Samstag, 8. Mai 2021

Dreimal Daniel 9,18

Predigt für den Sonntag Rogate, 9.5.2021, über Daniel 9,18:

Wir liegen vor dir mit unserem Gebet
und vertrauen nicht auf unsere Gerechtigkeit,
sondern auf deine große Barmherzigkeit.


A

Manche tun es selten oder nie, manche dreimal täglich.
Manche gehen dafür in ihr Schlafzimmer, manche tun es öffentlich, mitten auf der Straße.
Manche tun es leise, und manche laut.
Manche kennen verschiedene Arten, es zu tun, manche fragen sich immer noch, wie es geht,
das Beten.

Beten ist in mehrfacher Hinsicht eine schwierige Angelegenheit.
Es ist ein persönliches Gespräch mit Gott, dabei schüttet man zuweilen sein Herz aus.
Über etwas so Intimes spricht man nicht mit anderen.
Wie ich bete und was ich bete, wissen nur Gott und ich.

Schwierig ist es mit dem Beten auch, weil man nicht so genau weiß, wie’s geht.
Natürlich kann man in der Kirche die Pastorin und die Gemeinde beten sehen.
Aber die lesen das Gebet vor, oder wissen ganz genau, was sie sagen wollen.
Wenn man Gott allein gegenübersteht, fehlen einem oft die Worte.

Und dann ist da schließlich die Frage,
was man beten soll, und was man beten darf.
Und ob das Beten überhaupt etwas bewirkt.
Denn so viel ist sicher:
Was man im Gebet erbittet, geht nicht automatisch in Erfüllung – im Gegenteil.
Es ist eher so, dass man sich fragt, ob Gott überhaupt mit sich reden lässt.
Und wenn ja, worauf kommt es dann an, wenn man Gehör finden will?
Ist es eine Frage des Glaubens, der Frömmigkeit?
Erhört Gott nur die, die regelmäßig zur Kirche gehen?

Manchmal ist Gott der einzige, der noch helfen kann.
Dann greift man zum Gebet wie zu einem Rettungsring.
Und gerade, wenn man sich so verzweifelt ans Gebet klammert,
wird die Bitte nicht erfüllt. Ein Dilemma.

Es gibt verschiedene Versuche, dieses Dilemma zu lösen.
Die einen sagen, das Beten sei nicht dazu da, dass Gott unsere Wünsche erfüllt,
sondern damit wir uns über unsere Wünsche und Ziele - und über unsere Grenzen Klarheit gewinnen.

Andere verweisen auf das Vaterunser, in dem es heißt:
„Dein Wille geschehe”, und sagen,
beten könne nur heißen, nach Gottes Willen zu fragen
und sich seinem Willen zu unterwerfen.

Vielleicht gibt es aber keine Lösung für dieses Dilemma des Betens.
Vielleicht muss man irgendwie mit der Tatsache zurechtkommen,
dass man Gott nicht zum Eingreifen bewegen kann, auch nicht im Gebet.

Aber vielleicht kommen wir doch aus dem Dilemma heraus -
oder zumindest besser damit zurecht -,
wenn wir uns vorstellen, wie wir mit einer oder einem reden,
den wir mögen und dem wir wirklich zuhören möchten.

Wir werden dann nicht nur selber reden,
und wir werden uns gut überlegen, was wir dem anderen, der anderen sagen.

Gott ist wie ein solcher Mensch, mit dem wir uns gern unterhalten.
Wie unser Verhältnis zu Gott auch gerade sein mag -
ob wir uns Gott nahe und eng verbunden fühlen, oder eher fern,
ob wir Dankbarkeit empfinden, oder Enttäuschung oder gar Wut über unser Schicksal -
Gott jedenfalls liegt viel, liegt alles an uns.
Gott mag uns nicht nur, Gott liebt uns.
Und Gott hört uns zu, sogar dann, wenn wir nur meckern oder jammern können,
wenn wir uns wiederholen oder nicht wissen, was wir sagen sollen.


B

Ein Gebet kann vieles sein:
Man kann darin sein Herz ausschütten, eine Last von der Seele oder vom Gewissen ablegen.
Man kann darin auf Gott hören, eine besondere Beziehung und Nähe zu Gott erfahren.
Aber am häufigsten wird wohl gebetet,
um ein Anliegen, eine Bitte an Gott zu äußern.

