Samstag, 3. Juli 2021

sich retten lassen

Predigt am 5. Sonntag nach Trinitatis, 4. Juli 2021, über 1.Korinther 1,18-25

Liebe Schwestern und Brüder,

die Briefe des Paulus stehen in dem Ruf, schwierig und schwer verständlich zu sein. Paulus war der erste Theologe der noch jungen Christenheit, und er versucht, einen ersten Grund des neuen Glaubens zu legen. Da muss er sich wahrscheinlich ein wenig kompliziert ausdrücken. Dass wir ihn so schwer verstehen, liegt auch daran, dass uns fast 2.000 Jahre von seiner Zeit trennen. Die Art und Weise zu denken und die ganze Gedankenwelt war damals eine andere als unsere heute. Darum kostet es schon ein wenig Mühe, Paulus verstehen zu wollen. Aber es lohnt sich. Ich möchte es heute mit Ihnen an einem Satz aus dem heutigen Predigttext versuchen. Er lautet:

„Weil denn die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, obwohl sie doch von Gottes Weisheit umgeben ist, gefiel es Gott, die Gläubigen durch die Dummheit der Predigt zu retten.”

Dass dieser Abschnitt Predigttext für den heutigen Sonntag wurde, liegt am Stichwort „Rettung”. Das Thema des Sonntages, das der Wochenspruch auf den Punkt bringt, ist die Rettung allein aus Gnade. Bei Luther und auf Latein heißt das: „sola gratia”.
Allein aus Gnade. Sola gratia. Darin steckt das Wort „gratis”, geschenkt. Gott schenkt uns die Rettung, weil er Mitleid mit uns hat. Wir müssen nichts dafür tun. Wir können nichts dafür tun. Ohne Werke, ohne unser Zutun werden wir gerettet. Das macht misstrauisch: Wo ist da der Haken? Es gibt niemals etwas einfach umsonst; immer will man dafür etwas von uns.
Es gibt aber wirklich keinen Haken. Gott bietet allen Menschen die Rettung an. Allerdings muss der Mensch doch etwas tun: Er muss daran glauben. Dieses Glauben ist nicht einfach ein Akzeptieren, dass es so ist, wie man eine Geschichte glaubt oder eben nicht. Es ist eher den ersten Schwimmversuchen vergleichbar, wo man noch nicht weiß, dass das Wasser eine* trägt. Der Glaube, der nötig ist, um gerettet zu werden, ist ein Wagnis, weil man sich auf etwas verlässt, das man nicht beweisen oder überprüfen kann.

Von diesem Wagnis oder dieser Zumutung des Glaubens handelt der Vers aus dem Predigttext. Auch er spricht, wie wir schon gesehen haben, von Rettung, und er verknüpft sie mit etwas Überraschendem: Mit der Dummheit:

„Weil denn die Welt durch ihre Weisheit Gott nicht erkannte, obwohl sie doch von Gottes Weisheit umgeben ist, gefiel es Gott, die Gläubigen durch die Dummheit der Predigt zu retten.”

Das könnte man als Spitze gegen die Prediger und ihre Predigten hören, und in gewisser Weise ist es das auch. Überspitzt könnte man sagen: Wenn ich Ihnen mit meiner Predigt nicht wenigstens etwas Neues sage, wenn ich Sie nicht wenigstens ein bisschen zum Nachdenken, zum Kopfschütteln oder zum Staunen bringe, und wenn ein Außenstehender nicht dazu sagt: Was redet der denn für dummes Zeug? - dann habe ich nicht richtig gepredigt. „Dummheit” bedeutet nämlich nicht, dass man Blödsinn erzählt, sondern dass man provoziert, bisher un-erhörtes sagt. Wenn ich Ihnen nur sagen würde, was Sie längst wissen; wenn ich Sie nur in Ihrer Meinung bestätigen, Ihnen nach dem Mund reden würde, was hätten Sie dann von der Predigt? Die „Dummheit” der Predigt ist der Schlüssel zu einer anderen Wirklichkeit: Gottes Wirklichkeit. Paulus nennt sie „Gottes Weisheit”, und sie steht im Widerspruch zur „Weisheit der Welt”. Von dieser zu jener gibt es keine logische Verbindung, oder, wie Paulus es sagt: Mit der Weisheit der Welt kann man Gottes Weisheit nicht begreifen. Wir sind von Gottes Weisheit umgeben, trotzdem erkennen wir sie nicht. Dabei stoßen wir im Leben immer wieder an Grenzen - seien es die unserer Möglichkeiten, seien es die unseres Verstehens. Doch die Weisheit der Welt will diese Grenzen nicht akzeptieren, sie will sie überwinden. Tatsächlich ist erstaunlich, was menschliche Weisheit erreicht hat. Wir sind auf dem Mond gelandet und werden bald auf dem Mars landen. In kürzester Zeit wurde ein Impfstoff gegen das Corona-Virus entwickelt und hergestellt. Und vielleicht ist sogar das Virus selbst aus einem Labor entwischt, an dem mit Erbgut experimentiert wird.
Die göttliche Weisheit dagegen sieht die Grenzen als Anstoß, über uns und unser Leben nachzudenken. Wer an Grenzen stößt, erkennt, dass wir nicht Herren über unser Leben sind, sondern angewiesen auf unsere Umwelt, unsere Mitmenschen, auf Gott. Wie das Kind seine Eltern, so brauchen wir als Erwachsene die Unterstützung durch andere, und wir brauchen Gott. Wir können dieses Leben nicht allein bewältigen.

