Samstag, 30. Oktober 2021

Freiheit, die ich meine

Predigt zum Reformationstag, 31. Oktober 2021, über Galater 5,1-6

„Zur Freiheit hat uns Christus befreit! So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auferlegen!”

Liebe Schwestern und Brüder,

Freiheit! Welch großes Wort! Welch großartiges Wort auch. Unter allen Gütern wohl das Höchste und Begehrteste.

Freiheit bedeutet, tun, denken und sagen zu können, was man will; nicht tun, nicht denken, nicht sagen zu müssen, was man nicht will. Freiheit bedeutet, nicht eingeschränkt zu werden und sich nicht einschränken zu müssen, bedeutet weiten Horizont, unbegrenzte Möglichkeiten, Raum zur Entfaltung.
Das ist das Ideal von Freiheit. Das wäre Freiheit, wenn man der einzige Mensch auf Erden wäre.

So fühlte sich Adam, bevor es Eva gab. Adam fühlte sich auch sehr einsam, ohne Eva. Er sehnte sich nach einem Gegenüber. Doch schon mit einem anderen, zweiten Menschen - auch wenn es diese oder dieser eine andere ist, den man über alles liebt und mit dem man sein Leben teilen möchte -, schon mit einem zweiten Menschen stößt die eigene Freiheit an die Freiheit der oder des anderen.

So ist jede Beziehung auch ein Prozess des Aushandelns von Spielräumen: Wie weit kann ich gehen, ohne deine Freiheit einzuschränken? Wie weit kannst du gehen, ohne meine Freiheit einzuschränken? Eine Beziehung erfordert Kompromisse: Der Preis der Zweisamkeit ist die Einschränkung der Freiheit.

Man kann es auch positiv formulieren: Wer nicht allein sein möchte, geht auf einen anderen Menschen zu. Im Zugehen auf die andere, den anderen verlässt man den eigenen Raum, die eigenen Möglichkeiten, den eigenen weiten Horizont zugunsten eines gemeinsamen Raumes, neuer, gemeinsamer Möglichkeiten, eines neuen, gemeinsamen Horizontes. Man gibt nicht nur Freiheit auf, man gewinnt auch neue, gemeinsame Freiheiten.

Nun leben wir nicht nur in Zweierbeziehungen. Wir leben auch in Gruppen, in Gemeinden, in einer Gesellschaft, also mit einer großen Anzahl von Menschen in unterschiedlichen Konstellationen mehr oder weniger dicht zusammen. Unsere Freiheit stößt dabei an viele andere Freiheiten und findet an ihnen ihre Grenze.

So dürfen wir z.B. nicht mit 100 Stundenkilometern durch die Ortschaft rasen. Die überwiegende Mehrheit sieht ein, dass das eine richtige und wichtige Einschränkung unserer Freiheit ist. Manche möchten sogar, dass man zukünftig nur noch mit 30 Stundenkilometern statt mit 50 durch den Ort fahren darf, weil sich dadurch die Zahl der Unfälle um 2/3 verringern würde. Darüber verhandeln wir miteinander. Wenn sich eine Mehrheit für diese neue Grenze findet, wird sie eingeführt. Das ist Demokratie: Die Beschneidung der Freiheiten Einzelner zugunsten der Freiheit aller.
Wer zu denen gehört, die sich deswegen einschränken müssen, mag sich ärgern oder gar aufregen. Aber meistens sieht man doch ein, dass die Einschränkung sinnvoll und begründet ist.

Freiheit ist also nie absolut. Solange man mit anderen zusammenlebt - und das ist auf unserer Erde die einzige Möglichkeit, zu leben - müssen Freiheiten untereinander ausgehandelt werden. Dieses Aushandeln von Freiheiten nennt man auch Politik: Menschen versuchen, ihre Freiheiten durchzusetzen oder zu verteidigen und tun sich mit denen zusammen, die dieselben Freiheitsinteressen haben. Denn eine Gruppe ist stärker als ein*e Einzelne*. In einer Gesellschaft hätte man als Einzelne* kaum eine Chance, die eigene Freiheit zu verteidigen oder durchzusetzen.

Auch im Glauben geht es um Freiheiten, die ausgehandelt werden müssen. Neben den Freiheiten der Menschen untereinander sind es unsere Freiheiten gegenüber Gott. Alles, was in der Bibel unter dem Stichwort „Sünde” firmiert, ist im Grunde die Frage, wo meine Freiheit mit der Freiheit Gottes in Konflikt gerät. 

Hier schafft eine Gemeinde Sicherheit. Mit ihren Traditionen eröffnet sie einen Handlungsspielraum, der sich bereits bewährt hat. Indem sie festlegt, was man darf oder nicht darf, was man tun oder lassen muss, bietet sie die Gewähr, dass man auf dem richtigen Weg ist, solange man in der Gemeinde bleibt und sich an die Regeln hält.
Was aber passiert, wenn jemand neue Regeln einführt - oder gar Regeln, die „immer schon” galten, außer Kraft setzt?

