Donnerstag, 19. November 2020

Dem Licht entgegen

Predigt am Ewigkeitssonntag, 22.11.2020, über Offenbarung 21,1-7:
 
Ich sah einen neuen Himmel und eine neue Erde.  
Denn der erste Himmel und die erste Erde vergingen
und das Meer ist nicht mehr.
Und ich sah die neue heilige Stadt Jerusalem.  
Sie kam aus dem Himmel herab von Gott.  
Sie war bereit gemacht worden,  
wie eine Braut geschmückt wird für ihren Mann.
Und ich hörte eine gewaltige Stimme vom Thron her sprechen:
Da ist die Wohnung Gottes unter den Menschen.
Er wird bei ihnen wohnen,
und sie werden seine Völker sein,
und Gott selbst bei ihnen wird ihr Gott sein.
„Und er wird abwischen alle Tränen aus ihren Augen” (Jesaja 25,8),  
und der Tod wird nicht mehr sein.  
Weder Trauer, noch Geschrei, noch Schmerz wird mehr sein,  
weil das erste verging.
Und es sprach, der auf dem Thron saß:  
Sieh, ich mache alles neu.  
Und er spricht: Schreib es auf,  
denn diese Worte sind glaubwürdig und wahr.
Und er sprach zu mir: Es ist bereits geschehen.  
Ich bin das Alpha und das Omega, der Anfang und das Ende.  
Dem Durstigen werde ich geben aus der Quelle des Wassers des Lebens umsonst.
Wer alle Hindernisse überwindet, wird dies alles erben,  
und ich werde sein Gott sein  
und er wird mein Kind sein.

(Zur Übersetzung vergleiche: https://offene-bibel.de/wiki/Offenbarung_21)
 
 
Liebe Schwestern und Brüder,
 
als wir Kinder waren,
hatte jede und jeder von uns einen Ort,
vor dem er oder sie sich fürchtete.
Für die eine war es der dunkle Keller,
für den anderen der dichte Wald.
In den dunklen Ecken des Kellers vermuteten wir Ungeheuer,
unter den Schatten des Waldes wilde Tiere
oder Räuber, die uns nach dem Leben trachteten.
 
Auch der Seher Johannes kennt einen solchen Ort: Das Meer.
Wir verbinden mit dem Meer romantische Vorstellungen
von Sonnenuntergängen und dem gleichförmigen Rauschen der Wellen.
Aber wer direkt am Meer lebt oder mit ihm zu tun hat, weiß,
dass es brutal, grausam und lebensgefährlich sein kann.
Das Meer ist unheimlich. Man kann seinen Grund nicht sehen
und befürchtet, ihm könnten Ungeheuer entsteigen.
 
„Das Meer ist nicht mehr”.
Die neue Erde, die Johannes vor sich sieht,
kennt keine abgründigen Gewässer mehr.
Wir würden uns in einer solchen Welt nicht wohlfühlen.
Das Paradies, das ist für viele von uns ein Badestrand
mit Sonne, Wind und weißem Sand.
Aber was Johannes meint, ist:
Auf der neuen Erde gibt es nichts mehr,
vor dem man sich fürchten muss.
Die neue Erde hat keine Abgründe, keine dunklen Ecken mehr,
in denen Ungeheuer lauern.
 
Als Erwachsene wissen wir,
dass die Orte, die uns als Kinder gruselten, ungefährlich sind.
Und trotzdem beschleicht uns auch heute noch die Angst.
Besonders, wenn es dunkel ist, die Schatten tiefer werden
und man in der Stille plötzlich jedes Knacken,
jedes kleinste Geräusch überlaut hört und erschrickt.
 
Wir kennen sie immer noch, die Angst vor den dunklen Ecken:
Den dunklen Ecken unserer Seele,
in denen sich Ungeheuer verstecken.
Manchmal kommen sie heraus und bedrängen uns,
rauben uns nachts den Schlaf
oder nehmen uns tagsüber die Kraft und den Antrieb, etwas zu tun.
Unter den vielen Ungeheuern, die uns heimsuchen,
ist das größte wohl die Angst vor dem Tod.
Sie ergreift uns, wenn wir am wenigsten mit ihr rechnen.
Und in diesen dunklen Tagen,
in den lähmenden, deprimierenden Corona-Einschränkungen,
bei der Erinnerung an Abschiede von lieben Menschen,
begegnen wir ihr besonders häufig.
 
„Der Tod wird nicht mehr sein”,
so sieht es Johannes vor sich.
Aber wie kann uns das trösten,
wenn die Erlösung vom Tod erst ganz am Ende kommt,
nach unserem Tod?
Wenn wir durch diese größte Dunkelheit doch erst hindurch müssen?
 
„Schreib es auf, denn diese Worte sind glaubwürdig und wahr”.
Wir haben sein Wort.  
Wir haben Gottes Wort, dass es stimmt:  
So, wie es auf der neuen Erde keine Angst mehr gibt,
so wird es auch keinen Tod mehr geben.
Der Tod, das letzte, größte Hindernis, ist überwunden.
Und das nicht erst am Ende der Zeiten.
Sondern „es ist bereits geschehen”.
 
Wir haben Menschen durch den Tod verloren.
Menschen, die uns jetzt sehr fehlen,
die wir bitter vermissen -
so sehr, dass für manche das Leben nicht mehr lebenswert erscheint.
Aber man könnte auch sagen:
Sie sind uns vorausgegangen.
Sie sehen schon, was wir noch glauben müssen.
 
Auch Jesus starb am Kreuz,
und seine Jünger glaubten,
alles wäre verloren.
Aber er ist ihnen nur vorausgegangen.
Sie haben ihn wiedergesehen
und erkannt, dass der Tod überwunden, besiegt ist.
 
Jesus ist nicht da,
um uns in der selben Weise zu trösten,
wie er seine Jünger getröstet hat:
indem er mit ihnen zusammen aß;
indem er ihnen das Brot brach, wie er es viele Male getan hatte;
indem er sich berühren ließ.
Aber wir haben sein Wort.
Wir haben sein Wort, dass er lebt.
Und dieses Wort kommt vom Ende her auf uns zu.
 
Es ist das Wort, durch das am Anfang die Welt geschaffen wurde.
Dieses Wort wird uns am Ende bei unserem Namen rufen.
Es ruft uns ins Leben, in ein neues Leben.
Dieses Wort haben wir jetzt schon.
Wir können es uns sagen lassen.
Dann ist es wie ein Licht,
das die Dunkelheit vertreibt
und damit die Ungeheuer,
die sich in den Ecken unserer Seele eingenistet haben.
 
Das Licht dieses Wortes besiegt die Angst.
Es gibt uns Hoffnung und Zuversicht,
dass keine Dunkelheit unendlich ist
und dass es keine Ungeheuer mehr geben wird,
keine Angst und auch keinen Tod.
Mit diesem Licht können wir der Dunkelheit
um uns und in uns die Stirn bieten.
Diesem Licht gehen wir entgegen.
Wir müssen nicht mehr lange warten:
Schon am nächsten Sonntag strahlt die erste Kerze auf.
Amen.