Aber wozu tut man das?
Wir wissen doch, dass Gott sich nicht überreden lässt.
Wir machen die Erfahrung, dass unsere Bitten in aller Regel nicht erfüllt werden.
Jedenfalls nicht so, wie es im Evangelium beschrieben wird,
dass die Bitte um Brot umgehend mit der Gabe des Brotes beantwortet wird.

Wenn wir trotzdem im Gebet um etwas bitten, was wollen wir damit erreichen?
Warten wir auf ein Wunder?
Oder ist es eher ein prophylaktisches Bitten,
wie man etwa homöopathische Kügelchen einnimmt,
nach dem Motto: Kann nicht schaden, hilft aber vielleicht?

Jedenfalls kann man beobachten, dass unsere Bitten im Gottesdienst sehr allgemeinen bleiben:
„Wir bitten um Frieden.”
„Wir bitten um ein Ende von Hass und Gewalt.”
„Wir bitten für die Einheit der Kirche.”
Ist das ein Zeichen von Realismus, dass wir von Gott kein Eingreifen, kein Wunder erwarten?
Oder spricht daraus die Erkenntnis, dass man nicht mehr von uns erwarten kann?
Denn wir sind es doch, die den Frieden, das Ende von Hass und Gewalt
oder die Einheit der Kirche herstellen oder wenigstens etwas dafür tun müssten.

Wenn wir überlegen, was wir bitten, wenn es uns sehr ernst damit ist,
fallen uns leidvolle, verzweifelte Situationen ein,
die wir selbst erlitten haben, oder die wir miterleben mussten.
In solchen Situationen bitten wir Gott um sein Mitleid, sein Erbarmen.
Wir bitten darum, dass er uns oder den Menschen, der leidet,
von diesem Leid befreit und erlöst -
obwohl wir wissen, dass Rettung, dass Heilung so nicht funktioniert.
Wir hoffen auf ein Wunder, wenn es sonst keine Hoffnung mehr gibt.
Aber wir wissen auch, dass wir vergebens hoffen.
Dennoch bitten wir Gott um seinen Beistand:
Wir wollen, dass Gott bei uns ist.
Wir wollen das nicht allein ertragen müssen.

In diesem Moment sind wir sicher, dass Gott versteht, wie es uns geht.
Dass wir ihm nichts erklären müssen,
und dass wir auch nichts sagen müssen, wenn uns die Worte fehlen.

Wenn wir beten, bitten wir also in Wirklichkeit Gott um seine Barmherzigkeit, sein Mitgefühl.
Und genau das bewirkt das Gebet:
Es lässt uns spüren, dass Gott mit uns leidet, mit uns fühlt.
Dazu ist kein inniges Gefühl nötig, kein brennender Glauben,
sondern dass man sich an das Gebet klammert wie an einen Rettungsring
und darauf vertraut, dass Gott da ist.

Und Gott ist da.

Wenn wir beten, bitten wir im Grunde um Barmherzigkeit.
Im Gebet finden wir Verständnis, finden wir Mitgefühl.
Im Gebet finden wir uns angenommen so, wie wir sind,
finden uns angenommen, obwohl wir so sind, wie wir sind.

Dabei bleibt das Gebet aber nicht stehen,
obwohl wir gern stehen bleiben würden,
wenn wir Trost oder Vergebung erfahren haben.

„Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist” (Lukas 6,36), lautet die Jahreslosung.
Wenn wir zu Gott beten, erfahren wir nicht nur den Zuspruch,
sondern auch den Anspruch Gottes.
Den Anspruch, die Barmherzigkeit, die er uns schenkt, auch anderen zu erweisen.
Nicht, weil wir ihm das schuldig wären.
Gott schenkt uns seine Barmherzigkeit gratis, sola gratia,
ohne dafür eine Gegenleistung zu verlangen.
Der Anspruch, dass auch wir barmherzig sein sollen, besteht vielmehr,
weil Zuspruch und Anspruch der Barmherzigkeit zwei Seiten einer Medaille sind.

Denn wie soll man Barmherzigkeit erfahren können, ja, überhaupt erfahren wollen,
wenn man unbarmherzig ist?
Wie soll man da Zuspruch brauchen, suchen und annehmen können?

Wer um Vergebung bitten kann, kann auch vergeben.
Wer Liebe empfinden kann, kann auch lieben.
Wer Barmherzigkeit sucht, wird auch barmherzig sein.


