Samstag, 11. September 2021

Vom Bäumeausreißen

Ansprache zur Goldenen Konfirmation am 15. Sonntag nach Trinitatis, 12. September 2021, über Lukas 17,5+6:


Die Apostel sprachen zum Herrn: Stärke uns den Glauben!
Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiss dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.


Liebe Goldene Konfirmandinnen und Konfirmanden,
liebe Gemeinde,

bei einem goldenen Jubiläum blickt man unweigerlich zurück. Zurück auf 50 Jahre, die vergangen sind. Wo ist die Zeit nur geblieben!? 50 Jahre sei der Konfirmation, das waren Ausbildung oder EOS und Studium, erste Liebe und erster Liebeskummer. Das waren Freundschaft, Heirat, die Geburt der Kinder. Die berufliche Laufbahn mit einem tiefen Einschnitt im Jahr 1989/90, der für viele einen völligen Neuanfang bedeutete. Jetzt nähert sich die Zeit der beruflichen Tätigkeit dem Ende oder ist schon vom Ruhestand abgelöst worden.

50 Jahre seit der Konfirmation, das waren 18.262 Tage; die meisten davon Alltage. Es waren Tage voller Glück dabei, Tage, an denen man flog, und die man nie vergisst. Und es gab Tage voller Leid, voller Sorgen, voller Trauer.

Blickt man auf 50 Jahre zurück, sieht man, was man geschafft und geschaffen hat, welche Ziele man erreichte - und welche unerreicht blieben. Welche Träume sich erfüllten - und welche man vergessen hat, oder nicht mehr zu träumen wagt. Man bemerkt die Anzeichen des Alters, die Grenzen, die das Alter oder eine Erkrankung setzen. Man hat einen Schatz von Erfahrungen, einen Sack, prall gefüllt mit Erinnerungen, mit Geschichten, die erzählt werden wollen, von denen heute sicherlich einige erzählt werden, und die doch nur einen Bruchteil dessen darstellen, was Sie erlebt haben, was Sie zu den Menschen machte, die Sie heute sind.

Als Sie vor 50 Jahren als Konfirmandinnen und Konfirmanden aufgeregt und wahrscheinlich etwas frierend in der Kirche saßen, konnte niemand ahnen, was aus Ihnen einmal werden würde. Darum ging es damals auch nicht. Damals ging es um den ersten Schritt ins Leben, den ersten Schritt Richtung Erwachsensein. Ein Schritt, den manche kaum erwarten konnten: Die erste Zigarette. Das erste Glas Sekt. Der erste Kuss. Alles aufregend, alles neu. 

Damals, vor 50 Jahren, ging es auch um den Glauben. Die Konfirmation, das war Ihr Ja zur Taufe, Ihr Ja zu einem Leben als Christin oder Christ. Im Konfirmandenunterricht wurde davon gesprochen, bei der Konfirmation wurde es Ihnen gepredigt. Neben all dem aufregend Neuen -  der gespannten Erwartung auf die Familienfeier, die Geschenke, neben dem noch ungewohnten Anzug, dem neuen Kleid, war da wohl auch ein Gefühl des Ergriffenseins: Bei der Handauflegung beim Segen, beim ersten Abendmahl spürten Sie, dass es auch um Gott ging bei Ihrer Konfirmation.

Deshalb blicken Sie heute auch auf 50 Jahre Erfahrungen mit dem Glauben zurück. Wahrscheinlich würden sich die wenigsten von Ihnen als Expertinnen oder Experten auf dem Gebiet des Glaubens bezeichnen. Für viele von Ihnen wird der Glaube keine große Rolle gespielt haben in den vergangenen 50 Jahren. Trotzdem, so behaupte ich, sind Sie alle glaubenserfahren; Sie alle sind Glaubensexperten. Darum passt der Predigttext des heutigen Sonntags so gut zu Ihrer Goldenen Konfirmation:

Die Apostel sprachen zum Herrn: Stärke uns den Glauben!
Der Herr aber sprach: Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn, würdet ihr zu diesem Maulbeerbaum sagen: Reiss dich aus und verpflanze dich ins Meer!, und er würde euch gehorsam sein.

„Wenn ihr Glauben habt wie ein Senfkorn …”

Wohl jeder, der diese Worte hört, sagt sich: Oh je, wie winzig klein mein Glaube ist! Denn mit meinem Glauben reiße ich keine Bäume aus. Also ist mein Glaube nicht einmal senfkorngroß!

Zugegeben, es gibt kleinere Samenkörner. Aber den Glauben mit einem Senfkorn zu vergleichen, ist schon eine ziemliche Unverschämtheit: Wenn mein Glaube so winzig sein soll, kann man auch gleich sagen, dass ich ungläubig bin.

Jesus liebt es, zu provozieren - auch hier. Seine Jünger bitten ihn um Stärkung ihres Glaubens. Das heißt doch: Sie meinen, sie hätten zuwenig, sie hätten gerne mehr. Warum? Wären sie gern „heiliger”, frommer als die anderen? Haben sie Angst, ihr Glaube könnte nicht reichen, könnte sich als zu schwach erweisen - was er ja auch tut: Als Jesus verhaftet wird, lassen sie ihn alle im Stich. Aber nach seiner Auferstehung werden sie zu den Aposteln, die aller Welt den christlichen Glauben verkündigen. Ihr Glaube hat also doch gereicht.

