich ein unscheinbares Detail anschaute:
Die Gerechtigkeit Gottes.
Zu Luthers Zeit verstand man darunter eine Eigenschaft Gottes,
Gott ist gerecht - und er allein.
Gottes Gerechtigkeit strahlt wie ein gleißendes Licht,
das alle Fehler, alle Irrtümer und Sünden bloßstellt.
Wie soll man vor diesem alles verzehrenden Licht der Gerechtigkeit bestehen?
Luther entdeckte, dass man Gerechtigkeit Gottes auch anders verstehen kann:
Nicht nur als Eigenschaft, sondern auch als Gabe Gottes.
Gott schenkt Gerechtigkeit. Gott macht uns gerecht.
So können wir vor ihm bestehen -
nicht, weil wir so viel Gutes getan hätten
oder so gute Menschen wären,
sondern einzig aus dem Grund,
aus dem Gott nicht einmal einen Spatzen zu Boden fallen lässt:
Weil Gott uns liebt.
Weil Gott uns liebt, sind wir ihm recht.
Seine Liebe macht uns gerecht.
Wie machte Luther diese Entdeckung?
Indem er flog:
Sich löste von den Meinungen und Lehren,
die auch er verinnerlicht hatte.
Luther schaute sozusagen von oben, aus der Vogelperspektive,
auf das, was ihn so sehr beschäftigte.
Dadurch gewann er die Freiheit,
das ihm Altvertraute neu und anders zu sehen.
Die Corona-Pandemie lastet auf uns
wie auf Luther die Vorstellung von der unbestechlichen,
unerbittlichen Gerechtigkeit Gottes.
Reformation könnte für uns heute heißen,
dass wir es Martin Luther und den Spatzen gleich tun
und zu fliegen versuchen:
Uns erheben über das Beklemmende, Beengende der Pandemie
und schauen, wo wir stehen,
welche Möglichkeiten wir haben
und was sich möglicherweise gewinnen ließe.
Ich habe z.B. für mich entdeckt,
wie ich durch Briefe Kontakt zu Menschen halten kann,
die ich nicht besuchen darf,
und wie intensiv dieser Kontakt ist -
nicht weniger, als würden wir uns leibhaft gegenüberstehen.
Andere bemerken, dass man mit dem Computer nicht nur spielen
oder im Internet surfen kann,
sondern dass er auch ein Werkzeug ist,
mit dem man Menschen treffen und Unterhaltungen führen kann.
Wieder andere finden trotz Corona-Auflagen immer neue Möglichkeiten,
mit anderen in Kontakt zu bleiben,
einem anderen mit einer kleinen Geste, einer Aufmerksamkeit
etwas Gutes zu tun und Hoffnung zu schenken.
Die Coronazeit ist eine Art Reformationszeit,
weil sich vieles ändert,
weil vieles nicht so bleiben wird, wie wir es kennen und schätzen gelernt haben,
weil wir nicht so bleiben, wie wir waren.
Das ist beängstigend und belastend.
Jede Veränderung, jede Reformation hat diese unangenehme, bedrohliche Seite.
Um auch andere Seiten sehen zu können,
muss man es machen wie die Spatzen mit ihrem frechen Geflatter:
Man muss sich die Freiheit verschaffen,
die Dinge neu und anders zu sehen.
Man muss lernen, sich über die Dinge zu erheben,
zu fliegen - wenn auch nur mit den Gedanken.
Fliegen kann gefährlich sein.
Aber wie kein Spatz zu Boden fällt,
so werden auch wir bei unseren Flugversuchen von Gott gehalten.
Wir haben äußerlich viel zu ertragen und auszuhalten.
Doch dabei wird unsere Seele von Gott getragen und gehalten.
Nichts kann uns trennen von der Liebe, die Gott zu uns hat.
In dieser Geborgenheit können wir Flugversuche wagen,
höher und höher hinaus,
den Spatzen hinterher
und dem Himmel entgegen.
Amen.