Am Beginn eines neuen Jahres blickt man voraus - hoffnungsvoll, erwartungsvoll, oder eher skeptisch und pessimistisch. Die Jahreslosung aber blickt zurück: „wie auch euer Vater barmherzig ist”. Gottes Barmherzigkeit erkennt man nur im Rückblick. Man erkennt sie rückblickend daran, dass man Vergebung erfahren hat - indem andere mir vergaben; indem eine Last von mir genommen wurde, die mir auf dem Gewissen, auf der Seele lag; indem ich mir selbst etwas vergeben konnte. Gottes Barmherzigkeit erkennt man im Rückblick auch daran, dass man Dankbarkeit empfindet. Dankbarkeit, die von der kleinen Freude über einen Sonnenstrahl, ein Lächeln oder eine freundliche Geste bis hin zur Dankbarkeit für eine Genesung reicht, für die Rettung in letzter Minute oder ein unverhofftes Glück.
An Gottes Mitleid und Vergebung und an den kleinen und großen Geschenken, die wir erhalten - an dem Geschenk, das unser Leben selbst ist - zeigt sich Gottes Barmherzigkeit. Zeigt sich, wie gut Gott es mit uns meint, wie sehr Gott uns liebt.
Daran kann man sich erinnern, wenn man das Gefühl hat, vom Pech verfolgt zu sein. Wenn man unter den Einschränkungen und der Isolation durch die Corona-Maßnahmen leidet. Doch gerade dann fällt es besonders schwer, sich an Gottes Barmherzigkeit zu erinnern. Denn wenn man Schweres erlebt und erleiden muss, scheint Gott sehr fern zu sein, scheint Gott mich vergessen zu haben.
Darum fordert die erste Hälfte der Jahreslosung dazu auf, selbst barmherzig zu sein. Nicht mit dem moralischen Druck, sich für ein Geschenk dankbar zu zeigen, so wie man die Kinder lehrt: „Sag danke!”, wenn sie etwas geschenkt bekommen. Wofür sollte man auch danken, wenn einen das Gefühl beschleicht, das Leben habe einem wieder einmal Zitronen gegeben?
Nein, die Aufforderung, barmherzig zu sein - anderen eine kleine oder große Freude zu machen, wenn sie es nicht erwarten, oder ihnen zu vergeben, dass sie so sind, wie sie sind - diese Aufforderung dient dazu, _uns_ zu helfen, wenn wir vom Leben enttäuscht sind. Es lenkt uns ab von Groll und Selbstmitleid, wenn wir uns anderen hilfreich zuwenden. Ihre Freude und Dankbarkeit für unsere Zuwendung macht uns selbst wieder fröhlich, macht Mut und gibt Hoffnung.
Seid barmherzig! Am Beginn eines neuen Jahres, das noch viele Einschränkungen und Schwierigkeiten für uns parat hält, werden wir aufgefordert, uns davon ablenken zu lassen. Von den eigenen Sorgen und Problemen weg hinzusehen auf andere Menschen, und uns ihnen freundlich, hilfreich, vergebend zuzuwenden. Wenn wir das versuchen, werden wir das Glück erleben, das ihre Freude, ihre Dankbarkeit bei uns bewirken. Und vielleicht erleben wir sogar, dass ein*e andere*r für uns dasselbe tut: Uns mit Barmherzigkeit überrascht.