Samstag, 18. September 2021

Aufstehens Schwester

Predigt am 16. Sonntag nach Trinitatis, 19. September 2021, über Klagelieder 3,22f:

„Die Güte des Herrn ist's, dass wir nicht gar aus sind.
Seine Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu
und deine Treue ist groß.”

„Als meine Mutter das Amen gesagt hatte, da drehte sie den Kopf so'n bißchen nach links rum, als wenn da wer kommen tat. Und da ist auch einer gekommen; den habe ich nicht mit meinen Augen gesehen und nicht mit meinen Ohren gehört. Der hat sie bei der Hand genommen, und da ist ihre Seele ganz leise mitgegangen, richtig so, als wenn man aus einer Stube in die andre geht. So ist sie nach Hause gegangen, als wenn ein müdes Kind abends nach Hause geht. Und nun ist sie nicht mehr in einem fremden Lande.

Ich hatte das Fenster geöffnet, daß ihre Seele hinaus konnte. Es war dunkle Nacht, und durch die Bäume ging ein harter Wind. Die Lampe wollte ausgehen. Sie hatte lange gebrannt.

Ich war noch ein ganz kleiner Junge. Da hatte ich am Pfingstmorgen mal zu lange geschlafen, was eigentlich nicht sein soll, weil man dann Pingstekarr wird. Da wachte ich plötzlich auf, denn ich fühlte was Weiches in meinem Gesicht. So stand da meine Mutter an meinem Bett. Sie bückte sich über mich und strich mir mit einem kleinen Fliederstrauß über das Gesicht. Ganz leise tat sie das. Dabei sah sie mich freundlich an. Siehe, das ist meine erste Erinnerung an meine Mutter.” 

(Johannes Gillhoff, Jürnjakob Swehn, der Amerikafahrer)


Liebe Schwestern und Brüder,

das ist für mich eine der schönsten und tröstlichsten Schilderungen eines Todes. Wenn man diese Zeilen liest, denkt man, dass der Tod für den, der ihn erleidet, vielleicht doch nicht so schrecklich ist. Der amerikanische Dichter Walt Whitman hat einmal geschrieben: „And to die is different from what anyone supposed, and luckier” - „Und zu sterben ist ganz anders, als man dachte, und glücklicher”. Aber woher will er das wissen?
Was wir wissen ist, dass der Tod schrecklich ist für die, die zurückbleiben, und dass wir Angst vor dem Tod haben.

Als Jürnjakob Swehn den Tod seiner Mutter beschreibt, fällt ihm ein, wie sie ihn als Kind mit einem Fliederstrauß sanft geweckt hat. Im Zusammenhang mit dem Tod der Mutter denkt er ans Aufstehen. Das ist sicherlich kein Zufall. Aufstehen und Auferstehen liegen dicht beieinander. Der Tod wird auch „Schlafes Bruder” genannt. Jedes Zubettgehen hat etwas vom Sterben. Denn im Schlaf gibt man sich aus der Hand, ist bewusstlos und wehrlos. Und jedes Aufstehen hat etwas von der Auferstehung: Man geht in einen neuen Tag wie in ein neues Leben. Wenn auch die Umgebung, die Mitmenschen, die Gewohnheiten und Pflichten dieselben sind wie gestern, bin ich doch nicht derselbe. Ich bin über Nacht ein anderer geworden. Jedenfalls bin ich nicht dazu verpflichtet, dieselbe oder derselbe zu bleiben, der ich gestern war. Ich habe durch die kleine Auferstehung am Morgen die Möglichkeit und das Recht, ein anderer zu werden, eine andere zu sein, als ich gestern noch war. Ich bin nicht dazu verdammt, auf einem Fehler, einer Schuld von früher sitzen zu bleiben. Gott hat sie mir vergeben, quasi über Nacht. Ich muss auch nicht den selben Fehler machen, den ich gestern noch machte. Ich kann es anders versuchen, neue Fehler machen und es am nächsten Morgen noch einmal probieren. Gott nagelt mich nicht auf das fest, was ich tat, auf den Menschen, der ich gestern noch war. Meine Mitmenschen tun das. Wir suchen im Anderen das Bekannte und Gewohnte. Wenn wir einen Menschen zu kennen meinen, haben wir uns ein Bild von ihr oder ihm gemacht. Es irritiert uns, wenn dieser Mensch sich dann als anders erweist, anders handelt, als wir es erwarten. Wir nehmen es diesem Menschen geradezu übel, wenn er oder sie unser Schubladendenken durcheinander bringt.

