Samstag, 28. August 2021

Sympathie und Liebe

Predigt am 13. Sonntag nach Trinitatis, 29. August 2021, über 1.Mose 4,1-16a


Liebe Schwestern und Brüder,

Kain und Abel - die Geschichte zweier Brüder, die mit Gewalt endet, mit einem Mord. Die Geschichte zweier Brüder, die unterschiedlicher nicht sein könnten. Kain, dessen Name „Gewinn” bedeutet, ist der Lieblingssohn. Er ergreift einen ordentlichen Beruf, wird ein tüchtiger Landwirt. Auch sonst scheint er ein Mann gewesen zu sein, der sich durchsetzen konnte und den man respektierte.
„Abel” dagegen bedeutet „Hauch”. Was denken sich Eltern dabei, wenn sie ihrem Kind einen solchen Namen geben? War Abel kränklich, schwächlich, ein Sorgenkind? Jedenfalls war er kein Sohn, der seine Eltern mit Stolz erfüllte. Der Beruf des Hirten, den Abel ergreift, hatte kein hohes Ansehen.

Kain, der Gewinner, hat alles: den Stolz der Eltern, Ansehen und Erfolg. Abel hat das alles nicht, und doch hat er Kain etwas voraus. Er hat Gottes Sympathie: „Gott sah gnädig an Abel und sein Opfer; aber Kain und sein Opfer sah er nicht gnädig an.” Kain, der alles hat, nur nicht Gottes  Sympathie, kann es nicht ertragen, dass Abel ihm das voraus hat. Er räumt die Konkurrenz aus dem Weg, indem er seinen Bruder tötet.

Konkurrenz zwischen Geschwistern ist nichts Ungewöhnliches, sondern eher die Regel. Jeder, der Geschwister hat, kennt sie. Mal dreht sie sich darum, wer als erste den Nachtisch nehmen oder ins Auto einsteigen darf, mal darum, wer was bekommt oder wer wie lange aufbleiben darf. Manchmal werden solche Streitereien mit Gewalt gelöst - nicht gleich mit Mord und Totschlag wie bei Kain und Abel, aber wenn die Eltern nicht hinsehen, setzt sich meist die Stärkere durch.
Es gibt noch eine zweite Konkurrenz, schwerwiegender und tiefergehender als diese. Es ist die Frage, wen die Eltern am liebsten haben.

Sympathie und Antipathie, Zuneigung und Abneigung spielen eine wichtige Rolle für unser Zusammenleben. Es geht nicht ohne sie. Sie bestimmen den Eindruck, den wir von einem Menschen gewinnen, und unsere Beziehung zu ihr oder ihm. Wer uns mit einem Lächeln begegnet, uns mit Freundlichkeit überwältigt, dem begegnen wir wohlwollend. Wer in sich gekehrt ist, gar mürrisch dreinschaut und wortkarg ist, den übersehen wir, der interessiert uns nicht. Erst nach einiger Zeit bemerken wir, dass die Freundlichkeit nur Fassade war, während der Mensch, der uns unfreundlich erschien, sich als netter Kerl und guter Freund entpuppt.

Wir selbst werden nach unserem Aussehen, nach Äußerlichkeiten taxiert und leiden darunter, dass andere sich vom ersten Eindruck bestimmten lassen, statt uns erst einmal kennen zu lernen. Wir möchten, was alle wollen: Sympathie gewinnen, anderen sympathisch sein.

Eltern, wenn sie keine Rabeneltern sind, lieben ihre Kinder. Sie lieben ihren Kinder über alles, und dabei machen sie keinen Unterschied zwischen Erst- und Letztgeborenen, zwischen einem Kind, das  erfolgreich seinen Weg allein geht, und einem Sorgenkind, das immer wieder Unterstützung braucht.
Auch Kain und Abel werden von ihren Eltern gleich stark geliebt worden sein. Aber neben der Liebe spielt in einer Beziehung eben auch die Sympathie eine wichtige Rolle, und die ist ungleich verteilt: Mit einer kann man eben besser als mit der anderen; mit einem hat man mehr gemeinsam als mit dem  anderen. Trotzdem hat man beide gleich gern.
Das ist ein Dilemma, ein unlösbares Problem. Weil eben beide zugleich da sind, Liebe und Sympathie, aber beide nicht gleich verteilt: Die Liebe gilt allen, die Sympathie nicht.

