Predigt am Karfreitag, 2. April 2021, Jesaja 52,13-53,12
„Wir sahen ihn, aber da war keine Gestalt, die uns gefallen hätte.” (Jesaja 53,2)
An der Wand neben meinem Schreibtisch hängt ein Kruzifix. Ich habe es von meinem Gemeindepastor geerbt. Es stammt aus Afrika, ist aus Ebenholz geschnitzt, und am Kreuz hängt - - - ein Afrikaner. Aber Jesus war doch kein Afrikaner! Nein, er war aber auch kein hellhäutiger Europäer, wie er auf unseren Kruzifixen und den Öldrucken der Jahrhundertwende erscheint. Jesus war wahrscheinlich, nein, er war sicher nicht so, wie wir ihn uns vorstellen. Und es ist noch die Frage, ob wir Jesus gemocht hätten, wenn wir ihm zu Lebzeiten begegnet wären. Ob er uns gefallen, vor allem: ob uns gefallen hätte, was er uns gesagt hätte.
Denn am Karfreitag geht es nicht um Jesus, so unübersehbar das Kreuz, so nahe uns sein Leiden und Sterben gerade heute sind. Am Karfreitag geht es um uns. Und zwar nicht um unsere Betroffenheit von diesem so überaus schmerzvollen und grausamen Sterben, nicht um unser Mitgefühl und Mit-Leiden mit Jesus. Was uns am Karfreitag betrifft und was uns betroffen machen sollte, ist, warum Jesus am Kreuz stirbt: Unseretwegen.
Jesus stirbt am Kreuz, um alles auf sich zu nehmen, was uns von Gott trennt. Er stirbt um unserer Schuld willen. Er stirbt unseren Tod, sofern der Tod eine Strafe ist. Jesus stirbt, damit wir das Leben haben. So, wie sich zu allen Zeiten jemand opferte, um einen anderen aus Lebensgefahr zu retten. Theodor Fontane hat einem solchen Menschen mit dem Gedicht „John Maynard” ein Denkmal gesetzt.
Auch das Kreuz ist ein Denkmal, das uns stets daran erinnert, dass Jesus sich für uns geopfert hat. Es fordert uns auf: Denk mal nach, bevor du handelst! Zwar hat uns Jesus durch sein Opfer einen Neuanfang geschenkt, den wir nicht nur einmal, sondern jederzeit wagen können. Wir dürfen Fehler machen, und trotzdem wird uns vergeben. Wir dürfen sogar den selben Fehler wiederholen, sogar siebzig mal sieben mal, trotzdem vergibt uns Gott. Aber dieses Opfer, das uns den Neuanfang schenkt, hat seinen Preis. Den Preis, dass Jesus sich in unser Leben einmischt. Weil er sich für uns opferte, will er auch wissen, wofür. Ihm gegenüber müssen wir unsere Fehler eingestehen, ihm müssen wir uns stellen. So wird sein Kreuz zu einem Denkmal, das uns immer wieder zum Nachdenken bringt über das, was wir taten. Das ist nicht angenehm. Wer will schon sein Handeln rechtfertigen müssen? Wenn es schon eine Frage ist, ob Jesus uns gefallen hätte, wenn wir ihm begegnet wären: das gefällt uns sicher nicht, dass wir ihm über unser Leben Rede und Antwort stehen müssen!
Aber auch da kennen wir Jesus wahrscheinlich, nein, ganz sicher schlecht. Jesus ist kein gestrenger Richter, der mit kritischem Blick jede unserer Handlungen beurteilt und missbilligt, wenn wir uns auch nur den kleinsten Fehler erlauben. Jesus hat ein so großes und weites Herz, dass nichts, was wir tun könnten, uns von seiner Liebe und Zuneigung trennen kann. Das ist schier unglaublich und nahezu unvollstellbar. Denn wir wissen, wie leicht man andere kränken und verletzen kann – wir wissen, wie leicht wir zu kränken und zu verletzen sind. Und wie unglaublich schwer es uns fällt, eine solche Kränkung oder Verletzung zu verzeihen. Es ist kaum zu glauben, dass es bei Gott anders sein sollte. Es ist kaum zu glauben, dass Jesus derart großherzig sein sollte, über unsere Fehler und Unzulänglichkeiten hinweg auf uns zu sehen und uns zu vergeben, was wir uns oft selbst nicht vergeben können. Wenn es uns aber gelingt, das Unglaubliche zu glauben, verwandelt sich das Kreuz von einem Denkmal unserer Schuld zu einem Spiegel. Einem Spiegel, in dem wir uns als Gottes geliebte Kinder erblicken können. Darum hängt an meinem Kruzifix aus Afrika ein Afrikaner, darum stellen die Kruzifixe in unseren Kirchen Europäer dar: Damit wir uns in ihnen spiegeln und erkennen, dass wir Gottes über alles geliebte Kinder sind. Wir – und alle Menschen.