Predigt für den Sonntag Exaudi, 16. Mai 2021, über Johannes 7,37
„Wer dürstet, der komme zu mir und trinke!”
Durst – eins der unangenehmen Gefühle, das jeder Mensch kennt. Zugleich gibt es kaum etwas schöneres als den ersten Schluck, mit dem man seinen Durst löscht. Das tut so gut, das erfrischt und belebt!
Wenn man längere Zeit etwas entbehren muss, spricht man von einer „Durststrecke”. Auf einer Durststrecke befinden wir uns seit gut einem Jahr. Uns allen fehlen die ungezwungenen Begegnungen, die Feiern im Familien- und Freundeskreis, das Reisen. Manche vermissen auch die Tuchfühlung zum Mitmenschen, den Händedruck oder die Umarmung zur Begrüßung und zum Abschied. Auch das ist ein Durst, der uns fast ebenso quält wie der Durst nach Wasser. Und wenn er endlich gestillt wird, ist das genauso schön wie der erste Schluck für die trockene Kehle.
Wir kennen den körperlichen Durst nach Wasser.
Wir kennen den Durst nach Nähe, nach Begegnungen, die auch körperlich spürbar sind.
Und wir kennen den Durst, der eher geistiger Art ist, aber nur körperlich gestillt werden kann: Das Gesehenwerden.
Das erste, was ein Neugeborenes sucht, wenn es Wärme, Nahrung und Geborgenheit gefunden hat, ist der Blick der Mutter. Das Leuchten ihrer Augen macht das Kind glücklich. Und Mütter, Väter – alle, die ein kleines Baby ansehen, können nicht anders, als es liebevoll anzustrahlen; sie erhalten ein Lächeln als Belohnung zurück. Von unseren ersten Anfängen an suchen wir das Leuchten in den Augen anderer – zuerst unserer Eltern. Später unserer Erzieherinnen und Lehrerinnen, unserer Freunde und Freundinnen, unserer Liebsten. Wir möchten gesehen werden, in einem umfassenden Sinn: Wir suchen Anerkennung, Respekt, Wohlwollen, Liebe. Deshalb wünscht man sich z.B. die Tageszeit, um einer anderen, einem anderen zu zeigen: Ich habe dich gesehen. Wenn Sie sich selbst einmal beobachten, werden Sie feststellen, dass Sie sich ein wenig beschenkt fühlen, wenn Ihnen jemand einen „guten Tag” gewünscht und Sie dabei freundlich angesehen hat.
Diesen Durst nach dem Gesehenwerden meint Jesus, wenn er sagt: „Wer dürstet, der komme zu mir und trinke!” Auf den Durststrecken unseres Lebens ist Jesus der Brunnen, bei dem wir unseren Durst nach Gesehenwerden stillen können. Darum haben wir am Donnerstag das Fest der Himmelfahrt gefeiert. Jesus könnte nicht für uns alle da sein, er könnte uns nicht alle sehen, wenn er leibhaftig vor uns stünde. Dann hätten nur Wenige etwas von seiner Gegenwart. „Im Himmel” ist Jesus für uns alle gegenwärtig, da sieht er uns alle, sieht jede und jeden von uns mit leuchtenden Augen an.
Aber wie soll man wissen, dass Jesus uns ansieht? Wir können sein Gesicht nicht sehen. Wir bemerken es nicht, dass wir von ihm gesehen werden, wie man manchmal den Blick eines anderen Menschen auf sich spürt.
Darum gibt uns Jesus seinen Geist, den Tröster. Sein Geist überzeugt uns davon, dass wir von Gott gesehen werden. Beharrlich drängt er uns dazu, zu glauben, was wir nicht sehen können: das leuchtende Angesicht Gottes. Drängt uns, bis unsere Augen zu leuchten beginnen und auch unser Angesicht strahlt für die Menschen, die uns begegnen, und für die Menschen, die wir lieben.