Samstag, 23. Oktober 2021

Um des lieben Friedens willen

Predigt am 21. Sonntag nach Trinitatis, 24. Oktober 2021, über Matthäus 10,34-39

Liebe Schwestern und Brüder,

das Gegenteil von Frieden ist? Krieg - so jedenfalls versteht man gemeinhin das Wort „Frieden”: Frieden ist die Abwesenheit von Krieg. Wo aber kein Friede herrscht, da gehen Menschen aufeinander los. Mit der Drohung des Krieges im Hinterkopf wird Frieden gefordert, auch da, wo gar kein Krieg herrscht. Meine Oma z.B. seufzte jedesmal, wenn wir Geschwister uns stritten: „Könnt ihr nicht einmal Frieden halten!?” Für sie war unser Streit eine Störung ihrer Ruhe, ihres Friedens.

Auch wer „um des lieben Friedens willen” nachgibt, steckt ja nicht sein Messer weg oder begräbt das Kriegsbeil. Man verzichtet nur auf den Streit, auf die Auseinandersetzung, wer recht hat. Frieden ist nicht nur die Abwesenheit von Krieg, Frieden ist auch, wenn kein Streit herrscht. 

Wenn Frieden mit der Abwesenheit von Streit gleichgesetzt wird, bekommt jeder Streit einen  Beigeschmack von etwas Schlimmem, weil immer auch der andere Gegensatz von Krieg und Frieden mitschwingt. Dann wird aus einer Meinungsverschiedenheit, einer Auseinandersetzung darum, was wahr oder richtig ist oder was jetzt zu tun wäre unter der Hand ein Kampf auf Leben und Tod. Und das will ja keiner.

Deshalb ist Streiten so verpönt, ist uns der Friede heilig in der Familie, im Freundeskreis, in der Gemeinde. So heilig, dass wir alle Unterschiede - die es ja gibt und die sich gar nicht vermeiden lassen, wenn verschiedene Menschen zusammen leben - zudecken und unter den Teppich kehren. Aber unterschiedliche Meinungen und Lebensweisen lassen sich nicht verdrängen. Sie wollen heraus, sie  müssen heraus, weil man sonst daran erstickt. Aber man will auch keine Unruhestifter:in sein. Man will nicht diejenige sein, die den Frieden stört.

Vielleicht wird deshalb so viel getuschelt und hinter dem Rücken über andere geredet, statt mit ihnen zu reden. Vielleicht bewegen wir uns deshalb nur noch in unserer „Bubble”, der Blase von Gleichgesinnten, in der man sich nicht mit anderen Meinungen auseinandersetzen muss.

Aber leider ist man nicht einmal in der eigenen Blase, im eigenen Freundeskreis oder der Familie vor Streit sicher:
„Ich bin gekommen,
den Menschen zu entzweien mit seinem Vater
und die Tochter mit ihrer Mutter
und die Schwiegertochter mit ihrer Schwiegermutter.”

Jesus, so scheint es, trägt den Streit in die Familien. Dabei ist das gar nicht nötig: Es knallt oft genug zwischen Eltern und Kindern. Gelegenheiten dazu finden sich immer, und sie brauchen gar nicht groß  zu sein: Die Unordnung im Zimmer, die Leistungen in der Schule, politische  Meinungsverschiedenheiten oder einfach die Frage, wer recht hat, bieten immer wieder einen Anlass.

Immer wieder stellen die Erwachsenen dabei fest, dass ihre Kinder so ganz anders ticken als sie. Während die Jugendlichen daran verzweifeln, dass die Erwachsenen scheinbar nicht begreifen können oder wollen, warum sie sich nicht so verhalten können, wie die es von ihnen erwarten. Ein herausragendes Beispiel dafür ist die Bewegung „Fridays for Future”: Viele Erwachsene sehen darin nichts als Schuleschwänzen und halten die Ängste und Befürchtungen, die die Jugendlichen formulieren, für übertrieben.

