Sonntag, 22. August 2021

un-erhört

Predigt am 12. Sonntag nach Trinitatis, 22.8.2021, über Markus 7,31-37

Nachdem Jesus wieder aus der Gegend von Tyrus fortgewandert war,
zog er durch Sidon am galiläischen Meer, mitten durch das Gebiet der Zehn Städte.
Da brachten sie zu ihm einen Gehörlosen, der nur mit Mühe reden konnte,
und baten ihn, er möge ihm die Hand auflegen.
Jesus separierte ihn von der Menge,
steckte seine Finger in seine Ohren, spuckte aus und berührte seine Zunge,
schaute empor zum Himmel, seufzte und sprach zu ihm: „Ephata!”,
das bedeutet: „Öffne dich!”
Sofort hörten seine Ohren wieder, das Band seiner Zunge wurde gelöst,
und er redete verständlich.
Jesus befahl ihnen, sie sollten es niemandem sagen.
So sehr er es ihnen aber verbot, um so mehr verkündigten sie es.
Und sie gerieten ganz außer sich und sprachen:
Er hat alles gut gemacht,
sogar die Gehörlosen macht er hören und die Stummen sprechen.


Liebe Schwestern und Brüder,

Wundergeschichten haben etwas von den Märchen aus 1001 Nacht. Es sind fesselnde, faszinierende Geschichten - wie die von Ali Baba und den 40 Räubern, die ihre unermesslichen Schätze in einem Berg versteckten, der sich durch das Zauberwort „Sesam, öffne dich!” betreten ließ.
Auch für die Heilung des Gehörlosen braucht es nur das Zauberwort - Ephata! -, „öffne dich!”, schon kann er hören und verständlich reden.

Die Märchen aus 1001 Nacht sind Geschichten. Sie mögen ein Körnchen Wahrheit oder Weisheit enthalten, aber erzählt werden sie zur Zerstreuung, zur Unterhaltung.
Die Wundergeschichte, die Markus erzählt, will auch fesseln und unterhalten. Denn wie man eine süße Medizin lieber einnimmt als eine bittere, so hört man eine Wahrheit lieber, wenn sie gut und spannend verpackt ist, als wenn sie einem nackt und ungeschminkt ins Gesicht gesagt wird.
Markus' Geschichte hat mehr als ein Körnchen Wahrheit. Sie wird nicht zur Unterhaltung erzählt, sondern um dieser Wahrheit, um einer Botschaft willen. Nur - wie lautet diese Botschaft?

Will Markus uns dazu ermuntern, auf ein Wunder zu hoffen und zu vertrauen? „Wunder gibt es immer wieder”, singt ein alter Schlager - und meint das Wunder der Liebe, das tatsächlich jede und jeder von uns erlebt, oder von dem er oder sie zumindest ziemlich sicher sein kann, es einmal zu erleben. Dagegen ist eine Wunderheilung etwas höchst Seltenes und Ungewöhnliches. Das macht den  märchenhaften Charakter dieser Geschichte aus: Wir können es uns nicht erklären und wir können es uns nicht vorstellen, wie eine Heilung auf diesem Wege möglich sein soll.
Nun wird man einwenden: Bei Gott ist nichts unmöglich. Nur, weil unsere Vorstellungskraft beschränkt ist, muss es nicht heißen, dass Gott nicht solche Wunder tun kann - und dass sie nicht jederzeit wieder geschehen können.
Doch wer auf ein solches Wunder für einen geliebten Menschen oder für sich selbst hoffen, sich gar darauf verlassen wollte, wird die Erfahrung machen, dass er vergeblich wartet.

Wunder, wenn sie denn überhaupt geschehen, passieren viel zu selten, als dass man hoffen könnte, selbst einmal eines zu erleben. Selbst bei allergrößtem Bemühen, bei allerbester Führung, bei tiefstem und intensivstem Glauben gibt es keine Garantie, dass ausgerechnet mir ein Wunder vergönnt ist.

