Samstag, 4. September 2021

Elf Regeln für eine Gemeinde

Predigt am 14. Sonntag nach Trinitatis, 5. September 2021, über 1.Thessalonicher 5,14-24

Liebe Schwestern und Brüder,

wenn man als Kind zum ersten Mal in den Kindergarten geht, bekommt man viele gute Ratschläge mit auf den Weg: „Pass an der Straße auf, immer erst nach rechts und links sehen! Geh nicht mit Fremden mit!”
Dasselbe passiert, wenn man in die Schule kommt: „Pass gut im Unterricht auf! Sei höflich zu deiner Lehrerin! Trödele nicht auf dem Heimweg!”
Sogar, wenn man von zuhause auszieht, bekommt man noch Ratschläge mit auf den Weg: „Achte auf dein Geld! Pass auf, dass du nicht in schlechte Gesellschaft gerätst!”
Die Ratschläge sind eher Ausdruck der Liebe und Sorge der Eltern, als das sie ernstlich gehört würden - dazu ist man viel zu aufgeregt und mit dem Neuen beschäftigt, das vor einem liegt. Sie werden ja auch nicht zum ersten Mal gegeben. Sie waren ein Teil der Erziehung, von Haltung und Lebenseinstellung der Eltern, die sie an ihre Kinder weitergaben. Denn sie wussten: Sie gehen ihren Lebensweg, ohne dass die Eltern sie beschützen und helfen konnten. Und sie sorgten sich, ob sie ihren Kindern das Nötige mitgaben, um das Leben bestehen und die richtigen Entscheidungen treffen zu können.

Wie Eltern ihren Kindern, gibt Paulus seiner Gemeinde in Thessaloniki gute Ratschläge mit auf den Weg. Er hat diese Gemeinde gegründet, hat ihr von Jesus erzählt und ihr gezeigt, wie man als Gemeinde zusammenlebt. Er ist längst weitergezogen, die Gemeinde muss nun ohne ihn auskommen. Darum zählt er am Ende seines Briefes an die Gemeinde noch einmal auf, worauf es ihm ankommt. Und weil das, worauf es Paulus ankommt, nicht nur wichtig für seine damalige Gemeinde ist, sondern für jede Gemeinde, möchte ich es mir mit Ihnen einmal ansehen.

An den Anfang setzt Paulus vier Aufforderungen:

  1. die Zügellosen oder Trägen ermahnen;
  2. die Mutlosen ermutigen;
  3. die Hilfsbedürftigen unterstützen und
  4. mit allen Geduld haben.

Paulus möchte, dass die Gemeinde aufeinander achtet. An die Gemeinde in Korinth schreibt er ganz ähnlich (1.Kor 12,26): „Wenn ein Mitglied leidet, leiden alle Mitglieder mit, und wenn ein Mitglied geehrt wird, freuen sich alle Mitglieder mit.”
Heute haben wir das Gegenseitige Kümmern an andere abgegeben - „outgesourct”, sagt man - an Kindergärten und Schulen, an Pflegedienste und Betreuungseinrichtungen. Gut, dass es sie gibt. Sie leisten, was wir wohl so nicht schaffen könnten. Aber das entbindet uns nicht davon, aufeinander zu achten, indem wir Grenzen setzen oder an Grenzen erinnern; indem wir Menschen helfen, in die Gänge zu kommen; indem wir Menschen Mut machen, ihnen Raum und Gelegenheit geben, sich einzubringen; indem wir einander helfen und - ja, indem wir den Menschen auch manchmal auf den Wecker gehen. So zeigen wir ihnen, dass sie uns nicht egal sind.
Dieses geduldige aufeinander Achten setzt Paulus an erste Stelle. Es ist das Wichtigste, es ist das, was eine Gemeinde ausmacht. Dadurch, dass andere nach mir fragen oder sich für mich interessieren, spürt man auch, dass man zur Gemeinde gehört, dass das hier auch meine Gemeinde ist. Dabei ist Geduld sehr wichtig. Jede und jeder hat ihr eigenes Tempo, ihr eigenes Bedürfnis nach Nähe und Distanz. Die gilt es, herauszufinden und zu respektieren - und nicht davon auszugehen, dass alle anderen brauchen und gut finden, was ich brauche und gut finde.

Die nächsten drei Aufforderungen beschreiben, wie eine Gemeinde sein soll:

  1. immerzu fröhlich
  2. unablässig betend und
  3. dankbar für alles.

