Samstag, 14. August 2021

Wie Michel aus Lönneberga

Predigt am 11. Sonntag nach Trinitatis, 15. August 2021, über Epheser 2,4-10 
 „Gott hat uns, die wir tot waren in den Sünden,
mit Christus lebendig gemacht
und er hat uns mit auferweckt
und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus.” 
Liebe Schwestern und Brüder, 

wenn Michel aus Lönneberga etwas ausgefressen hatte - und es verging kein Tag, an dem er nicht irgend etwas Dummes anstellte -, wurde er in den Holzschuppen gesperrt.  Stubenarrest. Oder Hausarrest. Das haben viele erlebt als Strafe für ein Vergehen. Manche haben ihren Kindern gegenüber selbst zu diesem Mittel der Bestrafung gegriffen. Ich erinnere mich sehr deutlich daran, wie ich unsere Tochter, als sie drei Jahre alt und völlig außer Rand und Band geraten war, in den Garten getragen und ihr die Terassentür vor der Nase zugemacht habe, weil ich mir nicht mehr anders zu helfen wusste. Nie werde ich ihr fassungsloses, entsetztes Gesicht hinter der Glasscheibe vergessen, und die schrecklichen Tränen, die darauf folgten. Ich habe sie nie wieder ausgesperrt. 
Stubenarrest ist ja eigentlich keine Strafe. Man hat sein Zimmer mit all den Annehmlichkeiten, die es bietet. Darin kann man es schon eine Weile aushalten. Auch Michel in seinem Holzschuppen langweilt sich nicht, sondern verbringt seine Zeit mit dem Schnitzen von Holzfiguren. Er hat schon eine sehr ansehnliche Sammlung hergestellt. Wenn Haus- und Stubenarrest relativ angenehm sind, warum sind sie dann eine Strafe? Im Fall unserer Tochter wird das ganz deutlich: Sie stand hinter der Glasscheibe, konnte mich sehen, aber sie konnte nicht zu mir. Die Scheibe war zwischen uns. Die Beziehung war abgebrochen. Das Schlimme am Stubenarrest ist, dass man nicht zu den anderen kann - nicht zur Familie, nicht zu den Freunden. 
Etwas Ähnliches passiert, wenn einen jemand so kränkt, enttäuscht oder verletzt, dass man von ihm sagt: „Der ist für mich gestorben!” So verstehe ich auch den Satz: „die wir tot waren in den Sünden”. Sünde bewirkt einen Beziehungsabbruch - zu Gott, und auch zu den Mitmenschen. Dabei ist mit „Sünde” kein bestimmtes Verhalten gemeint. Für den einen mag ein Diebstahl oder eine Lüge das Ende der Freundschaft bedeuten, ein anderer nimmt die Entschuldigung an und sieht darüber hinweg. „Sünde” ist eher eine Haltung, eine Lebenseinstellung. Sie führt dazu, dass durch das Verhalten Beziehungen abbrechen und man sich selbst isoliert - und dadurch für die anderen gestorben ist. 
Wie Sünde eine Lebenseinstellung ist, kann auch unsere Lebensweise „Sünde” sein: Unsere Unfähigkeit, uns um unserer Mitmenschen willen einzuschränken, führt zu Hunger und Not in den Ländern des Südens, führt zu Wetterextremen und Katastrophen durch den Klimawandel.
In der großen, weltweiten Familie der Menschen herrschen Ungleichheit und Ungerechtigkeit. Wären die Menschen in den ärmeren Ländern nicht abhängig von uns, wir wären längst für sie gestorben. 
„Gott hat uns, die wir tot waren in den Sünden, mit Christus lebendig gemacht.” Das Schlimme am Stubenarrest ist der Abbruch der Beziehungen. Wir machen auch die Erfahrung, dass eine mit uns schmollt, nicht mehr mit uns reden will, und wie ohnmächtig man sich dann fühlt, wenn man nicht einmal sagen kann: „Es tut mir leid. Bitte verzeih mir!” Nun sagt der Predigttext, dass Gott uns mit Christus lebendig macht, wenn wir für einen anderen Menschen gestorben sind. Was bedeutet das? Der andere will doch trotzdem nichts von uns wissen, redet weiterhin nicht mehr mit uns. Gott öffnet die Tür, die unser Verhalten verschlossen hat. Es ist noch nicht die Tür zum anderen - die kann nur er oder sie selbst öffnen. Es ist die Tür unserer Stube, in die wir eingesperrt waren. Wir können wieder heraus, und eine andere werden - eine andere sein. Gott macht uns mit Christus lebendig. Wir sehen Christus vor uns am Kreuz, das Symbol größter Ohnmacht: Hände und Füße am Kreuz fixiert, unfähig, sich zu bewegen, auch nur eine Fliege zu verscheuchen. Wenn wir mit Christus lebendig gemacht werden, sind wir von den Zwängen befreit, die uns den Stubenarrest, den Abbruch der Beziehung eingebracht haben. Wir können Hände und Füße wieder regen, können anders handeln, anders sein, andere sein als vorher. Durch diese neu gewonnene Freiheit können wir wieder Kontakt aufnehmen. Vielleicht öffnet sich dadurch auch die Tür zu dem Menschen, für den wir gestorben waren. Aber selbst, wenn das nicht geschehen sollte, hält Gott nicht daran fest, wer wir einmal waren, was wir einmal taten. Vielmehr „hat Gott uns mit auferweckt und mit eingesetzt im Himmel in Christus Jesus”
Nachdem ich die Terassentür geöffnet hatte, stürzte unsere Tochter in meine Arme. Hinter der Glastür hatte sie sich nicht vor dem Alleinsein im Garten gefürchtet. Sondern davor, dass ich sie nicht mehr lieb hätte, weil ich sie ausgesperrt hatte. Das wurde mir in diesem Moment bewusst, und dafür schämte ich mich - und darum habe ich sie nie wieder ausgesperrt. Weil ich sie unendlich lieb habe.
In dieser Weise - und viel, viel mehr noch - liebt Gott, unser Vater, uns, seine Kinder. Darum schenkt er uns nicht nur das Leben, sondern lässt uns über uns hinauswachsen, bis in den Himmel. Nie würde Gott wollen, dass wir auch nur daran zweifelten, dass er uns über alles liebt. Darum gibt er uns den Ehrenplatz an seiner Seite, wo wir immer in seiner Nähe sind. 
Wir alle haben etwas vom Michel aus Lönneberga in uns. Niemand kann garantieren, dass wir nicht etwas Dummes anstellen, das uns hinterher sehr leid tut und wofür wir uns schämen. Niemand kann garantieren, dass wir anderen nicht weh tun - oft gerade denen, die wir besonders lieb haben. Niemand kann verhindern, dass wir manchmal für andere gestorben sind. Gott aber wird immer wieder die Tür zum Schuppen öffnen, in den wir uns selbst eingesperrt haben. Seine überwältigende, alles übersteigende Liebe wird uns Flügel verleihen, mit denen wir uns über uns selbst hinaus schwingen, bis hinauf zum Himmel.