Ein klassisches Beispiel für ein Dilemma ist der Gordische Knoten. Dieser Knoten war so kunstvoll geknüpft, dass es unmöglich war, ihn zu lösen. Von diesem Knoten hieß es: Wer ihn doch lösen könnte, würde die Herrschaft über ganz Asien gewinnen. Alexander der Große löste das Problem mit Gewalt, und das machte ihn berühmt: Er haute den Knoten mit dem Schwert durch. Der Knoten war weg, aber er war nicht gelöst. Einen unlösbaren Knoten kann man eben nicht lösen.

Auch ein Dilemma kann man nicht auflösen. Es besteht einfach, man muss es aushalten. Kain und Abel wurden beide von ihren Eltern geliebt, aber nur Kain hatte ihre Sympathie. Kain und Abel wurden beide von Gott geliebt, aber nur Abel hatte Gottes Sympathie. Kain konnte dieses Dilemma nicht ertragen, aber auch nicht lösen, und verfiel auf die Gewalt: Er brachte Abel um und wurde zum Mörder, das heißt, er verlor auch noch die Sympathie seiner Eltern.

Aber die Geschichte nimmt dann doch eine erstaunliche Wendung: Kain verliert trotz seiner  schrecklichen Tat Gottes Liebe nicht. Gott bestraft ihn zwar für den Mord mit einem Leben als heimatloser Flüchtling. Aber er sorgt zugleich für seine Sicherheit, indem er ihn mit dem Kainsmal versieht.
Dieses erstaunliche Ende der Geschichte von Kain und Abel kann uns etwas über das Dilemma von Liebe und Sympathie lehren:
Es ist keines.
Liebe und Sympathie bilden keinen unauflösbaren Knoten, weil sie gar nicht zusammen gehören. Sympathie richtet sich, wie wir gesehen haben, nach oberflächlichen Dingen, nach Äußerlichkeiten. Sie ändert sich, wenn der Mensch sich ändert, dem unsere Sympathie gilt, oder wenn wir ihn oder sie besser kennen lernen.
Liebe aber ist eine grundlegende Haltung. Sie lässt sich nicht von Äußerlichkeiten beeinflussen.
Deshalb kann auch Jesus die paradoxe Forderung stellen, wir sollten unsere Feinde lieben. Feinde kann man nicht mögen, man kann ihnen gegenüber keine Sympathie empfinden - sonst wären es keine Feinde mehr. Aber man kann sie lieben. Weil sie trotz ihrer unsympathischen Oberfläche Menschen sind wie wir, Geschöpfe und Ebenbilder Gottes, wie wir, die deshalb liebenswert sind, wie wir.

Kain, der Brudermörder, wurde mit dem äußerlichen Kainszeichen als Mörder abgestempelt. Gleichzeitig weist dieses Zeichen darauf hin, dass er ein Mensch ist, der trotz seiner Tat  Mitmenschlichkeit verdient und Liebe.
Wir alle sind manchmal wie Kain. Wir tragen unsichtbar sein Zeichen an uns, und manche verurteilen uns wegen einer Äußerlichkeit - weil wir die falsche Meinung haben, die falschen Freunde, oder was auch immer.
Andere sehen das Zeichen an uns, das sie selbst tragen, und erkennen in uns den Menschen, der sich nach Liebe sehnt, wie sie, der liebenswürdig ist, wie sie es sind.
Das Kainszeichen erinnert uns daran, dass es einen Unterschied gibt zwischen Sympathie und Liebe. Und dass, bei aller Sympathie für unsere Liebsten und Freundinnen, alle Menschen Liebe verdienen.

Amen.