Samstag, 16. Oktober 2021

Denk an deinen Gott!

Predigt am 20. Sonntag nach Trinitatis, 17. Oktober 2021, über Kohelet 12,1-7


Liebe Schwestern und Brüder,

„Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat! Denk an ihn in deiner Jugend, bevor die Tage kommen, die so beschwerlich sind!”

An Jugendliche wendet sich der Prediger. An junge Leute, die ihr Leben noch vor sich haben. Sie strotzen vor Kraft, sind voller Energie und Tatendurst. Sie fürchten keine Herausforderung, haben keine Angst vor Veränderungen, sind neugierig auf Unbekanntes. Ist man jung, denkt man nicht ans Altwerden. Das Leben liegt vor einem als weite, unübersehbare Fläche Zeit, fast eine Ewigkeit.

So waren wir auch mal. Doch mit den Jahren ist die Kraft geschwunden. Die Neugier auf das Neue ist nicht mehr so groß wie früher. Wir kennen unsere Grenzen; auf manchmal schmerzliche Weise haben wir sie erfahren. Die weite Fläche Zeit ist zusammengeschrumpft, schneller, als wir es uns versahen. Noch ist sie wie ein großer Acker, dessen Ende man nicht sieht. Aber wir wissen inzwischen: Er hat eins, und wir gehen darauf zu.

Jeder Mensch muss das Altwerden erleben und erleiden. Erleben, dass die Wächter des Hauses, die Arme, zu zittern anfangen, und die starken Männer, die Beine, sich krümmen. Die Müllerinnen, die Zähne, fallen aus. Zum Glück setzt der Zahnarzt neue ein, sodass die Müllerinnen auch im Alter noch arbeiten können. Die Frauen, die durch die Fenster schauen, die Pupillen, werden im Alter kurz- oder weitsichtig oder vom Grauen Star heimgesucht. Auch dagegen gibt es Abhilfe. Ebenso kann man die beiden geschlossenen Türen, die zur Straße führen, die Ohren, wieder gängig machen. Nur die Stimme - das Geräusch der Mühle - wird immer klappriger.

„Denk an deinen Gott, der dich geschaffen hat, bevor die silberne Schnur zerreißt!”

Unser Leben ist endlich. Während es einem als Kind und junger Mensch auch vorkommt, als würde man ewig leben, blickt man im Alter auf mehr Jahre zurück, als man noch vor sicht hat. Immer öfter und immer stärker wird einem bewusst, dass die Lebenszeit begrenzt ist. Man wird vielleicht nicht alles zuende bringen, was man beginnt.

Bei solchen Gedanken kann man melancholisch werden und mit dem Prediger feststellen: „Alles ist eitel und ein Haschen nach Wind!”, denn die Zeit zerrinnt uns zwischen den Händen; wir können nichts festhalten. Es erscheint einem alles sinnlos. Wozu ist man da, wenn doch nichts bleibt außer einem Windhauch?

Der Prediger, so pessimistisch und zuweilen zynisch er auch ist, lässt uns dennoch nicht mit diesen düsteren Gedanken allein. Seine Mahnung: „Denk an deinen Gott!” will uns aus dem Grübeln herausreißen, in das der Prediger selbst uns versetzt hat.

„Denk an deinen Gott!” Vordergründig lenkt diese Aufforderung ab, bringt einen auf andere Gedanken. Damit das funktioniert, muss Gott für uns ein Thema sein. Darum heißt es: „Denk an deinen Gott!” Wenn Gott uns nichts bedeuten würde, wenn wir keine Beziehung zu Gott hätten, würde uns die Aufforderung nichts nützen. Dann könnte der Prediger auch sagen: „Denk an einen rosa Elefanten!” - ein netter Versuch, uns abzulenken, aber keine Hilfe.

„Denk an deinen Gott!” Was bewirkt das Denken an Gott? Zweierlei. Etwas nach innen, und etwas nach außen. Nach innen erinnert es uns daran, dass Gott der Schöpfer ist. Gott hat uns das Leben geschenkt. Gott verdanken wir, was wir haben und sind. Das schmälert nicht unsere Lebensleistung. Aber es erinnert uns daran, dass es auch ganz anders hätte kommen können. Dass unser Geburtsort, unsere Herkunft, unsere Erziehung nicht unser Verdienst sind, sondern ein Geschenk, für das wir dankbar sein dürfen.

Ebenso sind unsere Handicaps, sind die Steine, die uns in den Weg gelegt wurden oder die wir uns selbst in den Weg legten, ist das, worunter und woran wir leiden nicht unsere Schuld, schon gar keine Strafe, sondern ebenso unverdient wie das Glück. Dieses Glück hat Gott auch denen zugedacht, die in ihrem Leben zu wenig davon erfahren haben.

Die Erinnerung an Gott, der uns geschaffen und unser Leben gewollt hat, ruft uns ins Gedächtnis, was Gott über seine Schöpfung sagte: „Siehe, es war sehr gut.” Gott findet uns gut. Nicht eine ideale, perfekte Version von uns, die wir nie erreichen können und werden. Sondern uns so, wie wir sind. Mit allen Augenringen und Falten, allen Ängsten und Fehlern. Gott findet uns nicht nur gut so, wie wir sind - Gott liebt uns sogar. Liebt uns über alle Maßen. So sehr, dass sein Sohn für uns sein Leben opferte, damit wir leben können und keine Angst haben müssen vor dem Verrinnen der Zeit, vor den Lasten des Alters. Und auch nicht vor dem Tod.

Wenn wir an Gott denken, erinnern wir uns daran, dass wir gut genug sind, und dass wir geliebt werden. Das kann uns trösten und ermutigen, wenn das Verrinnen der Zeit uns mutlos macht. Das ist die Wirkung nach innen.

„Denk an deinen Gott!” An Gott zu denken hat auch Wirkungen nach außen. Es ruft uns in Erinnerung, was Gott für uns möchte: Dass wir die Liebe, mit der Gott uns liebt, an andere weitergeben. Dass wir die Note „Sehr gut”, die Gott uns und seiner Schöpfung gibt, auch anderen geben. Nicht, weil wir das Recht hätten, andere zu beurteilen. Sondern weil Gottes „Sehr gut” uns die Schönheit und Güte seiner Schöpfung erkennen lässt. Eine Schönheit und Güte, die jedes Lebewesen besitzt, wenn man nur hinsieht.

So bleibt unser Leben sinnvoll auch im Alter, selbst, wenn wir gebrechlich werden. Denn hinsehen können wir selbst dann noch - und es anderen zeigen, dass wir sie sehen. Durch ein Lächeln. Durch unsere Aufmerksamkeit, unser Interesse. Durch Mitgefühl und Freundlichkeit. Wenn wir das tun, erhalten wir etwas zurück: Einen Dank. Ein Lächeln. Anerkennung.

Und damit schließt sich der Kreis. Dank, Anerkennung, Freundlichkeit wirken nach innen.  Sie vertreiben das Gefühl der Melancholie, der Sinnlosigkeit. Sie machen uns glaubhaft, wovon Gott uns überzeugen will: Dass wir gute, liebenswerte Menschen sind.

Amen.