Es ist wohl immer wieder so, dass Jugendliche erleben müssen, dass ihre Ängste und Befürchtungen von den Erwachsenen nicht ernst genommen werden. Das war vor 40 Jahren auch nicht anders, als wir Angst vor einem Atomkrieg hatten und vor dem Waldsterben durch den „sauren Regen”. Auch vor einem Klimawandel wurde damals, Anfag der 80er Jahre, schon gewarnt. Aber die Erwachsenen meinten, wir würden übertreiben, und außerdem würden wir die Zusammenhänge nicht durchschauen und sollten erst einmal so alt werden wie sie.

Und die Jugendlichen? Damals wie heute blieb ihnen nur, nachzugeben - um des lieben Friedens willen - oder mit dem Elternhaus zu brechen. Aber diesen Schritt wagten und wagen nur Wenige.

Umso erstaunlicher, dass Jesus diese Konsequenz von seinen Anhänger:innen fordert:
„Wer Vater oder Mutter mehr liebt als mich,
der ist meiner nicht wert;
und wer Sohn oder Tochter mehr liebt als mich,
der ist meiner nicht wert.”

Jesus erwartet von seinen Anhänger:innen Konsequenz, er erwartet, dass sie Rückgrat zeigen und zu ihm stehen. Das haben in den Anfängen der Christenheit viele Gläubige so verstanden, dass sie sich zu ihrem Glauben um jeden Preis bekannten, selbst, wenn ihnen dadurch Lebensgefahr drohte. So sind viele für ihr Bekenntnis zu Christus ermordet worden. Sie wurden zu Märtyrer:innen, die man wegen ihres Mutes verehrte und zu Vorbildern für die anderen Gläubigen machte.

Aber ich fürchte, die Märtyrer haben Jesus missverstanden. Jesus verlangt von uns nicht, dass wir unser Leben opfern und für unseren Glauben sterben. Jesus hat sich gerade deshalb für uns geopfert und ist am Kreuz gestorben, damit wir keine Opfer mehr bringen müssen, damit wir uns nicht mehr opfern müssen, und auch andere nicht.
Das Rückgrat, das Jesus verlangt, erwartet er an anderer Stelle. Er selbst hat viele Beispiele dafür gegeben, wenn er Kranke am Sabbat heilte oder seine Jünger in Schutz nahm, die am Sabbat arbeiteten, indem sie Ähren rauften, um die Körner essen zu können.

Jesus erwartet von seinen Anhäner:innen, dass sie den richtigen Zeitpunkt zum Handeln, den kairos, nicht verpassen. Natürlich hätten die Kranken auch an einem anderen Tag geheilt werden, die Jünger hätten den Gürtel enger schnallen und aufs Essen verzichten können. Aber Jesus will keine Opfer, sondern Barmherzigkeit. Er will, dass geholfen wird, wenn geholfen werden kann - und dass Menschen nicht auf später vertröstet werden.

Um der Liebe Christi willen sollen wir nicht vorübergehen, wenn wir Hilfe leisten könnten. Das kann bedeuten, dass wir jemanden verteidigen, die oder der angefeindet wird, oder uns wenigstens abwenden, wenn andere lästern.
Das kann bedeuten, dass wir Hilfe anbieten, wenn wir sehen, dass sie jemand nötig hat, oder wenigstens unsere Nachbarin fragen, wie es ihr geht.
Das kann auch bedeuten, dass wir für unser Klima auf eine Flugreise verzichten, oder wenigstens die Jugendlichen ermutigen und unterstützen, wenn sie für eine Zukunft unseres Planeten auf die Straße gehen.
Es kommt dabei nicht auf die Größe der Tat an, sondern darauf, dass wir sie tun und nicht um des lieben Friedens willen tatenlos bleiben.

Der Friede, den Jesus bringt, ist nicht die Abwesenheit von Krieg oder Streit. Er ist eine Atmosphäre der Liebe, der Barmherzigkeit, die jedem Menschen seine Würde und seinen Platz zum Leben lässt. Die anderen nicht Angst macht, sondern Ängste und Sorgen ernst nimmt und teilt und die Ursachen dafür beseitigen will. 

Diesen Frieden bringt uns Jesus, wenn wir es wagen, in seinem Sinne zu handeln.

Amen.