Dieser Gedanke der Abhängigkeit ist für die Weisheit der Welt ein anstößiger Gedanke. Ihr höchstes Gut ist die Freiheit - das zeigen auch die Proteste gegen die einschränkenden Maßnahmen zur Bekämpfung der Corona-Pandemie. Freiheit, tun und lassen zu können, was man will, ohne andere fragen oder auf sie Rücksicht nehmen zu müssen.
Die Generation unserer Eltern und viele von uns sind noch mit dem Spruch aufgewachsen: „Lehrjahre sind keine Herrenjahre”. Als Lehrlinge oder Auszubildende haben wir uns manches gefallen lassen müssen und dabei manchmal mit den Zähnen geknirscht. Heute würde ein Lehrling einfach hinschmeißen, wenn ihre* Ausbilder*in sie* Bier holen oder den Hof fegen ließe. Heute ist es kaum noch zu vermitteln und schwer erträglich, sich von jemand anderem etwas sagen lassen zu sollen, gar von jemandem abhängig, auf jemanden angewiesen zu sein.
Aber Abhängigkeit bedeutet nicht Unfreiheit. Sie bedeutet, dass man anerkennt: kein Mensch existiert nur für sich, aus eigenem Willen und eigener Kraft. Jede* von uns hatte oder hat eine Mutter, die sie* geboren und großgezogen hat. Wir brauchen einander in jeder Hinsicht, und wir brauchen Gott. Wer das nicht anerkennen kann, die* kann Gott nicht erkennen. Denn Gott ist keine unverbindliche „Idee”, kein Erziehungsinstrument, keine moralische Instanz, die uns „Anstand“ und „Ordnung” lehrt. Gott ist unser lebendiges Gegenüber. Gott möchte eine Beziehung mit uns eingehen. Zu einer Beziehung gehört, dass man sich in gewisser Weise von einem anderen abhängig macht, dass man manche Freiheiten zugunsten der gemeinsamen Beziehung aufgibt. Zu unserer Beziehung zu Gott gehört, dass wir anerkennen, dass wir von Gott abhängig sind. Und dass wir uns von ihm retten lassen.

„Rettung” ist ein starkes Wort. Gerettet wird man aus Not, aus Lebensgefahr. Gerade dann aber machen Menschen die Erfahrung, dass Gott nicht rettend eingreift. Kein Wunder geschieht, das sie oder ihre Liebsten in letzter Minute rettet. Wenn Gott uns aus solcher Not nicht retten kann, wozu sollte dann seine Rettung gut sein?
In einer Welt, in der alles machbar erscheint und irgendwie auch machbar ist, in der Menschen keine Grenzen mehr kennen und akzeptieren, kann man trotzdem verloren gehen. Weil man vom rasenden Zug des Fortschritts herunterfällt. Weil man sich die Freiheit, die manche über alles schätzen, nicht leisten kann. Weil man in der Vielfalt der Möglichkeiten, im Zwang, seines Glückes Schmied zu sein, die Orientierung und den Mut verliert.
Auch die Welt kann verloren gehen. Eine Welt, in der Menschen alle Einflussnahme auf und Ausbeutung von Umwelt und Natur für machbar halten und keine Grenzen ihrer Manipulationen an Pflanzen, Tieren und Menschen akzeptieren wollen, kann kaputt gehen. Wir sehen am Klimawandel, dass es möglicherweise schon längst zu spät ist, unsere Welt noch zu retten; dass wir dabei sind, die Lebensgrundlage vieler Pflanzen und Tiere und auch von uns selbst unwiederbringlich zu zerstören.

In dieser Situation muss der Mensch vor sich selbst gerettet werden. Vor seinem Übermut und Größenwahn, vor seinem Egoismus und seiner Weigerung, seine Abhängigkeit anzuerkennen und die Folgen seines Handelns zu bedenken. Der Mensch muss gerettet werden vor den unmenschlichen Maßstäben, die er an sich und andere anlegt. Maßstäbe, die von jeder* eine Model-Figur verlangen, Höchstleistungen in der Schule, im Beruf erwarten und zur Selbstoptimierung verpflichten. Die Menschen dazu verdammen, etwas aus sich und ihrem Leben zu „machen”, statt einfach Mensch zu sein.

Davor retten können wir uns nicht selbst. Retten kann uns nur, dass wir die Grenzen sehen und anerkennen, die uns gesetzt sind, und dass wir uns unsere Abhängigkeit eingestehen - von der Natur und unseren Mitmenschen, und von Gott.
Gott will das Leben erhalten. Gott will Gutes für unser Leben. Wir würden es erleben, wenn wir Gott vertrauen und uns von ihm retten lassen könnten. Das ist die Zumutung des Glaubens: Auf das Machen zu verzichten und Gott machen zu lassen. Ob wir wohl einmal so dumm sein werden, das zu versuchen?