Dieses Problem erkannten bereits die ersten Leser*innen des Markusevangeliums. Und sie fanden dafür eine Lösung. Sie lautet: Man darf diese Geschichte nicht wörtlich verstehen. Wenn Jesus den Gehörlosen heilt, bedeutet das nicht, dass auch wir auf ein solches Wunder hoffen sollen. Die Geschichte will uns vielmehr dazu bewegen, dass wir uns fragen, wo wir im übertragenen Sinne nicht hören können oder wollen.
Die ersten Leser*innen des Markusevangeliums machten nämlich eine Erfahrung, die auch wir heute noch machen: Man liest über etwas hinweg. Oder man überhört etwas. Vielleicht sogar diese Wundergeschichte. Vielleicht haben wir vorhin nicht richtig zugehört, als sie vorgelesen wurde, weil wir mit den Gedanken gerade woanders waren. Oder weil wir dachten: Ach, eine Wundergeschichte. Oder weil wir uns nicht angesprochen fühlten - wir sind ja nicht gehörlos.
Das ist ganz allgemein so mit Botschaften, die andere hören sollen. Schon unsere Eltern haben mit uns geschimpft: „Kannst du nicht hören!?” Doch, hören konnten wir. Aber wir wollten nicht. Und darum haben wir auch nicht gehört.

Die Wundergeschichte könnte von dieser Art der Gehörlosigkeit handeln: Von der Erfahrung, dass wir Wichtiges überhören - oder dass andere nicht zuhören, wenn wir ihnen Wichtiges zu sagen haben. Die ersten Christen fragten sich, warum die für sie so aufregende, unerhörte und befreiende Botschaft von Jesus von nur wenigen Menschen gehört und gelaubt wurde. Seitdem fragen sich das alle, die die gute Nachricht von Jesus ausrichten. Was wurde nicht alles versucht, um Menschen für diese Botschaft zu gewinnen! Auf jede nur erdenkliche Weise wurde und wird gepredigt, verkündigt, geworben oder missioniert - mit immer dem gleichen Ergebnis, dass nur Wenige die Botschaft hören und glauben. Woran liegt das bloß?

Markus gibt die Antwort: Damit die gute Nachricht gehört wird, braucht es ein Wunder.
Ein Wunder wie das, durch das Jesus dem Gehörlosen das Hören ermöglichte. Denn wir alle sind in gewisser Weise gehörlos. Wir hören nur, was wir wollen, was uns interessiert und was in unsere Vorstellungswelt passt. Um etwas anderes hören zu können - etwas Neues, Un-erhörtes -, und um auf jemand anderen hören zu können, muss etwas Außerordentliches geschehen.
Dass dieses Außerordentliche geschieht,  liegt nicht in unserer Macht. Sonst würden wir ja immer alles hören und niemals etwas überhören. Sonst wären wir ja offen für jede Meinung. Aber das sind wir nicht.
Wenn also das Außerordentliche geschieht, dass wir nicht nur hören, was wir schon wissen und kennen, sondern aufnahmefähig werden für un-erhört Neues, ist das nichts anderes und nichts geringeres als ein Wunder.

Wo dieses Wunder geschieht, gibt es kein Halten mehr. Da kann selbst Jesus mit seinem Schweigegebot nichts ausrichten. Es spricht sich herum, andere hören es und geraten außer sich. Dieses außer-sich-Geraten ist natürlich kein Zeichen von Verrücktheit. Es ist der Heilige Geist, der das bewirkt. Es ist der Heilige Geist, der das Wunder bewirkt, dass wir un-erhört Neues hören, dass wir hinhören und zuhören.
Er bewirkt auch, dass wir, wenn wir die gute Nachricht gehört haben, in das Lob Gottes über seine Schöpfung einstimmen: „Er hat alles gut gemacht!” Wann immer wir das erkennen und bekennen, ist das Wunder auch an uns geschehen: Das Wunder der Öffnung unserer Ohren für Gottes Wort. Amen.