Gott ist da anders. Gott sieht uns nicht auf das hin an, was wir getan haben. Gott ordnet uns nicht in Schubladen, wie wir das mit anderen tun:

interessant - langweilig,
nett - unfreundlich,
schön - hässlich
dick - dünn,
fleißig - faul,
dumm - klug usw.

Gott sieht auf das hin, was wir tun können. Gott sieht unsere Möglichkeiten. Gott kennt unser Potenzial, unsere Stärken, unsere Gaben - er selbst hat sie uns geschenkt. Gott hat Hoffnungen für uns, aber keine Erwartungen an uns. Gott freut sich, wenn wir unsere Gaben einsetzen, aber ist nicht enttäuscht, wenn wir es nicht tun. So jedenfalls verstehe ich die Worte des Predigttextes:
„Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.”

Aber was hat das mit dem Thema dieses Sonntages, mit dem Tod, zu tun?

Der Tod ist das Ende aller Möglichkeiten, deshalb haben wir vor ihm Angst: Nie wieder tun können, was wir lieben, nie wieder schmecken, riechen, fühlen, sehen und hören - eine unerträgliche Vorstellung!
Und der Tod ist das Ende aller Beziehungen, deshalb ist er für die, die zurückbleiben, so schrecklich. Wenn jemand stirbt, bricht jeder Kontakt zwischen ihm und uns ab. Keine Gespräche, keine Umarmung, kein Trost, kein Kuss mehr. Keine Möglichkeit, sich zu entschuldigen, und keine Möglichkeit, Klarheit zu erlangen - eine unerträgliche Vorstellung.

Für uns Christinnen und Christen aber ist der Tod weder das Ende aller Möglichkeiten, noch das Ende aller Beziehungen. Denn wir haben den Tod nicht vor uns, wir haben ihn bereits hinter uns. Durch die Taufe sind wir mit Christus gestorben. Jesus hat an unserer Stelle Todesangst, Einsamkeit und sogar Gottverlassenheit erlitten. Er hat das für uns auf sich genommen, und bei unserer Taufe ist uns diese Erfahrung geschenkt - oder besser: abgenommen worden. Dadurch verlieren wir selbst im Tod nicht die Beziehung zu Gott. Wir sind durch die Taufe untrennbar mit Christus verbunden, und wir bleiben mit ihm verbunden, selbst im Tod. Und wie Jesus am dritten Tage von den Toten auferstand, so haben wir in der Taufe Anteil an der Auferstehung bekommen. So bleiben uns selbst im Tod und über den Tod hinaus noch Möglichkeiten. Nicht eine große Leere, ein Nichts wartet auf uns, sondern wahres Leben, das Gott uns schenkt.

Wie der Tod des Schlafes Bruder ist, so ist das morgendliche Aufstehen eine Schwester der Auferstehung. An jedem Morgen ist uns ein neuer Anfang geschenkt, dürfen wir anders handeln, andere sein, als wir gestern noch waren und taten. Gott ist mit uns barmherzig. Gott legt uns nicht fest auf unsere Vergangenheit, sondern gibt uns Möglichkeiten für die Gegenwart, gibt uns eine Zukunft. Denn „Gottes Barmherzigkeit hat noch kein Ende, sondern sie ist alle Morgen neu.”