C

Womit habe ich das verdient? Diese Frage ist niemandem fremd.
Man stellt sie, wenn einem das Leben mal wieder Zitronen gegeben hat.
Denkt man über diese Frage genauer nach,
stellt man fest, dass sie von sehr speziellen Voraussetzungen ausgeht, nämlich vom Verdienst.
Der Verdienst ist der Lohn, der uns für eine Leistung zusteht.
Dahinter steht der - uns selbstverständliche - Gedanke,
dass jede Leistung einen Wert hat oder haben sollte. Nicht nur bei bezahlter Arbeit.
Wer z.B. jemandem hilft, erwartet eine Gegenleistung.
Nicht unbedingt sofort, aber irgendwann sollte der andere sich revanchieren.
Und wer ein guter Mensch ist, wer sich ordentlich und anständig verhält,
dem sollte es auch gut gehen, findet man.

Wer also fragt: Womit habe ich das verdient?, fragt sich damit: Was habe ich falsch gemacht?
Und gleichzeitig ist diese Frage ein Ausruf: Ich habe doch nichts falsch gemacht!
Warum werde ich dann krank, warum habe ich Pech,
wo ich mich doch immer so bemüht habe, ein guter Mensch zu sein?

Die Antwort auf diese Frage lautet: Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun.
Gerechtigkeit ist keine Währung, die man ansparen könnte,
um sich davon im Notfall von Krankheit oder Leid freizukaufen.
Wenn das so wäre, könnten wir uns vor lauter Gutmenschen nicht mehr retten.
Jeder gebrechliche ältere Herr wäre schon vor dem Frühstück
dreimal über die Straße und zurück geführt worden,
und alle Pfadfinder wären mit einem Schlag arbeitslos.

Man kann sich Glück oder Gesundheit weder erarbeiten noch verdienen.
Eine Binsenweisheit – wir versuchen es trotzdem.
Und glauben auch, dass jemand Leid oder Krankheit – nein, nicht unbedingt verdient hat,
aber doch mit Schuld daran ist.
Aber auch das ist falsch, und eigentlich wissen wir das auch.
Zwar kann man so leben, dass die Wahrscheinlichkeit steigt, zu erkranken -
wenn man zum Beispiel ein starker Raucher ist.
Aber eine Garantie, krank zu werden, ist es nicht.
Selbst ein Mensch, der so böse ist, dass ihm jeder nur das Schlimmste wünscht,
wird trotzdem nicht eher oder häufiger krank als ein guter.
Die Psalmen vertreten sogar die Auffassung, dass es den Gottlosen generell gut geht,
während die, die sich um Gerechtigkeit bemühen, leiden müssen.

Meine Gerechtigkeit hilft mir nicht zu einem guten Leben
oder dazu, dass Gott mich besser behandelt als andere.
Und zugleich habe ich natürlich nicht „verdient”, dass es mir schlecht geht.
Niemand hat das „verdient”.
Wenn man überhaupt sagen will, dass jemand etwas „verdient”,
dann muss man sagen, dass alle Menschen Glück, Gesundheit, ein gutes Leben und Liebe verdienen.
Aber nicht alle Menschen erleben, was doch alle verdienen.
Weil Wohlstand, Bildung und Ressourcen ungleich verteilt sind -
und damit die Bedingungen für Gesundheit und ein gutes Leben.

So warten die Menschen im ärmeren Süden der Welt dringend
nicht nur auf Impfstoff gegen das Corona-Virus,
sondern auch auf Sauerstoff für ihre schwer Erkrankten -
während wir uns darüber ärgern,
wie lange wir auf einen Impftermin warten müssen.

Darum ist Gott parteiisch und stellt sich an die Seite der Flüchtlinge,
an die Seite der Armen, der Witwen und Waisen.
Denn diese Menschen machen gerade Schweres durch;
das Glück liegt für sie in weiter Ferne.
Deshalb ist Gott an ihrer Seite – wie er an unserer Seite ist,
wenn uns das Leben mal wieder Zitronen gegeben hat.

Niemand hat Unglück verdient,
wie sich niemand sein Glück verdienen kann.
Was wir aber tun können, ist, die Voraussetzung dafür zu schaffen, dass alle Glück erleben können,
indem wir abgeben und verzichten, um Wohlstand und Ressourcen gerecht zu verteilen.
Ob das Glück dann tatsächlich zu diesen Menschen kommt, haben wir nicht in der Hand.
Aber wenigstens sind wir ihm nicht im Weg gestanden.