Ich denke, Jesus wusste oder ahnte das, und hielt den Glauben seiner Jünger nicht für zu wenig. Dennoch gibt er diese provozierende Antwort: Wenn ihr nur ein Fitzelchen Glauben hättet, könntet ihr damit einen ganzen Baum ausreißen! Und die Jünger - und auch wir heute - müssen kleinlaut zugeben, dass unser Glaube das nicht kann.

Aber wer käme auch schon auf so eine Idee, mit dem Glauben einen Baum ausreißen zu wollen? Hat er, würde man gleich fragen, nichts Wichtigeres zu tun? Wenn einer einen solchen Glauben hätte, würde er nicht als erstes den Hunger in der Welt abschaffen, die Kriege beenden, das Coronavirus bekämpfen und den Krebs und andere Krankheiten besiegen, bevor er mit seinem Glauben einen Baum ausreißt? Auch zu Jesu Zeiten hätte man mit seinem Glauben etwas besseres anzufangen gehabt als das.

Wer also kommt auf so eine verrückte Idee, mit dem Glauben einen Baum ausreißen zu wollen?
Ich würde sagen: Konfirmanden.
Jugendliche lesen und sehen gern Geschichten von Menschen mit außergewöhnlichen, unglaublichen Fähigkeiten wie „Superman”, „X-Men” oder „Avengers”. Wäre es nicht schön, wenn man auch so eine besondere Fähigkeit hätte? Vielleicht steckt ja auch in mir eine Heldin, vielleicht habe auch ich eine Superkraft, vielleicht bin auch ich ein Genie?

Konfirmanden wären, wenn man tatsächlich einen Baum durch den Glauben ausreißen könnte, wahrscheinlich nicht einmal überrascht. Sie würden einfach ihr Smartphone zücken und es filmen. Konfirmanden wäre deshalb eine solche Glaubensprobe zuzutrauen. Sie empfinden noch keine Verantwortung. Sie kämen nicht gleich auf die Idee, dass man die Kraft des Glaubens nicht für solch sinnlose Beweise, sondern nur für etwas Sinnvolles und Gutes benutzen darf.

Mit dem Glauben einen Baum ausreißen - ein solcher Wunsch ist der eines Jugendlichen. Wenn man älter wird, hat man immer noch solche Wünsche - wie ja auch Erwachsene von den Superhelden  fasziniert sind. Aber man weiß jetzt, dass man keine Superkräfte hat, dass man kein Genie ist und auch keine Heldin. Deshalb will man auch keine Bäume mehr ausreißen. Und irgendwann kann man es nicht mehr, allein schon wegen dem Rücken.

Die provozierende Antwort, die Jesus gibt, sagt also zweierlei:
Einmal sagt sie: Ihr braucht nicht mehr Glauben. Ihr habt genug. Denn euer Glaube ist keine Fähigkeit,  die ihr aus euch selbst hervorbringt. Er ist eine Kraft, die Gott euch schenkt. Er kommt über euch wie die Liebe - alles, was ihr tun könnt, ist, sich dieser Kraft zu überlassen, sich in den Glauben fallen zu lassen und darauf zu vertrauen, dass er einen trägt, wie die Liebe. Wie bei der Liebe, kann es auch beim Glauben Enttäuschungen geben. Aber das heißt nicht, dass der Glaube zu klein war. Sondern dass man noch einmal von vorn beginnen muss.

Das andere ist: Ihr könnt tatsächlich Bäume ausreißen. Weil der Glaube von Gott kommt, ist er eine Superkraft. Jeder, der glaubt, ist ein Supermann, eine Superfrau. Denn der Glaube verleiht uns Flügel;  dazu braucht man nicht einmal Brause zu trinken. Er lässt uns fliegen, und wir sehen, dass wir immer kleiner werden, wie viele Menschen es gibt, die liebenswert sind und die unsere Zuwendung brauchen, und wie groß und wunderbar unsere Welt ist. Wir sehen, was man alles tun könnte, und wir sehen, was wir alles tun könnten - was wir immer noch tun können, trotz Rücken.

Jesus macht seinen Jüngern und uns Mut, ihrem Glauben zu vertrauen und ihn nicht gering zu schätzen. Er macht ihnen und uns Mut, auf die Kraft des Glaubens zu vertrauen, die größer ist als unsere Vernunft und unsere Vorstellungen weit übersteigt. Das bedeutet nicht, dass wir Wunder tun können. Aber vielleicht haben wir verlernt, an Wunder zu glauben und ein Wunder zu erkennen, wenn es vor unseren Augen geschieht?

Ich wünsche Ihnen weiterhin gute Erfahrungen mit Ihrem Glauben. Ich wünsche Ihnen, dass Sie ihm etwas zutrauen, weil er nicht zu klein, nicht zu gering ist. Ich wünsche Ihnen, dass Sie sich von ihm tragen und inspirieren lassen. Ich wünsche Ihnen, dass er Sie an Ihre Träume erinnert, die Sie einmal  geträumt haben.
Es ist nicht zu spät, sie Wirklichkeit werden zu lassen.

Amen.