Fröhlichkeit kann man nicht befehlen. Wie soll man fröhlich sein, wenn man Kummer hat, Schmerzen, Sorgen oder mit dem falschen Fuß aufgestanden ist? Aber man kann fröhlich werden. Wenn die Gemeinde kein Häuflein griesgrämiger, mutloser, mürrischer Gestalten ist, sondern man sich auf die Gemeinde freuen kann. Weil man hier freundlich empfangen wird, vielleicht sogar mit einem Lächeln. Weil sich alle hier Mühe geben, dass eine herzliche Atmosphäre entsteht. Dafür braucht es nicht viel. Im Gleichnis erzählt Jesus von einem, der zur Hochzeit eingeladen war und in Alterskleidung erschien. Er wurde herausgeworfen, weil er kein Festgewand trug (Mt 22,12). Unser Festgewand, das ist unser Bemühen, dass dieser Gottesdienst für uns und andere schön wird. Dazu braucht man nichts Besonderes anzuziehen. Aber vielleicht ein Lächeln, eine freundliche Geste. Das Mitsingen und Mitsprechen, wenn man es kann. Wenn wir uns alle um die Gemeinde bemühen, kann man auch mal niedergeschlagen oder missmutig zur Kirche kommen, weil man weiß, dass die anderen einen aufrichten - so, wie man selbst mithilft, andere aufzurichten, wenn es einem besser geht.
So ist auch das Beten ohne Unterlass zu verstehen. Nicht, dass wir jede freie Minute zum Beten nutzen oder gar unablässig ein Gebet vor uns hin murmeln. Die Gemeinde als Ganze betet. Und nicht nur sie - die weltweite Christenheit, mit der wir verbunden sind, betet mit. In jedem Augenblick, an jedem Tag des Jahres wird irgendwo auf der Welt ein Gebet gesprochen (EG 266,3), das uns mit einschließt. Und auch hier wird viel miteinander und füreinander gebetet. So entsteht ein Gebetsteppich, in den jede und jeder ihren Faden mit einknüpft. Ein Gebetsteppich, der alle trägt und uns als fliegender Teppich in den Himmel hebt.
Das Dritte, die Dankbarkeit, leitet über zum Glauben. Eine gute Gemeinschaft, in der man aufeinander achtet, kann auch im Sportverein oder bei der Freiwilligen Feuerwehr entstehen - und wie schön, wenn das so ist! Aber dass man weiß, dass man das, was man hat und ist, nicht sich selbst, sondern Gott verdankt: das gibt es nur in der Gemeinde. Die Gemeinde entsteht auch dadurch, dass wir gemeinsam Gott danken für unser wunderbares Leben, für diese Welt, für das Geschenk des Glaubens und der Gemeinde. Dass wir uns gemeinsam auf Gott beziehen und nach Gott fragen.

Auf dieses Fragen nach Gott beziehen sich die vier Punkte, die Paulus zum Schluss aufzählt. In der Gemeinde werden auch mal Tische gerückt, Kaffee gekocht, die Kirche geputzt oder der Friedhof hergerichtet. Aber wenn wir zum Gottesdienst zusammenkommen, singen, beten und danken wir - und denken. Zu diesem Nachdenken stellt Paulus vier Regeln auf:

  1. den Geist nicht dämpfen;
  2. die Prophetie nicht verachten;
  3. alles kritisch prüfen und
  4. sich vom Bösen jeder Art fernhalten.

Der Geist weht, wo er will (vgl. Joh 3,8). Nachdenken über Gott und den Glauben bedeutet nicht nur, dass man die Lehren unserer Mütter und Väter im Glauben hört und versteht. Es bedeutet auch, offen zu sein für Neues, auf andere, neue Ideen zu kommen und sie zuzulassen - um sie dann kritisch zu prüfen.
Das gilt auch für die Predigt. Das, was früher die Propheten waren, sind heute die Predigerinnen und Prediger: Sie sagen Gottes Wort für unsere Welt an. Nicht immer gefällt, was sie sagen. Nicht immer ist es gut gesagt. Nicht immer ist es richtig. Aber was sie sagen, verdient die Chance, gehört und geprüft zu werden.
Diese kritische Prüfung ist Aufgabe der Gemeinde. Martin Luther hat ihr eine eigene Schrift gewidmet. Darin zeigt er, dass die Gemeinde anhand der Bibel Pastorinnen und Pastoren beurteilen kann und soll. Nicht im Sinne einer Prüfungskommission. Niemand muss sich hier examinieren lassen. Es bedeutet vielmehr, dass die Gemeinde eine theologische Kompetenz hat, mit der sie über eine Predigt und über den Glauben urteilen, nachfragen, verstehen und weiterdenken kann - und das auch tun sollte.

Auch eine Gemeinde ist kein Paradies. Wir sind nun einmal Menschen, und darum menschelt es zwischen uns. Wir mögen nicht jede, und wir können nicht jede mögen. Aber wir können unsere Streitigkeiten vor der Kirchentür lassen. Wir müssen uns, wenn wir einander schon nichts Gutes wünschen können, wenigstens nichts Schlechtes wünschen. Wir können uns um den Frieden, den wir beim Abendmahl zugesprochen bekommen, auch untereinander ernsthaft bemühen. Wir können verhindern, dass Böses mit einzieht, wenn wir in die Kirche gehen.

Elf Aufforderungen, die Paulus seiner Gemeinde und uns ins Stammbuch schreibt. Aufforderungen, keine Gebote. Paulus traut uns zu, dass wir so eine Gemeinde sein können. Paulus traut uns zu, dass wir eine Gemeinde sein können, weil Gott uns genau dazu berufen hat. Mit seiner Berufung gibt Gott uns alles, was nötig ist, um in einer Gemeinde zu sein - um heilig zu sein. Heilig sein bedeutet nämlich nicht, mit einem Leuchtreifen auf dem Kopf herumzulaufen. Heilig sein bedeutet, sich zu bemühen. Sich zu bemühen um Mitmenschlichkeit, Freundlichkeit und Frieden. Sich zu bemühen, weil Gott uns das alles bereits geschenkt hat, seine Barmherzigkeit, sein freundliches Angesicht, mit dem er auf uns und unser Leben sieht, und seinen Frieden.

Als Gemeinschaft der Heiligen sind wir miteinander unterwegs im Namen und im Auftrag unseres Herrn, bis er eines Tages wiederkommt. So lange wir gemeinsam unterwegs sind, sind wir als Gemeinde unterwegs. So lange wir unterwegs sind, dürfen wir uns seiner Unterstützung sicher sein in dem Bemühen, Heilige zu sein. Denn „treu ist der, der euch berufen hat. Er wird's auch tun!”

Amen.