Die ersten Christen waren Jüdinnen und Juden, wie auch Paulus ein Jude war. Sie waren Mitglieder einer jüdischen Gemeinde. Dann gab es Nichtjuden, die sich zur jüdischen Gemeinde hielten, aber den letzten Schritt, den Übertritt, nicht gehen konnten oder wollten. Gerade unter ihnen gewann Paulus viele Anhängerinnen und Anhänger. Unter ihnen erhob sich die Frage, ob man Christin sein könne, ohne Jüdin oder Jude zu sein. Ist man auch dann ein Kind Gottes, wenn man nicht zu Gottes erwähltem Volk gehört? Kurz: Wird man von Gott erwählt, auch wenn man nicht die Voraussetzungen zur Erwählung, das Halten der Gebote, erfüllt? In diesem speziellen Fall: Muss man als Mann beschnitten sein, um zur Gemeinde zu gehören?

Paulus predigte eine neue Gotteskindschaft, die nicht im Halten der Gebote bestand, sondern im Glauben an Christus. Nicht nur, wer sich den Geboten, also auch der Beschneidung, unterwarf, gehörte zur Gemeinde. Auch, wer an Christus glaubte, gehörte dazu, ohne dass er oder sie ein einziges Gebot erfüllte.
Der Glaube an Christus reichte aus - sola fide, und solus Christus. Christus, der stellvertretend für uns die Gebote erfüllt hatte, sodass wir das nicht mehr tun mussten. Das war damals eine neue, aufregende Idee - so wie Luthers Rückbesinnung auf Paulus und seine Lehre von der Rechtfertigung aus Glauben allein eine neue, aufregende Idee war.

Diese neue Idee spaltete die Gemeinden, obwohl das weder Paulus', noch später Luthers Absicht war. Man musste sich zu dieser Idee verhalten, konnte ihr nicht neutral gegenüberstehen. Die einen nahmen sie begeistert auf: Gotteskindschaft ohne Beschneidung:  Darauf hatten sie so lange gewartet! Es waren die, die bisher nicht zur Gemeinde gehörten. Nichtjuden. Und Frauen.
Andere waren verunsichert: Wie konnte, was über Generationen richtig war, und worauf sich Eltern, Großeltern und Vorfahren verlassen hatten, plötzlich nicht mehr richtig sein, nicht mehr gelten?
Unter diesen Zweiflern gab es die, die dem Neuen nicht trauten. Sie wagten es nicht, sich auf diese neuen Ideen zu verlassen, die von vielen Alten, Erfahrenen abgelehnt wurden und die so vielem widersprachen, was man gelernt hatte.
Und es gab die Pragmatiker, die zweigleisig fuhren: Das Neue tun und das Alte nicht lassen. So konnte einem nichts passieren, man stand man auf jeden Fall auf der richtigen Seite.

Gerade gegen diese Pragmatiker wendet sich Paulus. Sie verzichten auf die neu gewonnene Freiheit, wenn sie weiter dem Judentum angehören wollen, und verspielen damit die Freiheit,  die nur der Glaube an Christus schenkt. Denn Glauben bedeutet, sich allein auf Christus zu verlassen, ohne Absicherung, ohne Netz und doppelten Boden. Nur, wer die Sicherheiten und alten Bindungen aufgeben kann, findet die Freiheit, die der Glaube schenkt. Solange man am Alten festhält, kann man den Schritt zum Neuen hin nicht gehen - im Gegenteil: Man bleibt dem Alten verpflichtet und muss nach seinen Regeln leben.

Die Freiheit, die der Glaube an Christus schenkt, macht darum einsam, indem sie aus den alten, gewohnten Bindungen löst. Aus den Unfreiheiten, an die man sich gewöhnt hatte und die scheinbar zum Leben gehörten. Doch sie führt in eine neue Gemeinschaft. Die Gemeinschaft derer, die aus der selben Freiheit leben und die anderen ihre Freiheit lassen können. Für den christlichen Glauben ist es gleichgültig, wie man sich kleidet, was man isst, wen man liebt. Für den christlichen Glauben liegt die Grenze der Freiheit nicht in Äußerlichkeiten, sondern in der Liebe zum Nächsten, zum Mitmenschen, und in der Barmherzigkeit. 

Liebe und Barmherzigkeit bestimmen die Grenzen meiner Freiheit. Und weil Liebe und Barmherzigkeit die Grenzen setzen, schränken sie meine Freiheit nicht ein. Vielmehr eröffnen sie mir neue Freiheiten: Mit anderen entdecke ich neue Räume, neue Möglichkeiten und mache mich auf zu neuen Horizonten.